Oskar Niedermayer ist der Name eines Mannes, dessen Taten im Dunkel der Geschichte verschwunden sind; dabei hatte er sich auf den Weg gemacht, dem Ersten Weltkrieg einen anderen Verlauf zu geben. Er war der Anführer einer deutsch-türkisch-österreichischen Expedition, die 1915 von Konstantinopel aufbrach, um die Kunde des Dschihads, zu dem der türkische Sultan Mehmed V. aufgerufen hatte, auf geheimen Wegen ins ferne Kabul zu tragen. Ziel war es, die afghanischen Stämme vereint mit der islamischen Welt Zentralasiens gegen die englischen Kolonialherren in Indien in den Kampf zu führen. Dadurch sollte das britische Empire so nachhaltig erschüttert werden, dass England nicht in der Lage gewesen wäre, weiterhin in Europa Krieg zu führen. Der Versuch misslang und die Niedermayer-Expedition wurde fast völlig vergessen. In Steffen Kopetzkys Roman »Risiko« wird dieses waghalsige Unternehmen wieder lebendig.
Ebenfalls wieder lebendig wurde beim Lesen des Buches eine Erinnerung an meine Jugendzeit. Eine etwas martialische Erinnerung, wie ich zugeben muss, denn wie viele Länder ich mit fünfzehn erobert habe, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall sehr viele, Nachmittag um Nachmittag wälzten sich meine Armeen über das Spielbrett – es ging um nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Das war im Winter 1984/1985, ein paar Schulfreunde und ich hatten das Brettspiel »Risiko« entdeckt und wir spielten es wochen-, monatelang, eigentlich den ganzen Winter hindurch. Es wurde früh dunkel und ich sehe uns im Lichtkegel einer tiefhängenden Lampe um unseren Wohnzimmertisch sitzen, konzentriert würfelnd und planend, Niederlagen einsteckend und Siege bejubelnd. Bis vor kurzem hatte ich gar nicht mehr an diese Zeit gedacht, es sind seitdem viele Jahre vergangen. Aber Steffen Kopetzkys »Risiko« hat mich tief in meinen Erinnerungen kramen lassen, denn auch hier geht es um ein Strategiespiel, genannt »Das Große Spiel« und in seinem Roman wird es in den Jahren vor 1914 von Offizieren der Armee des kaiserlichen Deutschlands gespielt. Ist es eine augenzwinkernde Hommage des Autors an das Brettspiel, das mich einst so begeistert hat? Es mag sein, bei mir war die Assoziation jedenfalls sofort gegeben.
Es ist ein sehr ausgeklügeltes Strategiespiel, dieses »Große Spiel«, das die Teilnehmer dazu bringen soll, in großem Maßstab geopolitisch zu denken. Eigentlich Offizieren vorbehalten, gerät Sebastian Stichnote, Funker des Kriegsschiffes »Breslau«, über seinen Vorgesetzten Karl Dönitz in Kontakt mit diesem Spiel und wird schnell zum Meister der unorthodoxen strategischen Überlegungen, die zum Sieg führen können.
»Es war eine der interessanten Lehren des Großen Spiels, dass jeder Spieler zwangsläufig für sich versuchte, eine Innenwelt aus Militär, Bevölkerung und Wirtschaft zu bilden, sich Ressourcen zu sichern, zu deren Ausbeutung eine Infrastruktur zu schaffen und die Möglichkeiten des Planeten so optimal auszuschöpfen, wie es der ganzen Menschheit gemeinsam möglich gewesen wäre. Jede Nation, jedes Imperium spielte dennoch für sich um die Weltherrschaft, und darin lag das Fatale.«
Die Handlung des Romans beginnt im Juni 1914 und bald darauf wird aus einem Spiel blutiger Ernst. Der Erste Weltkrieg beginnt, dessen Dimensionen sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorstellen kann. Und Sebastian Stichnote wird selbst zu einer Figur im Spiel der Mächte.
Schnell sind die im Mittelmeer stationierten deutschen Kriegsschiffe »Breslau« und »Goeben« in erste Kampfhandlungen verstrickt und schaffen es, der großen englischen Übermacht zu entkommen, indem sie nach Konstantinopel flüchten. »Während dieser nächtlichen Schachzüge mit Schlachtschiffen, die winzig klein auf dem Mittelmeer umherfuhren, hatten die vor gut einem Jahrzehnt errichteten Kommunikationslinien ihre Tätigkeit aufgenommen, riesige Maschinerien, mit denen die Militärbürokratien von vier Großmächten die Abwicklung eines einzigen Zwecks verfolgten: Die Einleitung des Großen Krieges. Hunderttausende Kilometer Telegrafenleitungen gerieten in einen Zustand insektenhafter Vibration, infizierten Kasernen, Magistrate und Postämter, Verzeichnisse und Registraturen ins Spiel bringend, in den die Namen all derer standen, die nun einzurücken hatten: die in den Völkern verborgen lebenden Heere.«
Ist das nicht eine großartige Formulierung, dieses »die in den Völkern verborgen lebenden Heere«? Die Türkei ist zu diesem Zeitpunkt noch neutral, deshalb stellen die Deutschen beide Schiffe als Geschenke der türkischen Marine zur Verfügung, inklusive der Mannschaften. Ein Geniestreich, der maßgeblich dazu beitragen wird, dass die Türkei auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintritt. Und Sebastian Stichnote wird türkischer Funker.
Das bleibt er aber nicht lange, denn parallel zu den beschriebenen Ereignissen werden in Berlin die Fäden gezogen, um das britische Kolonialreich zu destabilisieren, während zeitgleich die deutsche Offensive in Frankreich zum Stehen kommt und ein erbarmungsloser vierjähriger Stellungskrieg beginnt. Die Orientabteilung des Auswärtigen Amtes beauftragt jenen Oskar Niedermayer mit der beschriebenen Expedition und Niedermayer, nicht nur Offizier sondern auch Forscher und begeisterter Asienfahrer, nimmt die Herausforderung an. Die Expedition startet in Konstantinopel und auf der Suche nach einem Funker wird Stichnote zu diesem Kommando abgestellt.
Dann geht es los. Im Folgenden entwickelt sich die Geschichte langsam, ganz behutsam; so wie die Expedition mühsam Schritt für Schritt, Etappe für Etappe vorankommt. Es ist ein gefährliches Unternehmen, sie geraten in türkische Machtkämpfe, werden von den Engländern ausspioniert, müssen das halbneutrale Persien illegal durchqueren, das zum Teil von britischen und russischen Truppen besetzt ist, die schon seit vielen Jahrzehnten um die Vorherrschaft in Zentralasien ringen. Die Natur fordert ihren Tribut, Salzwüsten, unerträgliche Hitze, unwegsame Passstraßen in abgelegenen Gebirgen, Wassermangel, fehlende Hygiene und tausende von Kilometern voller Entbehrungen lassen die Expedition dahinschmelzen wie Schnee in gleißender Sonne. Und so wie sich der Trupp Abenteurer und Soldaten physisch nach und nach auflöst, verändern sich die Persönlichkeiten der Teilnehmer auf dramatische Art; sie verlieren sich in Opiumabhängigkeit, religiösem Fanatismus und Verzweiflung ob der ausweglosen Situation. Nur Niedermayer peitscht alle weiter voran, unerbittlich.
Doch auch er kann nicht verhindern, dass der geordnete Trupp immer weiter ausfasert und zerfranst, von einer alles beherrschenden, gnadenlosen Natur mehr und mehr aufgesogen wird. Bis zum dramatischen Finale. Aber zuvor erreichen sie es noch, das Dach der Welt. »Genau hier war der Hauptknotenpunkt der zentralafghanischen Gebirge, hier zweigten die nach Nordwesten, Westen und Südwesten gegen das iranische Hochland auslaufenden Bergketten ab. Jeder Schritt wurde schwierig, aber die Schönheit, die erschlagende Monumentalität um sie herum zwang ihnen ein halbirres Grinsen ab. Winzig kleine Menschlein waren sie: Von den hundertvierzig, die von Isfahan aufgebrochen waren, waren es noch siebenunddreißig, doch die fühlten sich als Herren der Welt, da sie es bis hierher geschafft hatten, in das steinerne Herz Afghanistans.« Ganz nahe werden sie dem Ziel ihrer Mission kommen, ein Ziel, das gleichzeitig immer weiter in unerreichbare Fernen abdriftet. So wie die Handlung der Geschichte, in der zunehmend historische Realität und Wunschvorstellungen der Protagonisten miteinander verschmelzen.
Steffen Kopetzky holt aus den Tiefen der Geschichte ein waghalsiges Unternehmen zum Vorschein und macht daraus einen grandiosen Abenteuerroman. Ein Abenteuer, das den Verlauf der Weltgeschichte hätte verändern können. Es gibt unzählige Verknüpfungen und Erzählstränge; die historische Wirklichkeit, verkörpert durch viele reale Personen auch in Nebenhandlungen, vermischt sich mit Fiktion auf eine so gekonnte Weise, dass man nicht unterscheiden kann, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Ein Buch ohne Paukenschläge, aber mit einer unterschwelligen Spannung, die sich in einer wundervollen Sprache ganz, ganz langsam entwickelt. Und den Leser in einer archaischen Welt vollständig versinken lässt.
Doch was wird aus dem »Großen Spiel«? Ein Exemplar davon geht mit Sebastian Stichnote auf die lange Reise, hilft beim strategischen Planen. Bis hin zu der Erkenntnis, dass sich das Schicksal nicht strategisch planen lässt. »Er nahm ein grünes Reiterlein in die Hand, die winzige Husarenmütze auf dem Kopf und den stecknadelgroßen Speer zur Attacke bereit, drehte die Figur im Dämmerlicht und rief sich all diese Schlachten in Erinnerung, die er am Spielbrett erlebt hatte. Gerade zuletzt war es ihm erschienen, als seien sie realer als die Wirklichkeit, als übersteige das Spiel diese an Wahrheit und Aussagekraft. Doch so sehr sie auch entflammt gewesen sein mochten, waren sie vielleicht einfach nur kleine Jungs, die mit Bleisoldaten spielten.«
Da waren meine Gedanken wieder bei den Jungs, die im Winter 1984/1985 in einem dunklen Wohnzimmer um die Weltherrschaft würfelten.
Buchinformationen
Steffen Kopetzky, Risiko
Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-93991-0
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Ein sehr lesenswertes Autoren-Interview mit vielen Hintergrundinformationen zum Buch und zu den historischen Ereignissen findet man im Blog intellectures.
Dieses Buch wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert.
Die Buchpreisblogger haben das Auswahlverfahren begleitet.
Dieses Strategiespiel ist bisher an mir vorbei gegangen, wie auch das Buch, wenn es nicht die Longlist und das Longlistlesen geben würde und es ausgerechnet nur dieses eine dicke beim Thalia in St. Pölten gegegeben hätte, zudem ich dann vorigen Mittwochnachmittag losgezogen bin.
Aber ich interessiere mich ja für den ersten Weltkrieg und die aktuelle politische Situation in Afghanistan, Syrien, der Türkei, im Iran, etcetera, tut es natürlich auch und das Buch ist auch sehr beeindruckend, ob all der Einzelheiten, die da liebevoll und detailbesessen aneinandergereiht werden, die Biene Maja, das Schnelllesen, Winston churchill, der Vater von Camus, Coca Cola und und und….
Man liest und staunt und bekommt auch als Frau, die sich ja für Abenteuer und Karl May nicht so sehr interessiert einiges mit und so war auch sehr spannend, diesen Abenteuerschinken zwischen den poetischen Bücher von Gertraud Klemm, Monique Switters und Kay Weyand zu lesen.
Ja, besonders diese Verknüpfung völlig unterschiedlicher Handlungsstränge und Schicksale hat mir auch gut gefallen. Wobei da natürlich ein ordentliches Maß an dichterischer Freiheit dabei ist; was man z.B. merkt, wenn man sich das Leben und Sterben des realen Vaters von Camus anschaut…
Ich hatte das Buch erst kürzlich in der Hand, die Kurzbeschreibung auf dem Buchrücken konnte mich aber so gar nicht neugierig machen. Das hat nun deine Besprechung getan und ich werde gleich losgehen und mir das Buch kaufen. Herzlichen Dank für’s Neugierigmachen! :-)
Das freut mich und ich bin schon sehr auf Deine Meinung gespannt.
Und schon wieder ein Roman, den du so interessant beschreibst, dass ich ihn gleich lesen möchte. Ach ja, und „Risiko“ habe ich auch gespielt, mit meinem großen Bruder, er hat mich nie gewinnen lassen.
Ich danke Dir. Und meinen kleinen Bruder habe ich natürlich auch nie gewinnen lassen – es ging schließlich um die Weltherrschaft…
Ich hatte Niedermayers eigenen Expeditionsbericht während meines Studiums mal gelesen. Das Unternehmen wirkte ganz schön abgehoben und sinnlos, auch wenn der Autor das so wohl gar nicht vermitteln wollte.
Im Prinzip war das so eine Art Gegenentwurf zu Lawrence von Arabien – nur unter viel, viel schwierigeren Bedingungen und von Beginn recht aussichtslos. Und das Abgehobene der Unternehmung kommt in Kopetzkys Roman ziemlich gut rüber.