Moussa Ould el-Assasse – das ist der Name eines der berühmtesten Toten der Literaturgeschichte. Er ist der am Strand von Algier erschossene Araber in Albert Camus Roman »Der Fremde«. Oder zumindest könnte das sein Name sein, denn bei Camus bleibt der von seinem Protagonisten Meursault Erschossene namenlos. Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud hat sich der Geschichte angenommen und stellt sie uns aus arabischer Perspektive dar, weshalb sein Buch den Titel trägt »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung«. Ein Anspruch, der mich sofort neugierig auf den Roman machte, versprach er doch, mich auf eine Reise in die eigene Erinnerung mitzunehmen.
1986 war ich siebzehn und »Standing on a Beach« von The Cure eine meiner Lieblingsplatten. Das erste Lied »Killing an Arab« habe ich sofort im Kopf, wenn ich heute die Schallplatte nur anschaue, das leichte Schlagen auf das Becken und das vorsichtige Einsetzen der Gitarre, bevor der stampfende Rhythmus beginnt. Ein paar Jahre später, 1990, hatte ich mit einundzwanzig eine kurze, aber intensive existenzialistische Phase – wobei es eher eine Attitüde war, schwarze Kleidung zu tragen, rauchend in Cafés zu sitzen und Sartre und Camus zu lesen. Besonders die Werke von Camus faszinierten mich; aber Phase und Attitüde verschwanden irgendwann wieder, nur meine Vorliebe für schwarze Kleidung ist bis heute geblieben.
Ich muss gestehen, dass es mir erst viel, viel später auffiel, dass »Killing an Arab« von The Cure eine musikalische Reminiszenz an Camus »Der Fremde« ist, ein Beispiel für musikgewordene Literatur. Die Liedzeilen bringen die apathische Haltung des Protagonisten, der beinahe beiläufig, ohne Gefühlsregung einen Menschen getötet hat, mit wenigen Worten zum Ausdruck: »I’m standing on the beach / With a gun in my hand / Staring at the sky / Staring at the sand / Staring down the barrel / At the Arab on the ground / See his open mouth / But I hear no sound.«
Warum ich das alles erzähle? Weil mit Daouds Buch »Der Fall Meursault« nun eine weitere Dimension dazu gekommen ist, eine neue Perspektive zu einer Geschichte, die mich schon so lange begleitet. Zur Einstimmung auf Daouds Buch habe ich »Der Fremde« nach 25 Jahren erneut gelesen und sah ich mich dabei wieder rauchend in einem Café sitzen, dasselbe Buch in der Hand, die Schale Milchkaffee vor mir. Nur, dass jetzt, so viele Jahre und Erfahrungen später, Meursaults Geschichte, seine Apathie, seine Willenlosigkeit und sein durch das passive Verhalten immer aussichtsloser werdendes Schicksal viel intensiver auf mich wirkten; die Handlung eine Wucht entwickelte, die ich als junger Mensch noch nicht gespürt hatte. Damals habe ich Meursault im Gerichtssaal zurückgelassen und ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn eines Tages wiedertreffen würde.
Das habe ich eigentlich auch nicht, denn er bleibt in »Der Fall Meursault« ein Schatten, eine geheimnisvolle Figur, die Tod und Unglück über die Familie Moussas gebracht hat. Ein alter Mann erzählt uns Lesern die Geschichte; wir treffen ihn irgendwo in einer Bar in Oran. Er ist der jüngere Bruder des Getöteten, dessen Leben durch diese Tat völlig aus den Fugen geraten ist und ihn zu dem verbitterten Alten gemacht hat, als den wir ihn kennenlernen.
Die Ermordung Moussas zerstört das Leben der Familie. Einen Vater gibt es nicht, die Mutter schafft es nicht, den Tod ihres Erstgeborenen zu verarbeiten und projeziert all ihre Wünsche und Sehnsüchte auf den jüngeren ihrer beiden Söhne, dessen Individualität dadurch so gut wie ausgelöscht wird. Irgendwann verlassen die beiden die Stadt, ziehen nach Marengo (der Camus-Leser erkennt den Ort wieder), leben isoliert und abgeschottet, doch ohne Ruhe zu finden. Der Erzähler wird zu einem jungen Mann, der ebenso teilnahms- und emotionslos durch das Leben geht wie Meursault – und eines Nachts beginnt sich die Geschichte in all ihrer tragischen Konsequenz zu wiederholen.
Später widmet er sein Leben der Suche nach der Wahrheit, um mit der Familientragödie umgehen zu lernen. Er forscht nach Spuren der damaligen Geschehnisse und er findet: Nichts. Es hat nie eine Leiche seines Bruders gegeben, kein Grab, keine Zeugen, auch das Schicksal des verurteilten Meursault ist nicht mehr zu rekonstruieren, der offensichtlich irgendwann aus der Haft entlassen wurde, um sein Buch zu schreiben. Und nur dieses weltberühmte Buch gibt Auskunft darüber, was an jenem schicksalhaften Tag in Algier passierte.
Indem er Meursault mit Camus gleichsetzt, die Romanhandlung als Wirklichkeit deklariert, in der seine Geschichte als eine neue Sichtweise daherkommt, spielt Kamel Daoud raffiniert mit der Perspektive. Sein – ebenfalls namenlos – bleibender Ich-Erzähler redet in einem einzigen Monolog mit einem unbenannt bleibenden Gesprächspartner. Möglicherweise einem Literaturstudenten, ebenfalls auf der Suche nach der Wahrheit, den er ironisch mit »Herr Literaturwissenschaftler« anredet. Oder redet er mit uns, den Camus-Lesern? Oder mit sich selbst? Gibt es ihn überhaupt? Ist er selbst ebenfalls eine Fiktion des Autors, eine weitere Perspektive in der vertrackten Geschichte?
Eine abgrundtiefe Verbitterung spricht aus jedem Wort des Erzählers. Eine Verbitterung über sein eigenes Leben im Schatten des toten Bruders. Über die Arroganz der französischen Kolonialherren, für die der Tote immer ein namenloser Araber sein wird, »der zwei Stunden lang gelebt hat und 66 Jahre lang ohne Unterbrechung immer nur gestorben ist«. Und über die politischen Entwicklungen in seinem Land; ein Algerien, das es bis heute nicht geschafft hat, etwas aus seiner blutig erkämpften Freiheit zu machen und gerade dabei ist, sich den nächsten Kolonialherren zu unterwerfen. Kolonialherren aus dem eigenen Land, die im Namen einer freudlosen, religiös verbrämten Ideologie allen Fortschritt zunichte machen.
All das packt Kamel Daoud in den 200 Seiten langen Monolog. Es ist etwas zuviel, gerade die Bezüge auf das heutige Algerien wirken wie Fremdkörper; sind richtig und wichtig, stören aber die Beschäftigung mit dem Toten am Strand und den Folgen dieser Tat. Und manches Mal sind die Bezüge auf Camus‘ Werk zu offensichtlich, die Anspielungen wirken zu gewollt. Letztendlich baut Daoud die Geschichte um, adaptiert sie, erschafft einen arabischen Meursault. Der ein ähnlich phlegmatisches und von äußeren Einflüssen gesteuertes Leben führt; ein einsames Leben, dass durch die vergebliche Suche nach der Wahrheit zum Scheitern verurteilt ist. »Eine Gegendarstellung« ist dabei ein irreführender Untertitel, »eine Abrechnung« wäre passender gewesen.
Eine Abrechnung mit allem: Mit Meursaults Mord an seinem Bruder, mit der französischen Arroganz, die dem Toten nicht einmal einen Namen zugestand, mit seiner Mutter, mit den algerischen Befreiungskämpfern, den Terroristen und dem heutigen Algerien mit seinem immer stärker werdenden islamistischen Einfluss. Und eine Abrechnung mit sich selbst, der es nie geschafft hat, aus dem Schatten seines toten Bruders und seiner Mutter herauszutreten und ein eigenes Leben zu leben.
Irgendwie schließt sich der Kreis: Die Schallplatte von The Cure liegt vor mir, auf dem Cover ein alter Mann, verhärmt, traurig, vom Leben enttäuscht. Das könnte er sein, der namenlose Araber. Moussas Bruder.
Mehr zum Buch? Es wurde viel darüber berichtet. Gut gefallen haben mir zum Beispiel die Beiträge in den Blogs lustauflesen.de oder Das graue Sofa.
Buchinformation
Kamel Daoud, Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung
Aus dem Französischen von Claus Josten
Verlag Kiepenheuer und Witsch
ISBN 978-3-3-462-04798-1
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