Das Leben der Mütter

Anke Stelling: Bodentiefe Fenster

Im April 1990 lief ich durch ein gigantisches Trümmerfeld. Endlos wirkende Straßenzüge ruinengleicher, aber immer noch prächtiger Häuser unter einem grauen, regnerischen Himmel. Braunkohlegeruch, kaum ein Mensch auf der Straße und was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, waren die Metallträger, die aus den bröckelnden, schwarzen Fassaden ragten und damit andeuteten, wo einst Balkone waren. Alles war beeindruckend und trostlos zugleich. Niemals hätte ich es damals für möglich gehalten, dass dieser Bezirk nur fünfzehn Jahre später zu einer der angesagtesten, schönsten und gleichzeitig zu einer der gediegensten und auf eigene Art und Weise spießigsten Wohngegenden Deutschlands werden sollte. Zu einem Bionade-Biedermeier, wie die ZEIT treffend titelte. Genau, es geht um den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und Anke Stellings Roman »Bodentiefe Fenster« führt mitten hinein ins Biotop der unangepassten Angepassten. „Das Leben der Mütter“ weiterlesen

Ein BRD-Lesebuch

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969

Was lese ich da eigentlich gerade? Eine Frage, die ich mir bei der Lektüre von Frank Witzels Roman immer wieder stelle. »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« ist ein sperriges Buch. Anstrengend. Fast unlesbar. Und gleichzeitig berauschend, ein wahrer Sprachmarathon, bei dem man seine Lesekräfte einteilen muss. Spätestens nach den Besprechungen von intellectures und lustauflesen.de bin ich mit Respekt an die Sache herangegangen, aber jetzt befinde ich mich mittendrin in diesem Sprachmonster und habe keine Ahnung, wie man dieses Werk in einer Besprechung darstellen, wie man die unglaubliche sprachliche Faszination gebührend würdigen könnte.

Wer eine Art Roman rund um die Rote Armee Fraktion erwartet, wird bitter enttäuscht werden. Ebenso wird es Lesern gehen, die sich auf eine klar strukturierte Handlung freuen. Das Buch hat beides nicht zu bieten. Dafür viel mehr als das, nämlich eine Reise tief, tief hinein in das Unterbewusstsein der alten Bundesrepublik Deutschland, ein Land und eine Lebensweise die genau so im Dunst der Geschichte verschwunden sind, wie die Deutschen Demokratischen Pendants. Die Jahre des RAF-Terrors stehen exemplarisch für die alte Bundesrepublik, haben sie doch wie kaum eine andere Zeit den gesellschaftlichen Wandel in Westdeutschland geprägt.

Doch um was geht es eigentlich? Das ist nicht einfach zusammenzufassen. Irgendwie um alles, was die Zeit der ausgehenden 60-er und beginnenden 70-er Jahre ausmachte, mit all ihrem spießigen Mief, dem angepassten Kleinbürgertum als staatstragende Verhaltensnorm. Gesehen aus der Warte eines Heranwachsenden, irgendwo in einer rheinhessischen Kleinstadt, dessen reale Erlebnisse sich mit Tagträumen, Fieberdelirien, weiter und weiter gesponnenen Gedankenläufen zu einer einzigartigen Textcollage verbinden, in die hinein man als Leser erst einmal einen Weg finden muss, eine Expedition ins Unbekannte. Bei der man viele, viele bekannte Namen und Marken der eigenen Jugend wiedertrifft, zumindest wenn man vor 1975 geboren wurde.

Lesetagebuch: Eine Annäherung

Bei mir dauert diese Textexpedition nun schon ein paar Tage an und ich habe beschlossen, diesmal eine Art Lesetagebuch zu führen. Als Versuch einer Annäherung. „Ein BRD-Lesebuch“ weiterlesen

Vorwärts immer, rückwärts nimmer

Peter Richter: 89/90

Die beiden Jahre 1989 und 1990 waren entscheidend. Entscheidend für die Geschichte unseres Landes, unseres Kontinents und letztendlich für die Welt, wie wir sie heute kennen. Und für mich ganz persönlich ebenfalls. 1989 wurde ich Halbwaise, die Schulzeit endete, der Zivildienst begann, die heimelige süddeutsche Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, blieb hinter mir zurück. Und dann fiel auch noch die Mauer und plötzlich wurde alles anders. Auch im Westen. Auch hier verlief das Leben danach nicht so wie geplant. Wobei ich eigentlich noch gar nichts geplant hatte. Aber plötzlich wurde der Zivildienst drastisch verkürzt, was unvorhergesehene Ereignisse mit sich brachte und ein paar Jahre später verschlug es mich zum Studium nach Leipzig – was noch während meiner Schulzeit nicht nur undenkbar, sondern schlicht und ergreifend unmöglich gewesen wäre. Aber eigentlich möchte ich gar nicht über mich reden, sondern über das Buch »89/90« von Peter Richter. Ein bisschen verschmilzt das aber miteinander. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ weiterlesen

Blogger für Flüchtlinge

Blogger fuer Fluechtlinge

Auf den Tag genau heute vor 23 Jahren saß ich in einer französischen Kneipe, irgendwo zwischen Burgund und den Rhône-Alpen. Wir waren zu zweit unterwegs, mit dem Fahrrad von Freiburg aus in die Camarque. Nach einem langen und anstrengenden Rad-Tag freuten wir uns auf ein entspanntes Feierabendbier, aber daraus wurde leider nichts. Denn in jener Kneipe hing ein Fernseher, auf den alle wie gebannt starrten. Zu sehen waren bürgerkriegsähnliche Zustände, ein Mob, der Brandsätze warf, auf Polizisten losging und versuchte, Häuser anzuzünden, aus denen verängstigte Menschen schauten. Es war widerlich. Und das alles in Deutschland, in Rostock-Lichtenhagen. Wir sagten kein Wort, da wir es vermeiden wollten, Deutsch zu sprechen und schauten, dass wir so schnell wie möglich die Kneipe verließen. Wir waren wütend und sprachlos zugleich und schämten uns für das, was in unserem Land geschah.

Allerdings war und ist das falsch. Komplett falsch. Denn schämen müssen nicht wir uns, sondern diejenigen, die dumpfbackig grölend auf hilflose Menschen losgehen und damit alles was gut ist in unserem Land in den Dreck ziehen und beleidigen. „Blogger für Flüchtlinge“ weiterlesen

Das Buchpreislesen: #dbp15

Deutscher Buchpreis 2015

Das große Buchpreislesen 2015: Als offizielle Kooperationspartner des Deutschen Buchpreises sind sieben Literaturblogs mit dabei: Die Buchpreisblogger. Der Kaffeehaussitzer befindet sich hier in illustrer Gesellschaft mit Buchrevier, Buzzaldrins Bücher, Klappentexterin, lustauflesen.de, masuko13 und Sätze & Schätze. Mehr Informationen zum Preis, zum Ablauf, zum Procedere und den Beteiligten gibt es hier.

Spannende Titel sind dabei und es warten einige literarische Entdeckungen. Dieser Beitrag ist das Grundgerüst für die kommenden Wochen. Ich werde hier alle nominierten Bücher auflisten und sobald auf einem der beteiligten Blogs etwas dazu geschrieben wurde, einen Link zur Besprechung beim jeweiligen Titel hinterlegen. So entsteht nach und nach ein Überblick über das, was bei den Buchpreisbloggern geschieht. „Das Buchpreislesen: #dbp15“ weiterlesen

Luft zum Atmen

Benedict Wells: Becks letzter Sommer

Eigentlich ist es mir unerklärlich, dass ich bisher »Becks letzter Sommer« von Benedict Wells nicht gelesen hatte; ist es doch ein Buch genau nach meinem Geschmack. Denn ich mag diese Geschichten über Typen, die durch ihr Leben stolpern, orientierungslos, hoffnungslos, auf der Suche nach irgendeinem Sinn. Aber irgendwie ging der Roman damals an mir vorbei, vielleicht auch einfach nur deshalb, weil mir das Titelbild auf dem Umschlag nicht gefallen hat. Und da wäre mir beinahe etwas entgangen – wenn nicht ein Buchhändler meines Vertrauens es mir empfohlen hätte. Da ich ihm schon viele gute Lesetipps verdanke, habe ich auch diesmal beherzt zugegriffen. Und was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Nur das Titelbild gefällt mir immer noch nicht. „Luft zum Atmen“ weiterlesen

Die Buchhändler-Rose

Die Buchhändler-Rose

Seit vielen Jahren hängt an meinem Bücherregal eine getrocknete Rose. Nicht irgendeine, sondern meine Buchhändler-Rose. Ich habe sie Ende Juli 1995 geschenkt bekommen, als ich meine Buchhändlerlehre beendet hatte. Seitdem begleitet mich diese Rose – sie hat acht Umzüge und mehrere Stadtwechsel überlebt. „Die Buchhändler-Rose“ weiterlesen

Das Gesicht des Krieges

Arturo Pérez-Reverte: Der Schlachtenmaler

Es ist eigentlich seltsam, dass ich bisher noch keines der Bücher von Arturo Pérez-Reverte vorgestellt habe, zählt er doch zu meinen Lieblingsautoren. So unterschiedlich die Themen seiner Romane sind, ist doch jedes ein kleines Sprachkunstwerk für sich. Und auch als ich jetzt »Der Schlachtenmaler« gelesen habe, wurde ich nicht enttäuscht. Der Schlachtenmaler heißt Andrés Faulques und ist eigentlich Photograph. Kriegsphotograph, um genau zu sein, und zwar einer der besten seines Faches. Faulques‘ Bilder wurden über dreißig Jahre in den wichtigen Magazinen der Weltpresse veröffentlicht; wenn es irgendwo einen Konflikt gab, war er dabei. Nicht am Rande, sondern mittendrin. „Das Gesicht des Krieges“ weiterlesen

Im Niemandsland

Davide Longo: Der Fall Bramard

Espresso wird gerne getrunken in Davide Longos »Der Fall Bramard«. Er schmiert die Gespräche. Das heißt, eigentlich unterstützt er eher das gemeinsame Schweigen. Denn geschwiegen wird viel in diesem Buch. Besonders zwischen Corso Bramard und Cesare, zwei wortkargen Männern in einer wortkargen Gegend. Beide leben in einem Dorf am Rand der piemontesischen Alpen, der alte Cesare betreibt die einzige Bar weit und breit. Es geschieht nicht viel hier, etwas abseits vom Leben in der Ebene. »Der Gesamteindruck war der von einem Ort, wo das Leben Zwischenstopp gemacht hatte, um sich dann anderswohin zu wenden. Corso lebte seit fünfzehn Jahren hier«. Denn in Bramards Vergangenheit ist bereits viel zu viel geschehen. Wenn er nicht schweigt und grübelt, dann besteigt er die umliegenden Gipfel, ohne auf Gefahren durch Wetter oder Steinschlag zu achten. Was kann einem Mann noch passieren, der bereits alles verloren hat, was ihm im Leben wichtig war? „Im Niemandsland“ weiterlesen

Stasi reloaded

Glenn Greenwald: Die globale Überwachung - der Fall Snowden und die Geheimdienste

Als im Sommer 2013 Edward Snowden mit Unterstützung des Journalisten Glenn Greenwald das Ausmaß der globalen NSA-Spitzelaktivitäten offenlegte, ging ein Ruf der Entrüstung um die Welt. Knapp ein Jahr später veröffentlichte Greenwald das Buch »Die globale Überwachung«, in dem er die Strukturen und den gigantischen Umfang der geheimdienstlichen Datensammlungen ausführlich darstellte. Ich hatte mir das Buch damals gleich gekauft, bin aber erst jetzt dazu gekommen, es zu Ende zu lesen. Ein lehrreicher zeitlicher Abstand, denn was hat sich seitdem getan, insbesondere in unserem Land? Nichts. Durch das einer Demokratie unwürdige, soeben verabschiedete Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wurde sogar von unserer eigenen Regierung noch einmal nachgelegt. Von daher ist es ein guter Zeitpunkt, Greenwalds Buch hier und jetzt vorzustellen. „Stasi reloaded“ weiterlesen

Aus dem Leben gefallen

Cynan Jones: Graben

»Ein leuchtend blaues Licht machte sich nun breit, und sie blieben eine Weile stehen und blickten über das Tal; die seltsamen Wattebäusche der Schafe waren zu erkennen, die weiß getünchten Farmhäuser – mit ihren blinkenden Fenstern wie Quarze im flachen grauen Land. Ein paar Vögel waren schon auf, und ein Schwarm Möwen zog geisterhaft in Richtung Meer, so als würden sie vor der aufgehenden Sonne fliehen. Man konnte das Meer von hier aus nicht sehen, aber spüren.« Ich war noch nie in Wales und ehrlich gesagt musste ich auf der Karte nachschauen, um es ganz exakt zu lokalisieren. Aber es muss eine schöne Gegend sein, zumindest scheint das in Cynan Jones Buch »Graben« immer wieder durch. Ansonsten bleibt in dem Roman nicht viel Platz für Schönes, die 175 Seiten haben es in sich. Denn Jones erzählt in einer großartigen Sprache eine raue, archaische und brutale Geschichte. „Aus dem Leben gefallen“ weiterlesen

Die Buchpreisblogger

Die Buchpreisblogger - Deutscher Buchpreis 2015

Der Deutsche Buchpreis 2015

Seit elf Jahren gibt es den Deutschen Buchpreis, der jedes Jahr zur Frankfurter Buchmesse verliehen wird. Ausrichter ist die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung, Förderer und Partner sind die Deutsche Bank Stiftung, die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main. Eine hochoffizielle Angelegenheit also. Und einer der bedeutensten Literaturpreise in Deutschland. Zudem eine perfekte Öffentlichkeitsarbeit für das Lesen, die Buchkultur und die Literatur; die interessierten Leser finden jedes Jahr spannende und interessante Titel auf den Listen, die zur Preisvergabe führen. „Die Buchpreisblogger“ weiterlesen

Die Blinde und der Gehorsame

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Wenn auf dem Umschlag eines Buches ein Schwarzweiß-Photo abgebildet ist, werde ich immer aufmerksam; in meinem Fall haben die Marketingmenschen der Verlage damit alles richtig gemacht. So ging es mir auch bei »Alles Licht, das wir nicht sehen« von Anthony Doerr. Gesehen, für interessant befunden, gekauft, obwohl ich noch nie etwas von diesem Autor gehört hatte. Kurz darauf dann die Nachricht, dass er für dieses Buch den Pulitzer-Preis für Belletristik erhalten hat und umso gespannter war ich dann auf die Lektüre. „Die Blinde und der Gehorsame“ weiterlesen

Das Weimar-Gefühl

Rüdiger Safranski: Goethe & Schiller - Geschichte einer Freundschaft

Durch Weimar zu streifen ist für mich etwas ganz Besonderes, schon fast etwas Magisches. Zwei Mal war ich in dieser Stadt, einmal 1999 und einmal 2015, vor wenigen Wochen. Ein interessanter äußerlicher Gegensatz: Gab es früher die bröckelnden Reste der sozialistischen Planwirtschafts-Tristesse zu bestaunen, so war man jetzt umgeben von beinahe überrestaurierten Gebäuden. Aber immer hat diese Stadt eine ganz besondere Ausstrahlung, die alten Straßen, Plätze, Gassen und Häuser atmen beinahe Geschichte – und das ist ja auch kein Wunder, es gibt wohl kaum einen anderen Ort in Deutschland, in dem die absoluten Höhepunkte und grausigsten Tiefen unserer Vergangenheit so dicht beiander liegen. Über diese Symbolik ist schon viel geschrieben und geredet worden, ragt doch schon von weitem sichtbar das Mahnmal des Konzentrationslagers Buchenwald über der Stadt auf.

Aber in diesem Text soll es nicht um dieses Düstere gehen, denn meine letzte Reise nach Weimar hat mich mitten hineingeführt in eine Zeit, in der sich die Menschen einen solchen Absturz in die Barbarei niemals hätten vorstellen können. Als Reiselektüre hatte ich nämlich das Buch »Goethe & Schiller – Geschichte einer Freundschaft« von Rüdiger Safranski dabei. Und es hat mir die beiden großen Dichter, die Stadt und die literarische Epoche so nahegebracht wie nie zuvor. „Das Weimar-Gefühl“ weiterlesen

Entwurzelt in Hamburgs Obstgarten

Dörte Hansen: Altes Land

Vor einigen Monaten hatte ich vollmundig verkündet, das Leseprojekt Herkunft und Heimat zu starten; ein Thema, das mich schon seit sehr vielen Jahren gedanklich beschäftigt. Es ist auch eine beachtliche Bücherliste zusammengekommen, allein, mir fehlte der Einstieg. Den habe ich mit dem Roman »Altes Land« von Dörte Hansen jetzt gefunden. „Entwurzelt in Hamburgs Obstgarten“ weiterlesen