Eine Oase der Vergänglichkeit

Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin

In Berlin bin ich gerne, oft und regelmäßig. Auch wenn ich noch nie länger als drei Monate am Stück dort verbracht habe, fühle ich mich in dieser Stadt auf irgendeine Weise zu Hause, seit meinem ersten Besuch, der schon ziemlich lange her ist. Warum das so ist? Ich weiß es nicht, vielleicht eine Art Familienerbe? Meine Oma lebte dort während der gesamten Zwanzigerjahre, und obwohl ich in Süddeutschland geboren und aufgewachsen bin, stammt ein großer Teil meiner Familie aus den preußischen Landen – bevor zwei Weltkriege sie in alle möglichen Ecken Deutschlands verstreut haben. Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, wobei die Beschäftigung mit dem Thema Heimat sicher eine interessante Literaturliste abgeben würde. Aber nicht jetzt. Nicht heute. Diesmal geht es um die Vergänglichkeit. „Eine Oase der Vergänglichkeit“ weiterlesen

Ein Textbaustein* des Herrn B.

Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner

»Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹ sagte Herr K. und erbleichte.«

Dieser kurze Text begleitet mich nun schon ein halbes Leben und ich weiß leider nicht mehr, wo und wann ich ihn das erste Mal gelesen habe. Eigentlich bin ich mit dem Werk von Bertolt Brecht nie ganz warm geworden, es war mir immer zu zäh, die sozialrevolutionären Aussagen passten nicht richtig zu jemanden, der im täglichen Leben wohl eher wenig mit einfachen Arbeitern zu tun hatte. Das Theodor W. Adorno zugeschriebene Zitat bringt dies schön auf den Punkt: »Mit einer silbernen Pinzette hat sich Bertolt Brecht Dreck unter die Fingernägel geschoben, um glaubhaft klassenbewußt proletarisch zu wirken.« Wobei die Beschäftigung mit der Person Brechts sehr faszinierend ist, ein Mann, der mit seinen Stücken dramaturgische Maßstäbe setzte und nach einem Leben voller Anfeindungen und Verfolgung zum Schluss nirgends mehr richtig zu Hause war. „Ein Textbaustein* des Herrn B.“ weiterlesen

Wollt ihr die totale Transparenz?

Dave Eggers: Der Circle

Vor ein paar Jahren behauptete eine Kollegin voller Überzeugung, dass man über sie nichts im Internet finden würde. Nach einer fünfminütigen, unangestrengten Google-Recherche wusste ich ihren zweiten Vornamen und ihre Mobiltelefonnummer. Aber das ist vollkommen harmlos, jedenfalls im Vergleich zu der völligen Transparenz, die zu erreichen sich die Firma Circle auf die Fahnen geschrieben hat. Circle ist so eine Art Über-Google, ein fiktives Unternehmen in einer nahen, sehr nahen Zukunft und der  Namensgeber von Dave Eggers Roman: »Der Circle«. „Wollt ihr die totale Transparenz?“ weiterlesen

Eine Legende der Leidenschaft

Robert Baur: Mord in Metropolis

Der Roman »Mord in Metropolis« von Robert Baur nimmt uns mit. Und zwar mitten hinein in die Entstehung eines Meisterwerks, eines Meilensteins der Filmgeschichte, einer Legende. Doch schon die Dreharbeiten an sich waren legendär, denn Metropolis war eines der wahnwitzigsten Filmprojekte aller Zeiten und der Regisseur Fritz Lang ein von äußerster Leidenschaft getriebener Perfektionist. In den beiden Jahren 1925 und 1926 wurden etwa 600 Kilometer Film belichtet, sekundenlange Szenen dutzendfach wiederholt, bis sie den Vorstellungen Langs entsprachen, tausende von Statisten beschäftigt, die in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit leicht zu engagieren waren, neueste Technik für aufwändige Trickaufnahmen eingesetzt oder erst dafür entwickelt. Mit enormen Aufwand wurden Kulissen gebaut, hauptsächlich in Potsdam, in den Studios Babelsberg, wo eigens für Metropolis das damals größte und modernste Filmatelier Europas entstand. Die Kosten explodierten, der Film wurde teurer und teurer, das Budget um ein vielfaches überschritten. „Eine Legende der Leidenschaft“ weiterlesen

O Captain! My Captain! Goodbye

"Der Club der toten Dichter" ist eine einzige Liebeserklärung an die Literatur, an die Poesie und an die Macht des Wortes.

»Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben. Intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hatte.« Diese Sätze von Henry David Thoreau und viele andere mehr trafen mich in meinem Kinosessel wie Faustschläge. Es war Anfang 1990 und der Film »Der Club der toten Dichter« konfrontierte mich mit nichts Geringerem als dem Sinn des Lebens. Nach dem Ende der Vorstellung taumelte ich in die Nacht hinaus, verließ grußlos meine Freunde und lief durch Freiburgs Straßen, Gassen und Gässchen. Stundenlang. Die Stadt wurde immer ruhiger, ich nicht. Der Film und Robin Williams in der Rolle des Lehrers John Keating hatten mich bis ins Innerste getroffen. „O Captain! My Captain! Goodbye“ weiterlesen

Auf Mördersuche im Bombenhagel

Harald Gilbers: Germania

Ein Kommissar im Ruhestand wird mitten in Nacht zu einem Tatort gerufen, an dem die ermittelnden Behörden nicht weiterwissen. Irgendwie ein klassischer Beginn eines soliden Kriminalromans. Aber nicht so in diesem Buch, in »Germania« von Harald Gilbers. Denn der Kommissar ist nicht freiwillig außer Dienst. Er heißt Richard Oppenheimer und wurde wegen seiner jüdischen Herkunft suspendiert. Der Ermittler, der ihn abholen lässt, heißt Vogler und ist Hauptsturmführer der SS. Wir befinden uns in Berlin, im Frühling des Jahres 1944. „Auf Mördersuche im Bombenhagel“ weiterlesen

Das Hotel des Cousins 2.0

Marc Elsberg: Zero

Facebook? Apple? Google? Amazon? WhatsApp? Alles Schnee von gestern. Der Datensammler der Zukunft heißt Freemee. Zumindest im Roman »Zero« von Marc Elsberg. Das Geschäftsmodell ist perfide genial: Jeder Nutzer von Freemee sammelt in seinem Account so viele persönliche Daten wie möglich. Alle Daten, vom Kontostand bis zum Blutdruck. Wenn er möchte, kann er sie dann an Freemee zur weiteren Nutzung verkaufen, ganz nach dem Motto »Meine Daten gehören mir«. Das klingt erst einmal recht plausibel, denn bisher wurden die Daten der Internetnutzer zu Geld gemacht, ohne dass sie davon etwas hatten. Aber es ist natürlich Unsinn. »In dieser vernetzten Welt ist Kontrolle über dein Leben eine Illusion! Willst du die Vorzüge der modernen Zivilisation genießen, kannst du das nicht ohne die andere Seite der Münze„Das Hotel des Cousins 2.0“ weiterlesen

Drama im Wüstensand

Alberto Vázquez-Figueroa: Tuareg

Auf der ewigen Hitliste der spannendsten Bücher, die ich jemals gelesen habe, dürfte dieses hier einen der Spitzenplätze einnehmen: »Tuareg« von Alberto Vázquez-Figueroa. 1981 das erste Mal erschienen, ist es inzwischen fast so etwas wie ein Klassiker. Selten habe ich erlebt, wie der Spannungsbogen in einem Buch direkt zu Beginn der Handlung nach oben schnellt, dort mit Ausnahme weniger kurzer Momente, in denen der Leser etwas Luft holen kann, auch bleibt und sich zu einem überraschenden und furiosen Ende steigert. „Drama im Wüstensand“ weiterlesen

Humphrey Bogart im Drohnenland

Tom Hillenbrand: Drohnenland

Vor hundert Jahren sind Europas Armeen gegeneinander in den Krieg gezogen und das war erst der Beginn einer beispiellosen Gewaltspirale. Vor diesem Hintergrund mag man die Europäische Union als einen friedensstiftenden Fortschritt betrachten. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Bürokratiemonster, dessen politische Entscheidungen zunehmend von den Lobbyisten der Industrie geprägt sind. Ein schönes Beispiel war hier die Abschaffung der Glühbirne: Nicht nur, dass Energiesparleuchten Giftstoffe enthalten, sondern viel unerträglicher ist es, dass es per Gesetz keine Alternative mehr dazu gibt. Mit Umweltschutz hat das nur am Rande zu tun. Aber ich schweife ab, denn eigentlich soll es hier nicht um Glühbirnen gehen, sondern um Drohnen, genauer gesagt um das Buch »Drohnenland« von Tom Hillenbrand. Es spielt in der Zukunft, etwa im Jahr 2050, und sollte die darin beschriebene EU jemals Wirklichkeit werden, würden wir uns alle das Bürokratiemonster von heute zurückwünschen. „Humphrey Bogart im Drohnenland“ weiterlesen

Feiernd in den Untergang

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Genau heute vor 100 Jahren, am 28. Juni 1914, wurde in Sarajevo der Lauf der Weltgeschichte verändert. Der Attentäter Gavrilo Princip, Mitglied der serbischen Terrororganisation Schwarze Hand, feuerte zwei Schüsse auf den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie und seine Gemahlin ab und tötete beide. Dieser Mordanschlag löste einen verheerenden Kreislauf aus, der das alte Europa in einen furchtbaren Krieg und in den Untergang führen sollte. „Feiernd in den Untergang“ weiterlesen

Schöne neue, paranoide Welt

Schöne neue, paranoide Welt

Wie so viele Expeditionen in unbekannte Gefilde zuvor beginnt auch diese in einer Buchhandlung. Und mit einem 140-Zeichen-Tweet auf Twitter. Es ist eine Expedition in die Welt der Datensammlung, des Datendiebstahls, der Datenmanipulation und der lückenlosen Überwachung. Eine Welt der Algorithmen und der künstlichen Intelligenz. Und eine Reise in eine Zukunft, die sich schon erkennbar am Horizont unserer Wahrnehmung abzuzeichnen beginnt. „Schöne neue, paranoide Welt“ weiterlesen

Das erste Jahr

365 Tage

Am 15. Juni 2013 habe ich unter dem Titel Ex Libris den ersten Blogbeitrag auf Kaffeehaussitzer.de online gestellt. Die Idee, unter die Buchblogger zu gehen, schlummerte schon länger in mir, aber letztes Jahr gab ich mir endlich einen Ruck, frickelte mich durch WordPress-Literatur, machte mir Gedanken über Aufbau und Gestaltung, suchte und fand ein passendes Theme und dann war es soweit. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen über Bücher plaudern, oder, wie ich damals schrieb: »Ich stelle in meinem Blog Bücher  und Texte vor, die ich gerne gelesen habe. Die mich begeistert, inspiriert, bewegt, fasziniert oder nachdenklich gemacht haben. Die mir etwas bedeuten.« „Das erste Jahr“ weiterlesen

Todsichere Geschäfte

Oliver Bottini: Ein paar Tage Licht

Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass man sein Geld nicht mit Produkten verdient, die dazu hergestellt werden, um andere Menschen zu töten, zu verstümmeln, zu verletzen. Leider ist diese moralische Messlatte völlig verrutscht, die Rüstungsindustrie boomt und soeben wurden neue Zahlen über deutsche Waffenexporte veröffentlicht, die so hoch sind wie nie zuvor: Für fast sechs Milliarden Euro wurde 2013 Kriegsgerät ins Ausland verkauft (Nachtrag 2019: Tendenz steigend). Der Waffenhandel ist eine Welt für sich, völlig jenseits von Moral und Anstand, und in diese Welt der skrupellosen Geschäftsleute, halbseidenen Manager, schmierigen Politiker und korrupten Beamten führt uns das Buch »Ein paar Tage Licht« von Oliver Bottini. Doch es geht darin nicht nur um Waffenhandel, sondern um den Kampf für Freiheit, die Verstrickungen der Geheimdienste, ein autokratisches Regime, die Schatten der Vergangenheit und um eine Liebesgeschichte. Eine starke Mischung, aus der ein mitreißendes Buch entstanden ist. „Todsichere Geschäfte“ weiterlesen

West. Ost. Konflikt

Verdun und Ober Ost: Facetten des Ersten Weltkriegs

Den Ersten Weltkrieg assoziiert man gemeinhin mit Bildern von völlig verwüsteten Landschaften, durchzogen von Gräben, durchlöchert von Granateinschlägen. Dies ist aber nur eine Facette. Wie viele andere es gab, wird mir immer klarer, denn die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsausbruchs nehme ich zum Anlass, mich intensiv mit der Thematik zu beschäftigen. Aus den zahlreichen Büchern, die es momentan über den Ersten Weltkrieg gibt, habe ich mir ein Leseprojekt zusammengestellt und bin dabei, immer tiefer in diese Epoche einzutauchen, die prägend für das gesamte 20. Jahrhundert war – und damit auch für die Welt, in der wir heute leben. 

1914 war das deutsche Kaiserreich in einer selbst verschuldeten und denkbar ungünstigen Ausgangssituation und musste im Westen wie auch im Osten Krieg führen. Wie es genau dazu kam, schildert Christopher Clark meisterhaft in seinem Werk Die Schlafwandler. Für die Geschehnisse nach Ausbruch des Krieges habe ich zwei Sachbücher in die Leseliste mit  aufgenommen, die thematisch für jeweils eine der beiden Himmelsrichtungen stehen. Zum einen »Verdun 1916« von Olaf Jessen und zum anderen »Kriegsland im Osten« von Vejas Gabriel Liulevicius. „West. Ost. Konflikt“ weiterlesen

Ein Textbaustein* aus Mittelerde

J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe

»Der Herr der Ringe« von J.R.R. Tolkien erzählt die alte Geschichte vom Kampf Gut gegen Böse und gehört schon seit vielen Jahren zu meinem persönlichen literarischen Kanon. Eine sprachlich herausragende Erzählung und so unglaublich vielschichtig, dass man bei jedem wiederholten Lesen immer wieder neue Details entdeckt oder sogar das Gefühl hat, ein gänzlich anderes Buch in der Hand zu halten als beim letzten Mal. Eine Abenteuergeschichte. Ein Roadmovie. Ein Märchen. Ein Gleichnis. Eine Sage, mystisch. Freundschaft, Kampf, Liebe, Zweifel, Überlebenswille. Alles dabei. Und geschrieben wurde es viele, viele Jahre bevor man den Gattungsbegriff Fantasy erfunden hat, in den das Buch heute gerne hineinkatalogisiert wird. „Ein Textbaustein* aus Mittelerde“ weiterlesen