Eine Geschichte erzählen

Alex Capus: Koenigskinder

Die Bücher von Alex Capus mochte ich schon immer und einmal durfte ich auch seine Entertainer-Qualitäten bei einem Liveauftritt erleben – ein denkwürdiger Spätnachmittag auf einem Ausflugsschiff weit draußen auf dem Zürichsee. Jetzt aber soll es um seinen Roman »Königskinder« gehen. Darin erzählt Alex Capus die unglaubliche Liebesgeschichte von Jakob und Marie, die es aus den Schweizer Bergen am Vorabend der französischen Revolution an den Versailler Königshof verschlug. Und das alles charmant eingebettet in eine Autopanne im Hier und Jetzt – denn elegant springt die Handlung immer wieder ins Heute und schafft mit diesem Perspektivwechsel ein wunderbares Lesevergnügen.

Einmal angenommen, man wäre mit dem Auto in der Schweiz unterwegs. Und weiter angenommen, man würde der schönen Strecke wegen eine Straße über einen Alpenpass statt durch einen Tunnel wählen. Man würde die Schneewarnung ignorieren, aus dem sonnigen Tal immer höher in die wolkenverhangenen Berge hineinfahren. Die ersten Schneeflocken noch belächeln,  mit der Zeit aber vor lauter Schneetreiben kaum noch etwas sehen können. Dafür spüren, wie die Straße bergab immer rutschiger wird, was ein Wenden nicht zuließe.

Angenommen also, man wäre so weit gekommen, dann würde es einen kaum noch überraschen, mit dem Auto von der fast nicht mehr sichtbaren Straße abzukommen und im Graben zu landen. Und festzustecken. Während es schneit und schneit und es völlig klar ist, dass man die Nacht im Auto verbringen muss. Was würde man machen? Max und Tina, Capus-Lesern noch aus »Das Leben ist gut« bekannt, manövrieren sich in genau diese Situation hinein. Sie sind ein Paar, das sich ständig über Kleinigkeiten streiten kann, »aber in den großen Dingen des Lebens – den Dingen, auf die es wirklich ankam – waren sie sich schon immer einig gewesen.«

Eine Nacht lang eingeschneit in einem fahruntüchtigen Auto sitzen, das bedeutet eine Nacht lang Zeit haben, um Geschichten zu erzählen. Vielmehr eine Geschichte, nämlich die von Jakob und Marie, die sich im Jahr 1779 kennenlernten. Und zwar, wie es der Zufall will, genau am Fuß des Berges gegenüber des Autos, das immer weiter im Schnee versinkt. Max erinnert sich daran, diese Geschichte vor einiger Zeit gehört zu haben und beginnt zu erzählen. Oder erfindet er dies alles nur? Wer weiß.

Er berichtet also von Jakob, einem jungen Mann, der eltern- und mittellos als Viehhirte auf einer schwer zugänglichen Alm weit oben am Berg lebte und die Kühe des reichen Bauern im Tal hütete. Er erzählt von Marie, der schönen Tochter des reichen Bauern, die Jakob beim Almabtrieb begegnete und sich in ihn verliebte, natürlich gegen den Willen ihres Vaters, der seine Tochter nicht einem Habenichts zur Frau geben wollte.

Immer, wenn die Geschichte zu sehr nach einem Märchen klingt und die Klischees überhand zu nehmen drohen, holt uns ein Einwand Tinas wieder zurück ins eingeschneite Auto auf dem Alpenpass. Und Max erklärt jedes Mal, dass alles ganz genau so geschehen sei. Capus beherrscht dieses Hin und Her wunderbar, es fühlt sich an, als wären wir selbst in diesem Auto und würden Max’ Erzählung lauschen; die pointierten Dialoge zwischen ihm und Tina schaffen eine intime Stimmung voller Vertrautheit. Beinahe ist die vollkommene Stille des Schnees zu hören, die sich rund um das Auto ausbreitet. Fast vollkommen. »Dieses Rauschen. Das ist das Rauschen des Tals. In den Bergen hat jedes Tal sein Grundrauschen in der ihm eigenen Frequenz, einmalig und unverwechselbar wie ein Fingerabdruck.«

Und Max erzählt weiter. 

Von Jakob, der fortging aus der Gegend, von Marie, die auf ihn wartete, jahrelang. Von Jakobs Militärzeit in Frankreich und wie es sie beide bedingt durch allerlei Zufälle an den Versailler Königshof verschlägt, genau in dem Moment, als die morsche Gesellschaftsordnung des absolutistischen Frankreichs am Zusammenbrechen war. Denn inzwischen ist das brodelnde Jahr 1789 angebrochen und eine Revolution liegt in der Luft.

Großartig ist die Beschreibung des Versailler Schlosses mit seinen unübersehbaren Zeichen der Verwahrlosung, symbolisch für eine Epoche, deren Ende gekommen ist:

»Der erste Eindruck, den Jakob vom Schloss hat, ist der eines überwältigen Gestanks; ein unfassbar scharfer, stechender, unerträglich beißender Ammoniakgeruch, ein Brodem von Verwesung, Moder, Schweinestall und Menschenlatrine. …  Das Schloss ist brandschwarz. Schwarz sind die einstmals sandsteinfarbenen Mauern der Gartenfassade und schwarz ihre Gesimse, schwarz die Säulen mit ihren korinthischen Kapitellen und schwarz die Balustraden, schwarz die Balkone vor den undichten Fenstern und die Statuetten vor den Regenrinnen – das ganze Schloss ist schwarz vom Rauch der über tausend offenen Feuer in den tausend offenen, schlecht ziehenden Kaminen, mit denen sich die Schlossbewohner in den viel zu hohen Sälen seit über hundert Jahren eine Illusion von Behaglichkeit zu geben versuchen.«

Und dann der Blick auf den weltberühmten Park:

»Er staunt über so viel Schönheit, Eleganz und wahrhaft titanische Größe, aber mehr noch staunt er über den gottvergessenen, apokalyptisch menschenverlassenen Anblick, den das alles bietet. Die einstmals golden und marmorn schimmernden Statuen sind bedeckt von Moosen und Flechten, auf den breiten Alleen wuchert von den Rändern her Gras und Moos über den Schotter, an manchen Stellen schon bis zur Mitte hin. Die prachtvollen Brunnen sind augetrocknet, die wasserspeienden Drachen und Fische speien kein Wasser mehr. In den Brunnenbecken liegt dürres Laub von vielen Jahren, zerfällt zu Erde und bildet einen Nährboden für Gras, Sprösslinge und wilde Blumen.«

Die Zitate sind ein wenig lang geworden, aber mir gefällt diese morbide Endzeitstimmung so gut, dass ich nicht widerstehen konnte. Capus erschafft mit kräftigen Pinselstrichen vor unserem inneren Auge eine dem Untergang geweihte Welt.

Doch was führt Jakob und Marie nach Versailles? Was ist der Grund für ihren Aufenthalt dort? Es ist ein Auftrag, ein königlicher Wunsch, der mit den Kühen im Landgut Montreuil zu tun hat, das der Schwester Ludwigs XVI. gehört, doch mehr soll hier nicht verraten werden. Die beiden jedenfalls befinden sich an der Peripherie der kommenden dramatischen Ereignisse, die aber auch sie in den Strudel der Geschichte hineinziehen werden.

Alex Capus ist ein erzählerisches Kleinod gelungen. Eine Geschichte voller Irrungen und Wirrungen, eine unglaubwürdiger als die andere, wunderbar zu lesen. »Wobei es gar nicht so wichtig ist, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht. Wichtig ist, dass sie stimmt.« Sagt Max. Und er hat recht, denn so wie er vom Schicksal Jakob und Maries berichtet, könnte man ihm endlos lange zuhören. Perfekt für eine Nacht in einem eingeschneiten Auto. Doch leider geht diese Nacht irgendwann zu Ende, ein grauer Morgen zieht herauf, es hat aufgehört zu schneien, das nächste Dorf ist in Fußlaufweite und irgendwo dort wird es bestimmt einen Kaffee geben. 

Und genügend Zeit, um darüber nachzudenken, was wohl aus Jakob und Marie geworden ist. Und aus ihrer Liebe in Zeiten des Umbruchs. Denn beide hat es wirklich gegeben und das Lied »Pauvre Jacques« erinnert bis heute an sie. Mit »Königskinder« hat Alex Capus den beiden Liebenden ein Denkmal in Buchform gesetzt.

»Mag ja sein, dass es dieses Glück geben kann, den richtigen, einzigen Menschen gefunden zu haben, den rätselhafterweise nicht austauschbaren und nicht zu ersetzenden, die andere Hälfte, ich will da gar nichts gesagt haben. Kann schon sein.«

Buchinformation
Alex Capus, Königskinder
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-26009-2

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Eine Antwort auf „Eine Geschichte erzählen“

  1. Ja, die Begeisterung kann ich nachvollziehen. Auf mich kam Alex Capus gewissermaßen in Häppchen:

    Am Beginn stand vor Jahren eine zufällig gezappte Doku auf 3Sat, in der der Autor von einer Journalistin auf einer Reise nach Marseille(?) begleitet wurde. Mir gefielen schon damals die klugen Antworten und die generelle Lebensphilosophie.

    Dann war längere Zeit Pause, bis zu: „Mein Nachbar Urs: Geschichten aus der Kleinstadt“, ein vergnügliches kleines Büchlein, das liebevoll den durchaus beschaulich zu nennenden Alltag in Olten (wer kannte schon zuvor Olten?!) skizziert. Eine Strandlektüre, oder für abends.

    Und wieder Pause: Dann erst kürzlich ein Zufallsfund in einer Bücherkabine – „Fast ein bisschen Frühling“. Bekanntermaßen die Geschichte einer Verbrecherjagd. Es wird allenorts hoch gelobt, ich selbst konnte der Story nicht viel abgewinnen. Und ich konnte Capus nicht folgen in seinem Versuch, die ‚Mörder mit menschlichem Antlitz‘ zu porträtieren. Möglich, dass dahinter die persönliche Verbindung stand – über seine Großmutter, wie er darlegt. Oder aber wollte er einfach nur provozieren, Widerspruch wecken – dieses Gefühl hatte ich schon öfter in seinen Texten.

    Und jetzt auch noch Kaffeehaussitzer mit dieser überaus interessanten Rezension, die Lust auf mehr A.C. macht – wahrlich eine Annäherung an den Autor in Raten. Alex Capus – ein lebensbegleitender Autor. Interessante Vorstellung.

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