Untergrundküche

Vladimir Sorokin: Manaraga - Tagebuch eines Meisterkochs

Im Jahr 2037 gibt es keine gedruckten Bücher mehr. Zumindest nicht im Roman »Manaraga – Tagebuch eines Meisterkochs« von Vladimir Sorokin, einem der wichtigsten Autoren der russischen Gegenwartsliteratur. Bekannt als scharfzüngiger Kritiker des russischen Establishments, nimmt er mit seinen Grotesken und seinem satirischen Humor regelmäßig die herrschenden Verhältnisse aufs Korn. Im dystopischen »Manaraga« existiert Russland in seiner heutigen Form gar nicht mehr, so wie auch der Rest Europas sich vollkommen verändert hat. Bücher sind in dieser Welt zu seltenen Sammlerstücken geworden, die man vor allem in Museen aufbewahrt. Wenn sie nicht für einen Verwendungszweck gestohlen werden, der einem Buchliebhaber Haare zu Berge stehen lässt. 

Vladimir Sorokin stellte im Kölner Literaturhaus sein Buch vor und dies wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, um mich herum überall russische Gesprächsfetzen oder Begrüßungen zwischen alten Bekannten; mit etwas Phantasie konnte man sich nach St. Petersburg oder Moskau träumen. Dann kam Sorokin auf die Bühne, begleitet von der WDR-Journalistin Katharina Heinrich, die den Abend moderierte, und dem Schauspieler Stefko Hanushevsky, der die Passagen des Romans auf deutsch vortrug. Vladimir Sorokin selbst hat auf russisch aus seinem Roman gelesen; ich habe kein Wort verstanden, aber wieder einmal gemerkt, wie sehr ich diese gleichzeitig weich und kantig klingende Sprache mag, bei der stets ein Hauch Melancholie mitschwingt.

2037 also. Bücher sind Museumsstücke, die digitale Welt hat gesiegt. Gleichzeitig ist ein neues kulinarisches Vergnügen für Vermögende entstanden, das Book’n’Grill, bei dem ausgewählte Werke der Weltliteratur verbrannt werden, um darauf erlesene Speisen zuzubereiten. Selbstverständlich ist dies höchst illegal, denn die dazu benötigten Bücher müssen aus Museen oder von Privatsammlern gestohlen werden – ein kriminelles Netzwerk hat sich rund um dieses Geschäft gebildet. Geza, dessen Erlebnisse in dem Roman geschildert werden, ist ein Meister des Book’n’Grill, dessen Credo lautet: »Ein Buch muss Eindruck machen: Es muss lodern und die Sinne entflammen.«

Die Welt ist aus den Fugen geraten, nach verheerenden Kriegen ist Europa kaum wiederzuerkennen und in kleinste Teile zerfallen. Zahlreiche neue Staaten sind entstanden, Republiken, Monarchien, Diktaturen; aus Bayern etwa ist ein Feudalstaat mit öffentlichem Richtplatz und aufgeklärt-mittelalterlichen Strukturen geworden. Geza lebt in dieser Welt unter dem Radar, er reist mit falschen Identitäten von einem Ort zum anderen, um für die Reichen auf brennenden Büchern zu grillen, immer unterwegs, ohne Familie, ohne Freunde. Es ist ein teures und exklusives Vergnügen für alten Geldadel ebenso wie für neureiche Geschäftsleute und halbseidene Kriminelle, in seinem Tagebuch schildert Geza seine Aufträge und seine Erlebnisse.

Er verbrennt Bücher in edlen Vorstadt-Villen, auf abgelegenen Inseln, auch einmal an Bord eines Katamarans, auf dem eine reiche Familie dauerhaft abseits aller Hoheitsgebiete lebt. Gegrillt werden Kobe-Beef auf der Erstausgabe von Dostojewskis »Der grüne Junge«, Garnelen auf den Erzählungen von Tschechow oder Ribeye-Steak auf Gogols »Die toten Seelen«. Der Grillvorgang selbst ist hochkomplex, erfordert jahrelange Erfahrung und eine entsprechende Ausrüstung. Bücher als ganzes brennen schlecht, und sobald das Buch einmal angezündet ist, muss mit Hilfe des »Excaliburs« – einem speziellen, säbelartigen Werkzeug – Seite für Seite in die Flammen geblättert werden, um eine gleichbleibende Hitze zu erzeugen. Wichtig ist es, die Art des Grillgutes an die Dicke des Buches anzupassen, entscheidend ist die Qualität des Papiers. Das ganze nennt sich »Lesung« und ist ein feierlicher Vorgang, die Gäste sitzen um den Grill und beobachten den Koch bei seinen Verrichtungen. Dann ist das Buch verbrannt, nur noch maximal der verkohlte Buchrücken übrig und das Essen wird seviert.

Im Literaturhaus schilderte Sorokin dies als mystischen Vorgang, schrecklich anzusehen und genau deshalb als dekadentes Vergnügen beliebt. In seinem Roman berichtet er von Köchen, die sich auf die unterschiedlichen Länder spezialisiert haben. Einer grillt ausschließlich auf Werken französischer Autoren, Hugo, Stendhal, Balzac, ein anderer ist in der deutschen Literatur unterwegs und bietet zum Beispiel Rinderlunge auf dem »Zauberberg« an. Und Geza ist eben der Spezialist für die Werke der russischen Meister, wobei er die Bücher der postsowjetischen Ära ablehnt, da für ihn der Inhalt der Bücher in Zusammenhang mit der Qualität seiner Arbeit steht.

Und über allem wacht die »Die Große Küche«, eine Art Dachverband des illegalen Geschäfts mit gestohlenem literarischen Grillgut, mit eigenem Security-Dienst, der nicht zimperlich ist. Denn es ist ein brutales Gewerbe, immer wieder werden unliebsame Konkurrenten liquidiert, an nicht wenigen Büchern klebt Blut. Eine sehr skurrile Szene des an Absurditäten nicht armen Buches ist das sogenannte »Konzil« der Mitglieder der »Großen Küche«. Bei der Beschreibung der Teilnehmer erhalten die Leser einen Einblick in die Vielfalt der Literatur. Als Grillmaterial. Hier erhält Geza einen Auftrag, der ihn in die abgelegene Bergwelt des Urals führen und sein ganzes Leben verändern wird. Eine Veränderung, die wir als Vorgeschmack dessen erleben, was auf die Menschheit noch zukommen kann.

Als Leser benötigt man einen Sinn für grotesken Humor, um das Buch – Verzeihung für dieses Wortspiel – genießen zu können. Lässt man sich darauf ein, so funktioniert Sorokins geniale Idee, auf diese Weise einen regelrechten Literaturkanon vorzustellen, der auch als wehmütige Liebeserklärung an die großen Meister der klassischen Literatur gelesen werden kann.

Gleichzeitig schildert er eine komplett vom Digitalen durchdrungene Welt. Eine Welt, in der sich Menschen, die es sich wie Geza leisten können, ihre Hirne durch digitale Implantate optimieren. Die »Flöhe« sorgen für perfektes Wohlbefinden, umfangreiches Wissen und checken die Umgebung nach sicherheitsrelevanten Kriterien. Vladimir Sorokin sprach auführlich über diese Entwicklung der Selbstoptimierung, deren Anfänge wir heute ja bereits heute durch den allgegenwärtigen Smartphonegebrauch beobachten können. Bald haben wir die Technik in den Augen und im Ohr, dann im Gehirn. Und diese Entwicklung wird nicht mehr lange dauern, so Sorokin. »Helfer und Henker« nannte er an diesem Abend jene digitalen »Flöhe«, denn sie werden dafür sorgen, dass unter all der Optimierung das Unperfekte des Menschseins verloren gehen wird.

Auf die Frage, wie er auf die Idee zu seinem Buch gekommen sei, erzählte Vladimir Sorokin von einem Restaurantbesuch mit einem Freund. Die beiden saßen neben einem Pizzaofen und kamen bei dem Anblick auf das Thema Bücherverbrennung zu sprechen, damit natürlich auf Ray Bradburys »Fahrenheit 451« und Sorokin dachte über die Frage nach, wie viel Wärme da wohl verlorengegangen sein muss. Angesprochen auf die öffentliche Verbrennung seiner Bücher durch die Putin-Claqueure der Naschi-Bewegung meinte er nur lakonisch: »Die Idioten hätten wenigstens etwas Leckeres darauf grillen können.«

Sein Buch ist für Sorokin eine Art wehmütiger Abgesang auf das Print-Zeitalter. Es wird weniger und weniger Papierbücher geben, bis der Rest in Museen aufbewahrt wird. Bücher werden in der digitalen Welt irgendwann zu Raritäten. Sorokins Literaturagentin, die ebenfalls im Literaturhaus anwesend war, meldete sich zu Wort und meinte, dass es ihr immer etwas Angst machen würde, wenn sie von ihm ein neues Manuskript zugeschickt bekäme – zu oft haben sich seine Texte schon als prophetisch erwiesen.

Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders. Umberto Eco hat einmal gesagt: »Das Buch ist wie der Löffel, der Hammer, das Rad oder die Schere: sind diese Dinge erst einmal erfunden, lässt sich Besseres nicht mehr machen.«

Aber wer weiß schon, was 2037 sein wird. Hoffen wir das Beste. Als leidenschaftlicher Griller werde ich jedenfalls auch in Zukunft Holzkohle bevorzugen.

Buchinformation
Vladimir Sorokin, Manaraga – Tagebuch eines Meisterkochs
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-05126-1

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9 Antworten auf „Untergrundküche“

  1. Obwohl es ja wahrscheinlich Grausameres gibt, als Bücher statt Grillkohle zu verwenden, das tut niemanden wirklich weh, nur die bibliophilen Seelen stöhnen auf, denken an die Bücherverbrennung oder an Fahrenheit 451 und übersehen vielleicht die Realität, in der die Leute wirklich weniger lesen oder nur den „E-Book-Schund“ und dann kommt eine Elite daher, veranstaltet, um viel wahrscheinlich ergaunertes Geld elitäre Grillparties und Menschen werden angestellt Bücher zu stehlen, in der Realität passiert wahrscheinlich Schlimmeres, aber die Bibliophilen winden sich genüßlich und schreien auf und außerdem läßt sich nebenbei noch viel über die russische Literatur erfahren, die man vielleicht lesen soll, solange es sie noch gibt, liebe Grüße!
    https://literaturgefluester.wordpress.com/2019/01/31/manaraga/

  2. Hallo,

    das Buch liegt hier schon bereit, meine Erwartungen sind hoch! Ich mag grotesken Humor, wenn er gut gemacht und nicht zu platt ist.

    Die Idee ist so absurd, dass sie schon wieder glaubwürdig ist… Man kann sich vorstellen, dass diese Art von kulinarischer Ausuferung Menschen anspricht, die dermaßen abgestumpft sind, dass nur das Extreme sie aus ihrem Verdruss reißt.

    Ich hege die Hoffnung, dass das Printbuch nie aussterben wird. Ich lese zwar selber oft eBooks, aber nicht nur – und wenn mich ein eBook begeistert hat, kaufe ich mir oft auch noch das Printbuch.

    LG,
    Mikka
    [ Mikka liest von A bis Z ]

  3. Der erste Sorokin, den ich gelesen habe, war Сердца Четырех (Die Herzen der vier), das ich in einem Antiquariat in Kursk mitgenommen habe. Aufgrund der immer absurderen Wendungen habe ich bald an meinem Russisch gezweifelt…

    Seitdem störte mich noch öfter, dass Sorokin sich von Effekt zu Effekt hangelt & wenig bemüht scheint, die chaotischen Momente erzählerisch wieder zu integrieren, wobei zugegeben die Lektüren 10+ Jahre zurückliegen. Ausnahme: „Der Schneesturm“, der es schafft eine traditionel beginnende Erzählung behutsam ins Fantastische zu kippen.

    Von daher interessieren mich die neueren Sorokins durchaus wieder, in der Hoffnung, sie finden eine bessere Balance zw dem Chaos der erzählten Welt und einer Ästhetischen Ordnung des Materials.

  4. Interessantes Thema! Ich denke, es wird noch eine ganze Weile dauern (länger als 2037), bis die gedruckten Bücher aussterben, aber wer weiß? Ich bin ja eigentlich ein großer eBook Fan (auch weil sie schwer verloren oder kaputt gehen können geschweige denn verbrannt), aber im Moment ist es oft noch günstiger, gebrauchte Bücher zu kaufen als eBooks. Vielleicht wird es irgendwann nur noch Print on Demand Modelle geben, aber auch da wird es, glaube ich, noch Nachfrage nach gedruckten Büchern geben.

    1. Ich glaube, dass gedruckte Bücher nie aussterben werden – dazu ist diese Art der Textwiedergabe einfach zu perfekt. Denn 400 Jahre alte Bücher kann ich heute noch lesen; ob das in 400 Jahren mit heutigen E-Pub-Formaten möglich sein wird, ist mehr als zweifelhaft. Falls dann unserer Welt noch existiert, aber das ist eine andere Geschichte.

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