Als ich das Buch »Der Reisende« von Ulrich Alexander Boschwitz zu Ende gelesen hatte und es zugeschlagen neben mir auf dem Tisch lag, musste ich erst einmal tief durchatmen. Um die Anspannung zu lösen, mit der ich bis zuletzt Seite für Seite umgeblättert habe. Und um das Gefühl der Beklemmung loszuwerden, denn »Der Reisende« ist kein gewöhnlicher Roman. Vielmehr ist dieses Buch ein Zeitdokument in Romanform, das uns einen tiefen Einblick gewährt in das Deutschland des Novembers 1938. „Flüchtling im eigenen Land“ weiterlesen
Bitte weitergehen, hier ist nichts zu sehen
Bis zum Februar 2021 war an dieser Stelle die Besprechung des Romans »Unter der Haut« von Gunnar Kaiser zu lesen. Nach wie vor halte ich es für ein bemerkenswertes Buch; durch meine Beteiligung am Blogbuster-Preis war ich – zumindest ein bisschen – Geburtshelfer bei dessen Veröffentlichung, da der Berlin Verlag durch meine Nominierung auf das Manuskript aufmerksam wurde. Seitdem sind ein paar Jahre vergangen und in dieser Zeit haben sich die öffentlichen Äußerungen des Autors in eine Richtung entwickelt, die es mir unmöglich macht, auf diesem Blog seinen Roman weiterhin vorzustellen. Ich weiß, man soll Autor und Werk trennen, allein, das hier ist mein virtuelles Kaffeehaus. Mit meinen Regeln. „Bitte weitergehen, hier ist nichts zu sehen“ weiterlesen
Blogbuster 2018
Nach dem erfolgreichen Start im letzten Jahr findet auch 2018 wieder der Blogbuster-Wettbewerb statt, der Preis der Literaturblogger. Der Ablauf ist der gleiche: Autorinnen und Autoren konnten bei den 15 beteiligten Literaturblogs bis zum 31. Dezember 2017 unveröffentlichte Romanmanuskripte einreichen. Jeder Blog entscheidet sich für ein Manuskript, das auf die Longlist kommt. Und aus dieser Longlist wird dann ab Anfang März von der Jury – bestehend aus Denis Scheck, Elisabeth Ruge, Isabel Bogdan, Sara Schindler, Lars Birken-Bertsch, Tilman Winterling und Tobias Nazemi – erst eine Shortlist und im Mai 2018 der Siegertitel gewählt. Der Gewinner erhält einen Verlagsvertrag und das preisgekrönte Manuskript wird im Herbst als Buch erscheinen. Letztes Jahr war der Tropen Verlag/Klett-Cotta der Verlagspartner des Wettbewerbs, 2018 wird das Gewinnerbuch bei Kein & Aber veröffentlicht. Der Kaffeehaussitzer ist auch dieses Mal wieder einer der 15 Literaturblogs, bei denen die Manuskripte zur Prüfung eingegangen sind. „Blogbuster 2018“ weiterlesen
Jagd auf Wasserspeier
Die Nachricht kam passend zur Lektüre: Während ich »Die Fassadendiebe« von John Freeman Gill las, berichtete der Kölner Stadtanzeiger darüber, dass in dem Viertel, in dem ich lebe, ein Häuserensemble aus den Zwanzigerjahren abgerissen werden soll. Es war eine Nachricht, die mich traurig und wütend zugleich gemacht hat. Traurig, weil wieder einmal ein Stück historischer Qualitätsarchitektur einem gesichts- und einfallslosen Neubau weichen muss. Und wütend, weil die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung nicht zu verstehen scheinen, dass eine gewachsene Architektur die Seele eines Viertels, einer Stadt darstellt. Mal davon abgesehen, dass mit dem zum Abriss freigegebenen Quartier auch Dutzende bezahlbarer Wohnungen verschwinden werden.
Von daher ist es kein Wunder, dass ich mich so gut in Nick Watts hineinversetzen konnte. Er ist New Yorker, liebt seine Stadt und muss in den Siebzigern mit ansehen, wie ein wunderschönes Art-Deco-Schmuckstück nach dem anderen den Kahlschlagplänen betonversessener Modernisten zum Opfer fällt. Wie kunstvolle Fassaden abgeschlagen und schmucklos neu verkleidet werden, zahllose Details aus New Yorks architektonischer Blütezeit verschwinden. Er versucht, zu retten, was er irgendwie retten kann und verliert dabei irgendwann den Bezug zur Realität vollständig aus den Augen – mit dramatischen Folgen. Sein Sohn Griffin Watts berichtet uns als Ich-Erzähler in »Die Fassadendiebe« über das Leben und Verschwinden seines Vaters. „Jagd auf Wasserspeier“ weiterlesen
Die Einsamkeit des Lesers
São Paulo ist das, was man gemeinhin einen Moloch nennt: Im zentralen Stadtgebiet leben über 12 Millionen Menschen, mit allen Außenbezirken sind es über 21 Millionen. Blickt man von oben – etwa von dem Restaurantbalkon im 46. Stockwerk des Wolkenkratzers Edifício Itália – über die Stadt, ist die Aussicht überwältigend. Ein Hochhaus reiht sich an das nächste, in alle Richtungen, scheinbar endlos bis zum Horizont. São Paulo ist laut, pulsierend und überfüllt, ertrinkt im täglichen Verkehrschaos, ist ein Ort, an dem soziale Gegensätze hart aufeinandertreffen. Und ist die Metropole mit dem größten kulturellen Angebot Südamerikas, voller Cafés, Restaurants, Bars, Galerien und Museen. Eine anstrengende, manchmal gefährliche, spannende, faszinierende Stadt.
Letztes Jahr wartete ich dort an einem Julimorgen an der Metrôstation Estação Sumaré. Die Station wurde von dem brasilianischen Künstler Alex Flemming gestaltet: Auf den dicken Glasscheiben, durch die man auf eine darunter hindurchführende, achtspurige Stadtautobahn schauen kann, hat er Porträtphotos von Unbekannten aufgetragen. Auf den Bildern wiederum stehen brasilianische Gedichte als Hommage an die Literatur. Ich stand fast alleine auf dem Bahnsteig, es war ein seltsamer Augenblick der Ruhe inmitten der Lärmglocke des dröhnenden Berufsverkehrs auf der Straße unter mir. In diesem Moment fuhr die Bahn ein. „Die Einsamkeit des Lesers“ weiterlesen
Deutscher Buchpreis: Perspektivwechsel
Es ist wieder soweit: Der Startschuss für den Deutschen Buchpreis 2018 ist gefallen und vom 6. Februar bis zum 23. März können Bücher für eine Nominierung auf der Longlist eingereicht werden: »Verlage können sich mit bis zu zwei deutschsprachigen Romanen aus dem aktuellen oder geplanten Programm um die Auszeichnung bewerben. Die eingereichten Bücher müssen zwischen Oktober 2017 und September 2018 erscheinen und spätestens bei Bekanntgabe der Shortlist im Handel erhältlich sein«, so der offizielle Ausschreibungstext
Außerdem wurde die Jury bekanntgegeben. Sie besteht aus folgenden Personen:
Christoph Bartmann, Leiter Goethe-Institut Warschau, Literaturkritiker und Autor, Jurymitglied des Deutschen Buchpreises 2008
Luzia Braun, ZDF, stellvertretende Leiterin von »aspekte«, redaktionell zuständig für »Das literarische Quartett«
Tanja Graf, Leiterin Literaturhaus München, zuvor Verlegerin des Schirmer Graf Verlags und des Graf Verlags bei Ullstein
Paul Jandl, freier Kritiker, u. a. für die Welt und NZZ, von 2009 bis 2013 Jurymitglied des Ingeborg-Bachmann-Preises
Uwe Kalkowski, Literaturblog »Kaffeehaussitzer«, Buchpreisblogger 2015 und Gewinner des Buchblog-Awards 2017
Christine Lötscher, freie Kritikerin, bis 2016 Mitglied im Kritikerteam des »Literaturclub« (Schweizer Fernsehen), Jurymitglied des Schweizer Buchpreises 2011 bis 2013
Marianne Sax, Inhaberin des Bücherladen Marianne Sax, Frauenfeld, bis 2016 Präsidentin des Schweizer Buchhändler- und Verleger Verbands, Programmverantwortliche des Thurgauer Literaturhauses
Soweit der Originaltext aus der Pressemitteilung. Es ist für mich etwas ganz Besonderes, meinen eigenen Namen in dieser Runde zu sehen, die »den Roman des Jahres« küren soll, wie es in der Beschreibung des Deutschen Buchpreises so schön heißt. Was für eine Freude. Was für eine Ehre. Was für eine Aufgabe. Und natürlich: Was für eine Herausforderung. „Deutscher Buchpreis: Perspektivwechsel“ weiterlesen
Der letzte Ort
Ein Buch von gerade einmal 175 Seiten ist normalerweise in wenigen Stunden durchgelesen. Nicht so der Roman »Wir leben hier, seit wir geboren sind« von Andreas Moster. Für diesen schmalen Band habe ich vier Tage gebraucht, musste immer wieder innehalten, die gelesenen Sätze nachklingen lassen, konnte immer nur ein paar Seiten am Stück lesen, langsam und behutsam, um kein Wort zu überspringen. Denn es ist eine ganz besondere Sprache, die das Buch auszeichnet. Roh und zart, abweisend und einladend zugleich, archaisch und düster, durchsetzt mit hellen Flecken einer unbestimmten Hoffnung. Und jedes Wort sitzt perfekt an der Stelle, an der es stehen soll. „Der letzte Ort“ weiterlesen
Drei Jahrzehnte Verwüstung
Die Formulierung »Dreißigjähriger Krieg« ist so gebräuchlich und das Ereignis liegt so lange zurück, dass man sich nur selten Gedanken darüber macht, was für eine furchtbare Zeit die Jahre zwischen 1618 und 1648 gewesen sein müssen. Oder wie sie sich auf den weiteren Verlauf der Geschichte ausgewirkt haben, mit Folgen bis ins 20. Jahrhundert und damit bis heute.
2018 jährt sich der Beginn dieses Konflikts zum vierhundertsten Mal und das ist ein guter Anlass, sich etwas näher mit dieser Epoche zu beschäftigen. Und damit, was diese dreißig Jahre eigentlich für die Menschen damals bedeutet haben: Drei Jahrzehnte Verwüstung, Gewalt und millionenfacher Tod, ein Leben in ständiger Unsicherheit. Dorfbewohner wussten nicht, ob ihre Höfe und Häuser heute oder morgen von marodierenden, verrohten Soldatenhorden niedergebrannt würden, Städter mussten stets darauf gefasst sein, Opfer einer Belagerung mit anschließender Plünderung und Brandschatzung zu werden. Folter und Grausamkeiten aller Art waren an der Tagesordnung, Reisen und Handel waren kaum möglich, nach den drei Jahrzehnten glichen weite Teile Mitteleuropas einer unbewohnten Ödnis.
Drei Jahrzehnte. Was für ein gewaltiger Zeitraum, damals fast ein gesamtes Menschenleben. Jetzt, zum vierhundertsten Jahrestag des Kriegsbeginns, bin ich 48 Jahre alt; falls ich 78 Jahre alt werde, jährt sich das Ende zum vierhundertsten Mal. Zeit genug für einige Bücher, die ich zu diesem Thema hier vorstellen möchte. Erst einmal in aller Kürze, ausführlichere Besprechungen werden folgen. Ein weiteres Lesesprojekt hier im Blog Kaffeehaussitzer. „Drei Jahrzehnte Verwüstung“ weiterlesen
Peace for our time
Es ist eines der bekanntesten Photos des 20. Jahrhunderts: Der britische Premierminister Neville Chamberlain steht vor zahlreichen Mikrofonen und hält ein Stück Papier in die Höhe. »Peace for our time« ruft er dabei den zuhörenden Menschen zu. Es ist der 30. September 1938, Chamberlain kommt gerade von der Unterzeichnung des Münchner Abkommens zwischen ihm, dem französischen Präsidenten Daladier, Hitler und Mussolini. Der damit vermeintlich gesicherte Friede war mit der Zerstückelung der Tschechoslowakei erkauft, deren Regierung erst gar nicht um ein Einverständnis gebeten wurde. Das Bild, mit dem Chamberlain in die Geschichtsbücher einging, ist das eines etwas distinguierten, älteren Herrn, der sich mit seiner Appeasement-Politik von dem deutschen Diktator über den Tisch ziehen ließ. Aber war er das wirklich? Der Autor Robert Harris rückt in seinem Roman »München« dieses Bild zurecht und bringt uns jene dramatischen Tage auf seine unnachahmlich mitreißende Art und Weise so nahe, wie es literarisch nur möglich ist. „Peace for our time“ weiterlesen
Ungläubiges Staunen
Es war auf der Leipziger Buchmesse 2015, als ich zum ersten Mal viele meiner Bloggerkollegen im echten Leben getroffen habe. Als Tobias Nazemi vom Blog buchrevier hörte, dass ich in Köln lebe, meinte er »Echt? Ich hätte dich eher in Berlin verortet.« Meine spontane Antwort: »Ich mich auch.« Und genau so ist ist es. Berlin ist die Stadtliebe meines Lebens – obwohl oder vielleicht gerade weil der Kontakt zu dieser Stadt über all die Jahrzehnte nie ein dauerhafter war. Aber die dort verbrachten Wochen und Monate während der Neunziger gehören zu meinen prägendsten Erinnerungen.
Deshalb konnte ich an dem Buch »Berlin Heartbeats« auf keinen Fall vorbeigehen. Darin sind Texte und Bilder versammelt, die Geschichten aus jenem Berlin der Neunzigerjahre erzählen; Geschichten aus einer Zeit des Umbruchs, als alles offen und möglich schien, als Berlin ein einziges großes Experimentierfeld der urbanen Moderne war. Eine Zeit, in der ich diese Stadt während unzähliger, teils mehrmonatiger Besuche kennen- und liebengelernt habe. Sich durch Berlin treiben zu lassen hatte für mich in dieser Zeit stets etwas Inspirierendes, etwas Belebendes, aber auch etwas vage Vertrautes – vielleicht sind es die Gene meiner Familie; meine Großmutter verbrachte die gesamten Zwanzigerjahre in dieser Stadt. Und auch wenn ich heute dort aus dem Zug steige, fühle ich mich auf eine unbestimmte Art und Weise zuhause.
Aber es soll ja eigentlich um das Buch gehen. „Ungläubiges Staunen“ weiterlesen










