Wir haben die Wahl. Jeden Tag

Wandbild des kubanisch-amerikanischen Künstlers Felix Gonzales-Torres, Linienstraße, Berlin-Mitte*

Wo anfangen? Vielleicht mit dem vorläufigen Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung: Bei der Bundestagswahl 2017 wurde mit der AfD eine Partei in unser Parlament gewählt, die offen rassistisches, antisemitisches und reaktionäres Gedankengut vertritt. Die für all das steht, was viele von uns für überwunden gehalten haben. Oder von dem sie zumindest gedacht haben, es sei in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Weit gefehlt. Leider.

Aber woher kommt dieser Trend hin zum rechten Rand? Woher kommt diese Wut auf die etablierten Parteien und die Politik? Dieser Wunsch, »denen da oben« mal so einen richtigen Denkzettel zu verpassen? Viel wurde darüber im Vorfeld der Wahl geredet und geschrieben, es ging um die Situation der Abgehängten, der Wendeverlierer, um immer weiter auseinanderklaffende gesellschaftliche Risse, arm und reich, Stadt und Land, Flüchtlingskrise, Unterschiede im kulturellen Denken und vieles mehr.

All diese Punkte, einzeln oder gemeinsam betrachtet, sind Symptome eines gravierenden gesellschaftlichen Wandels, der vor drei Jahrzehnten begonnen hat und der noch längst nicht abgeschlossen ist. Vielmehr sind es nur die ersten politischen Ausläufer, die wir durch die Bundestagswahl mitbekommen haben. Dieser gesellschaftliche Wandel ist die Erosion des Mittelstands und er betrifft uns alle.

Der Mittlere Westen und das Lahntal

Klar geworden ist mir dies bei der Lektüre des Buches »Die Abwicklung« von George Packer. Der Autor beschreibt darin den Niedergang des Kernlands der USA; den gesellschaftlichen Wandel im Mittleren Westen, der letztendlich mit dazu beitrug, einem Egomanen mit psychopathischen Zügen den Weg ins Weiße Haus zu ebnen. Besonders beeindruckt hat mich in diesem Buch die Erfolgsgeschichte Sam Waltons, des Gründers der Supermarktkette Wal-Mart. Die Expansion Wal-Marts durch gnadenlose Preisdumping-Politik ist ein Beispiel von Raubtier-Kapitalismus in Reinform: Innerhalb weniger Jahre war die komplette Infrastruktur des Mittleren Westens verschwunden; kleine Läden, Handwerksbetriebe, familiengeführte Geschäfte – alles, was Kleinstädten Struktur, Arbeit und damit Sicherheit gibt, vernichtet. Geblieben waren schlecht bezahlte Jobs in den riesigen Wal-Mart-Supermärkten. So schlecht bezahlt, dass man wiederum auf die alles unterbietenden Wal-Mart-Preise angewiesen war. Ein Teufelskreis. Packer hat das wie folgtbeschrieben:

»Erst nach seinem Tod, als der urige, bodenständige Sam nicht mehr das öffentliche Gesicht der Firma war, begannen die Menschen zu verstehen, was Wal-Mart angerichtet hatte. Das ganze Land war eine Art Wal-Mart geworden. Es war billig. Die Preise waren niedrig, und die Löhne waren niedrig. Die Industrie beschäftigte nur noch wenige Arbeiter, die selten gewerkschaftlich organisiert waren. … Die Kleinstädte, in denen Sam Walton seine Chance gesehen und genutzt hatte, verarmten zusehends, weshalb die Kunden immer mehr auf die ›jeden Tag günstigen Preise‹ von Wal-Mart angewiesen waren. … Das Heartland, Amerikas traditonelles Kernland, wurde immer weiter ausgehöhlt, was die Umsätze der Firma weiter steigerte.«

Ich habe dieses Zitat schon bei der Vorstellung des Buches verwendet, es hat sich mir nachhaltig eingeprägt. Denn noch während ich »Die Abwicklung« gelesen habe, verbrachte ich ein Wochenende mit Rudern und Radfahren im Lahntal, mitten in der hessischen Provinz. Warum ich das erzähle? Weil mir dort beim Besuch des malerischen Städtchens Weilburg etwas aufgefallen ist, was ich bisher verdrängt hatte. Klar, auch bei uns in der Großstadt ist dauernd vom Sterben des Einzelhandels die Rede. Noch nie aber konnte ich das mit solch einer Deutlichkeit sehen, wie beim Bummel durch die malerischen Gassen dieser kleinen Stadt mit ihrem pompösen Schloss. In manchen Straßenzügen gab es kein einziges Ladenlokal mehr, das nicht leer stand, nicht mit Brettern verammelt war. Dazwischen aufgegebene Restaurants und Cafés. In Teilen der pittoresken Innenstadt war kaum ein Mensch auf der Straße. Es war ein Bild der Trostlosigkeit, der Anblick einer sterbenden Stadt, mühsam kaschiert durch Kanu- und Reisegruppentourismus. Ich war schockiert, denn so drastisch hatte ich es noch nie wahrgenommen. Und es ist doch etwas anderes, wenn man jahrelang von Verödung der Innenstädte, Landflucht und Niedergang der Kleinstädte liest, als wenn man diesen Verfall mit eigenen Augen sieht.

Die allermeiste Zeit meines Lebens bewege ich mich in einem großstädtischen Umfeld, wo die Bedrängnis, in die Einzelhandelsgeschäfte geraten sind, auf den ersten Blick nicht so auffällt. Es verschwinden zwar nach und nach die letzten inhabergeführten Bekleidungs-, Spielzeug- und Schuhläden, aber bisher wird der Leerstand noch durch Filialen der Ketten, Handyshops oder Billigläden gefüllt. Auch eine negative Veränderung, aber sie fällt nicht so drastisch ins Auge wie leergefegte Fußgängerzonen, in denen es kaum noch Geschäfte gibt.

Und genau dies ist der gesellschaftliche Wandel, von dem ich eingangs sprach. Über den ich in Packers Buch gelesen habe. Und den man mit eigenen Augen sehen kann, nicht irgendwo im Mittleren Westen, sondern bei uns. Einzelhandel und Handwerksbetriebe verkörpern wie kaum andere Branchen den Mittelstand. Sie sorgen für eine funktionierende Infrastruktur, für Arbeit, Lebensqualität und Perspektiven.

Eigentlich ist es ganz logisch: Der Mittelstand ist das Rückgrat der Gesellschaft. Bricht der Mittelstand weg, fällt unsere Gesellschaft auseinander – und in ländlichen Gegenden ist diese Entwicklung schon weit fortgeschritten. Es sind diese auseinanderbrechenden Strukturen, die damit verbundene Unsicherheit und Zukunftsangst, die den davon betroffenen Menschen das Gefühl vermittelt, zu den Abgehängten zu gehören. Zu denen, für die sich niemand interessiert, um die sich niemand kümmert. Dies ist der Nährboden für die Wut der Frustrierten und die AfD hat es geschafft, mit Ressentiments und Hetze diese Wut zu kanalisieren und zu instrumentalisieren.

Angefangen hat dies alles vor etwa drei Jahrzehnten, als die Einkaufszentren vor den Toren der Städte wie Pilze aus dem Boden schossen, als es für all die kurzsichtigen Stadtverwaltungen en vogue war, sich mit einer nagelneuen Shopping-Mall zu schmücken. Die Folge war das erste große Sterben der Innenstädte.

Dann kam das Internet und mit ihm die ersten Online-Händler. Plötzlich waren alle Bedürfnisse nur noch einen Mausklick entfernt, musste man zum Shoppen sein Zuhause nicht mehr verlassen. Und dem riesigen Marketingbudget der großen Online-Versender hatte ein Händler vor Ort kaum etwas entgegenzusetzen. Schöne neue Welt.

Die Folge ist das zweite große Sterben der Innenstädte. Und damit verbunden das Sterben des Mittelstands. Und damit verbunden die Auflösung unserer gesellschaftlichen Strukuren, das Entstehen von Wut, Frust und Ressentiments. Und damit verbunden die Erfolge radikaler und populistischer Parteien.

Was können wir tun?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Mir geht es nicht darum, den Online-Handel zu verteufeln. Oder einer vermeintlich guten alten Zeit hinterherzutrauern.

Mir geht es darum, dafür zu sensibilisieren, dass jeder von uns mit seinem Konsumverhalten gesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Online-Shopping hat für uns Kunden viele Vorteile, ist bequem und optimal geeignet, um auch ausgefallenere Produkte zu bestellen. Dinge des täglichen Bedarfs aber nicht vor Ort zu kaufen, trägt zur weiteren Erosion unserer Gesellschaft bei. Bücher sind da ein perfektes Beispiel: Wer ein Buch bei Amazon bestellt, es sich von einem hunderte von Kilometern entfernten Auslieferungslager schicken lässt, anstatt zur Buchhandlung in der Innenstadt zu gehen (oder es in deren Webshop zu bestellen), stärkt mit diesem Einkaufsverhalten den Infrastrukturzerstörer und Steuernvermeider aus Seattle. Der vielleicht einen perfekten Service bietet, aber keine Arbeit vor Ort. Und wenn irgendwo ein – von der Politik kurzsichtigerweise meist subventioniertes – Amazon-Auslieferungslager entsteht, werden dadurch prekäre Jobs geschaffen auf Kosten guter Arbeitsplätze. Die Wal-Mart-Erfolgsgeschichte sollte einem Mahnung genug sein.

Deshalb der langen Rede kurzer Sinn:

Kauft vor Ort ein. Sorgt damit für Stabilität in euren Städten und Regionen. Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben, deshalb macht euch klar, dass jeder Euro an Amazon und Co. aus euren Städten unwiederbringlich abfließt. Helft mit, durch euer Einkaufsverhalten die gesellschaftliche Erosion zu stoppen.

Und sicher, man kann natürlich politische Maßnahmen fordern, etwa eine geänderte Steuergesetzgebung oder arbeitsrechtliche Reformen. Alles richtig und wichtig. Man kann aber auch schon einmal damit anfangen, über sein eigenes Einkaufsverhalten nachzudenken.

Eine persönliche Anmerkung zum Schluss: Als Literaturblogger würde ich niemals meine Buchtipps mit Links zu Amazon versehen. Da käme zwar etwas Geld zusammen, aber gleichzeitig hätte ich das Gefühl, meine Seele verkauft zu haben.

Denn wir haben die Wahl. Jeden Tag.

#SupportYourLocalBookstore

*(Das Beitragsphoto zeigt ein Mural des kubanisch-amerikanischen Künstlers Felix Gonzales-Torres (1957 – 1996) in der Linienstraße in Berlin-Mitte. Mehr zu diesem Werk und seiner ungewöhnlichen Geschichte hier.)

30 Antworten auf „Wir haben die Wahl. Jeden Tag“

  1. Hallo Kaffeehaussitzer,

    ich melde mich immer wieder mal, wenn ich entweder deine Kritiken und Empfehlungen gut finde oder selbst etwas zu empfehlen habe.
    Kurz zu deinem Kommentar: Wir haben us diese Entwicklung selbst beigefügt, durch „Geiz ist geil“, durch fehlende Mitgliedschaften in Parteien und Gewerkschaften, durch immer größeren Egoismus. Spannend hierzu auch das Buch „Fremd in ihrem Land“ von Arlie Russell Hochschild, das ich dir wärmstens ans Herz lege. Sowas kommt von so was, würde ich oft gern den aktuellen Kritikern der Politik, den AfDlern und ihren Fans entgegen rufen. Leider, und das ist bald das Schlimmste, haben Gesellschaft und Politik kein Konzept dagegen…
    Wie dem auch sei, liebe Grüße aus Köln
    Edgar

    1. Vielen Dank für die Buchempfehlung; wir hatten uns ja schon auf Facebook darüber ausgetauscht und ich habe es seitdem auf der Wunschliste. Muss ich mir dringend mal näher anschauen.
      Viele Grüße aus Köln nach Köln
      Uwe

  2. Hallo Uwe,
    ein interessanter Artikel, der auf jeden Fall zum Nachdenken anregt. Ich mag deine Wortwahl. Du schreibst offen deine Meinung, ohne dogmatisch zu sein. Vieles sehe ich ähnlich. Wir kaufen unser Gemüse am Wochenmarkt, Milchprodukte beim Bauern aus dem Nachbardorf, meine Bücher beim Buchhändler in der Nähe. Für E-Books jedoch habe ich einen Kindle und unterstütze somit Amazon, ebenso mit Links von meinem Blog. Ob das so alles richtig ist? Ich weiß es nicht und oft fühle ich mich hin und hergerissen. Deine Anmerkung zum Schluss hat es auf jeden Fall in sich und lässt mich ganz schön grübeln… Aber was ist zum Beispiel mit den Indie-Autoren, die wirklich gut sind und in der Verlagswelt keine Chance haben? Für sie ist Amazon oft ein wichtiges Sprungbrett… Deine Meinung hierzu fände ich sehr spannend. Liebe Grüße, Susanne

    1. Hallo Susanne,
      vielen Dank für Deinen Kommentar. Für mich gehört der Besuch der Buchhandlungen meines Vertrauens untrennbar zum Lesen und zur Beschäftigung mit Literatur dazu – dieses Gefühl, sich überraschen zu lassen, die Vorfreude auf Neuentdeckungen, in Büchern zu blättern, erste Seiten anzulesen, neue Autoren zu finden, all das verbinde ich mit Buchhandlungen. Und nicht mit Amazon. Aber Du hast natürlich recht, dass inbesondere das Selbst-Publizieren durch den Kindle erst so richtig Fahrt aufgenommen hat. Das ist eben auch die andere Seite dieser Firma: Durch ständige Innovationen ist die gesamte Buchbranche dazu gebracht worden, sich mit neuen Techniken zu befassen. Der Tolino ist eine Erfolgsstory, die sonst nicht möglich gewesen wäre. Und er bietet Selfpublishern inzwischen die gleichen Möglichkeiten, ohne dass sie sich durch Amazon-Verträge knebeln lassen müssten. Denn die Firma aus Seattle ist eben nicht nur ein Innovator, sondern auch eine Krake, die alles vereinnamt, was ihr in die Fangarme gerät, für Kindle-Publischer wie Kindle-Leser eine Art goldener Käfig. Da ich kaum E-Books lese und nur Bücher kaufe, die in einem Verlag erschienen sind, ist dieser Aspekt für mich aber ohnehin nicht wichtig. Ich verbinde mit Amazon in erste Linie fragwürdige Geschäftspraktiken, gnadenlose Arbeitnehmer-Ausbeutung und die Zerstörung unserer Buchhhandels-Infrastrukur. Entscheidend für mich, bei dieser Firma nicht einzukaufen, ist die Tatsache, dass von jedem Euro, den ich dort ausgeben würde, der größte Teil aus meiner Stadt und meiner Region abfließt. Das geht für mich gar nicht. Letztendlich muss das jeder für sich selbst entscheiden, aber ich habe meine Seite gewählt. Und die ist immer die Buchhandlung und der Einzelhandel vor Ort. Dazu kommt noch der ökologische Irrsinn, sich seine Bücher und all seinen Alltagskram von hunderte von Kilometern entfernen Lagern nach Hause liefern zu lassen. Ich finde dies schon alleine aus Gründen der Nachhaltigkeit vollkommen absurd. Ich wohne in einer Großstadt und kann in der Tat fast alles vor Ort bekommen und natürlich ist mir klar, dass dies auf dem Land nicht geht. Aber muss man dann unbedingt beim Steuervermeider bestellen? Das geht ja inzwischen so gut wie bei jeder Buchhandlung – und Tolino-Leser können so auch ihren E-Book-Nachschub beziehen. Abschließend hier noch ein paar mehr Details zur Thematik: https://kaffeehaussitzer.de/amazon-warum-ich-dort-keine-buecher-kaufe/
      Liebe Grüße
      Uwe

      1. Vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Du hast mich wirklich zum Nachdenken gebracht und es hat mich nicht mehr losgelassen. Ich habe alle links zu Amazon gelöscht, außer bei einem Beitrag. Hier fehlen mir noch passende Bilder bevor ich sie auch hier herausnehmen werde. Ich werde wieder verstärkt auf gedruckte Bücher zurückkehren. Wie ich es mit den Indie-Autoren halten werde, die nur auf Amazon veröffentlichen und die ich sehr gerne mag, weiß ich noch nicht. Liebe Grüße und ein besinnliches Weihnachtsfest.

  3. Aber wie war es denn früher mit dem sogenannten Fach- und Einzelhandel, am liebsten inhabergeführt? – Dürftiges Sortiment gepaart mit unfreundlicher Bedienung! „Haben wir nicht, können wir auch nicht bestellen…“ So meine Erinnerung an die gute alte Zeit in der Kleinstadt. Da hat man Luftsprünge gemacht, als dann z.B. endlich ein Mediamarkt mit dem Auto in endlicher Zeit erreichbar war, der hatte, was man wollte, und sogar noch mit freundlichen Verkäufern…

  4. Ganz so schlimm ist es hier (noch?) nicht. Aber auch hier haben schon lange geführte Geschäfte geschlossen wie ein Holzspielwarenladen oder eine Buchhandlung. Zum Glück gibt es auch noch genügend regionale kleine Geschäfte wie Fotofachgeschäfte, Buchhandlungen etc. Und ganz ehrlich finde ich der Service ist dort um Einiges besser, als es Amazon und Co. jemals sein könnten. Auch wenn längst nicht alles in der Nähe zu bekommen ist, aber zumindest doch einiges. Und so hoffe ich wird es auch noch lange bleiben oder im Idealfall sich wieder steigern. Immerhin sehe ich auch, wie sich auch wieder neue Geschäfte gründen.

    Die Frage nach der Buchverlinkung ist da keine ganz so einfache. Hilft es, den hiesigen lokalen Buchhändler zu verlinken? Der für die meisten Leser nicht zwingend vor Ort ist. Bei großen Händlern wäre am Ehesten noch Osiander meine erste Wahl, die sich auch um nachhaltiges Handeln bemühen – was allerdings auch von Filiale zu Filale unterschiedlich sein kann. So habe ich mal einen Artikel über die Buchhandlungen meines Vertrauens geschrieben und verlinke immer den Verlag direkt, wenn es um eine Bestellmöglichkeit gehen soll. Vielleicht nicht die optimalste Lösung, aber bis jetzt die beste, die mir eingefallen ist.

    LG und danke für den Artikel, der mal wieder zum Nachdenken anregt.

    Rabin

  5. Witzig! Ich habe „Die Abwicklung“ just in meinen Sommerferien gelesen und zwar in, tadaaaa…, in den USA! Auf dem Weg zur Schwägerin im viel zu großen, aber außerordentlich bequemen Mietwagen, kamen wir durch Kansas City und haben dort am Stadtrand (Wo fangen solche Städte eigentlich an, bzw. auf?) eine Essenspause eingelegt: Anschauungsunterricht vom feinsten. Im Flüsterton instruierte ich meinem Sohn Verhaltensregeln und wir plazierten uns ans Fenster, um unser Auto im Blick zu behalten. Unser Sprössling (15) fands übertrieben, ich war vom Buch beeinflusst.
    Unser Ziel, Columbia (Missouri) zur Sonnenfinsternis, ist dagegen eine Studentenstadt, die versucht dem Verfall Einhalt zu gebieten. Kleine, inhabergeführte Coffee Shops, Kunstgalerien und Bücherläden waren eine wohltuende Abwechslung zu den Souvenirläden (stimmt natürlich nicht, ich liebe Souvenierläden) der großen Nationalparks, wohlaber nur möglich, weil junge Menschen sich engagieren.
    Es gibt also Hoffnung und ich bete, sie nicht durch einen Einkauf bei Aldi U.S.zerstört zu haben. Immerhin gibt es dort keine gratis Plastiktüten mehr!

  6. Wir waren in Birkenfeld und Idar-Oberstein, in Eberbach am Neckar und in anderen Kleinstädten – überall verwaiste Geschäfte, der Grundbedarf der Einwohner kann oft nur noch auf der „grünen Wiese“ eingekauft werden. Mich erschreckt auch das Anspruchsdenken mancher Kunden, alles muss jederzeit (8- 22 Uhr) und sofort in großer Auswahl vorhanden sein.
    Früher fuhr ein VW- Bus durch die Stadt und lieferte Pakete aus, heute quälen sich mindestens fünf Paketdienste mit großen Sprintern durch die Gassen, und die unterbezahlten Fahrer liefern im Laufschritt aus. Wem nutzt das?
    Das Leben ändert sich, ich freue mich über meine Gnade der frühen Geburt. Aber ich kämpfe weiter und kaufe lokal in Einzelhandel und auf dem Wochenmarkt, solange es das noch gibt. Es brauchte einen Ethikunterricht an Schulen der Kindern die Zusammenhänge erklärt.

  7. Ich habe Ihren Bericht bzw. Ihre Wahrnehmungen und Gedanken mit Interesse gelesen.
    Ihr wichtigster Satz scheint mir „Mir geht es darum, dafür zu sensibilisieren, dass jeder von uns mit seinem Konsumverhalten gesellschaftliche Verantwortung übernimmt….“

    Zwei Ergänzungen an dieser Stelle. Die Supermärkte sind beileibe nicht erst vor erst dreissig Jahren an die Ränder der Kommunen gezogen. Das begann viel früher. Konsum (im Besitz der Gewerkschaft) war im Dorf und am Rand entstand ein Kondi. das war in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Gleiche Inhaber: Gewerkschaft. Konkurrenz belebt das Geschäft. Aus Alzey stammte ein Herr Massa. Die Massa Märkte in Rheinhessen und im südlichen Hessen bereiteten den Konsums und Kondi das Ende. So wie diese zuvor den IFA und Vivo Fachgeschäften.

    Ich höre derzeit aus beruflichen Gründen lokale hessische Radiosender. (Herzlichen Dank an dieser Stelle für das Mitleid). Von 80% der aufgeregt geplärrten Werbespots bleibt nicht in der Erinnerung als der Preis. In Deutschland wird im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern fast ausschliesslich über den Preis geworben. Neuerdings mit temporalen Erpressungen: „nur heute und bis 20:00 Uhr“ etc.
    Es liegt und hat schon immer an den Konsumenten und ihrem Verhalten gelegen. Als Aldi noch Albrecht hiess und alle die Nase gerümpft haben über die Waren in aufgestapelten Kartons, haben wir als WG dort eingekauft. Heute kauft dort die erfolgreiche Unternehmensverräterin ebenso wie der Herr Dr. Möchtegern.
    Nach zwanzig Jahren Leben und Arbeit in aussereuropäischen Ländern musste ich einsehen, dass es offenbar kein konsumgeileres Volk als das Deutsche gibt. Auch in anderen Ländern gibt es Kaufwellen von neuen Artikeln. In Deutschland sind es gleichwohl fast schon Tsunamis. Neuestes Beispiel sind die Fahrräder mit Elektromotor (E-Bikes). Und immer billig billig. Das macht den Hauptanreiz.
    Ich kenne keine andere Sprache, in der es ein vergleichbares Idiom zu dem deutschen „Ich habe mich belohnt mit diesem Kauf“

    Das Problem der Spaltung der Gesellschaft ist nicht das Wegbrechen der Mittelschicht, sondern die generelle Krise und der Verfall der bürgerlichen Gesellschaft. Angeheizt durch den kranken Glauben an ein ewiges wirtschaftliches Wachstum. Fast jeder Mensch glaubt an das Wachstum, weil es ihm vorgaukelt, er hätte die gleiche Chance wie die ewigen Gewinner. Hat er aber nicht. Und letztendlich spürt es die gesunde Seele, dass wirtschaftliches Wachstum (oder mehr Wohlstand) nicht das Gleiche ist wie persönliches Wachstum.
    Und wie es damit bestellt ist, kann man am privaten Fernsehen sehen und auf den meisten Radiosendern hören. Erbärmlich..

    Viele Grüsse aus dem Bembelland,
    Herr Ärmel

    1. Vielen Dank für diesen lesenswerten Kommentar.

      „Das Problem der Spaltung der Gesellschaft ist nicht das Wegbrechen der Mittelschicht, sondern die generelle Krise und der Verfall der bürgerlichen Gesellschaft. Angeheizt durch den kranken Glauben an ein ewiges wirtschaftliches Wachstum. Fast jeder Mensch glaubt an das Wachstum, weil es ihm vorgaukelt, er hätte die gleiche Chance wie die ewigen Gewinner. Hat er aber nicht. Und letztendlich spürt es die gesunde Seele, dass wirtschaftliches Wachstum (oder mehr Wohlstand) nicht das Gleiche ist wie persönliches Wachstum.“

      Das trifft es exakt, wobei m.E. das eine das andere bedingt und umgekehrt. Und ja, die Geschichte der Stadtverödung reicht weiter zurück als drei Jahrzehnte – doch vor dreissig Jahren habe ich noch in der Kleinstadt gewohnt, in der ich aufgewachsen bin und in der Erinnerung schien das Gefüge noch in Ordnung gewesen zu sein. Daher diese willkürliche Zeitangabe.

      Beste Grüße

      Der Kaffeehaussitzer

  8. Ja, eine traurige Entwicklung. Nur fehlt mir der Optimismus. Ich glaube nicht mehr, dass der Einzelne etwas tun kann gegen die Auswüchse des Neoliberalismus, der in Deutschland ausgerechnet unter einer SPD-Regierung (Schröder) mit der Agenda 2010 begonnen hat.

  9. Ich habe Deinen Bericht mit sehr viel Interesse gelesen, weil ich dieselben Beobachtungen mache. Es gibt noch einen anderen Punkt, der diese traurige Entwicklung fördert. Die: Geiz-ist-geil-Mentalität. Wir kaufen und konsumieren, was wenig kostet. Das fängt beim Brot im Supermarkt an und hört beim Billig-Essen bei einer Fast-Food-Kette auf. Und es ist den meisten egal, dass damit Arbeitsplätze in kleineren Betrieben verschwinden. Vielleicht sollten viele wieder lernen, dass Produkte und Dienstleistungen Geld kosten müssen, damit die Unternehmen rentabel arbeiten und die Mitarbeiter einen auskömmlichen Lohn haben. Und wer gut verdient, kann wieder sein Geld investieren. Außerdem gibt es noch einen zweiten Punkt: Viele sind bequem geworden, anstatt durch die Stadt zu laufen von Geschäft zu Geschäft, sitzt man eher zu Hause und klickt sich durch das Internet. Viele Grüße

    1. Vielen Dank für die Ergänzung. Das sind auf jeden Fall wichtige Aspekte, die genau diese Entwicklung von weiter befeuern und beschleunigen. Zu erwähnen wäre auch noch der ökologische Aspekt, denn es ist unter Umweltgesichtspunkten ja vollkommener Wahnsinn, sich jeden Kleinkram einzeln nach Hause liefern zu lassen.
      Da hängt noch viel mehr dran, aber das würde den Rahmen eines einzelnen Beitrags sprengen.
      Viele Grüße
      Uwe

  10. Genau das liegt das Problem: Heidegger und Adorno hätte es in diesem Satz, der das Wesen dieser Form des Kapitalismus bezeichnet, nicht schöner sagen können: Alles ist nur einen Mausklick entfernt.

    1. Die Sache ist ja die: Auch mein Lieblingsbuchladen ist nur einen Mausklick entfernt. Er hat leider nicht das Marketingbudget, um überall im Netz aufzutauchen, wo ich gerade etwas gesucht habe.

  11. „Eine persönliche Anmerkung zum Schluss: Als Literaturblogger würde ich niemals meine Buchtipps mit Links zu Amazon versehen. Da würde zwar etwas Geld zusammenkommen, aber gleichzeitig hätte ich das Gefühl, meine Seele verkauft zu haben.“

    Danke!!!

  12. Sehr sehr schöner Artikel. An der ein oder anderen Stelle der Analyse zur AfD sehe ich das etwas düsterer (schließlich hätte man als Abgehängter ja auch die Linke wählen können) aber den Kern teile ich gerne.
    Ich versehe meine Rezensionen mittlerweile mit Logo und Link von http://www.genialokal.de Das ist das bisher niedrigschwelligste Angebot für #SupportYourLocalBookstore gewesen, dass ich finden konnte.
    Apropos: es geht natürlich noch weit über Bücher hinaus. Wir können da noch reichlich mehr tun: http://www.buylocal.de/

    Also, vielen Dank und beste Grüße
    Sascha

    1. Warum wählen Frustrierte nicht links? Keine Ahnung, vielleicht ist der rechte Populismus eingängiger? Denn „die Politiker“ oder „die Flüchtlinge“ oder „die Lügenpresse“ sind greifbarere Sündenböcke als „der Kapitalismus“.
      Im Übrigen halte ich BuyLocal für eine der wichtigsten Initiativen, die es momentan gibt.

      Beste Grüße
      Uwe

      1. Ich denke, die neo-liberalen Manipulateure (bekanntlich gibt es Thinktanks, die über Jahrzehnte deren Strategien erarbeitet haben, nachzulesen ist das u.a. bei bei Naomi Klein, Philip Mirowski oder zu hören in den Vorträgen von Prof. Mausfeld) haben es geschafft, linke politische Positionen ein für alle Male mit der Bewertung „katastrophal für Wirtschaft und Wachstum“ zu verklammern. Dafür nutzen sie natürlich auch die anerkannten und am meisten genutzten Medien. Da hat eine regelrechte Gehirnwäsche stattgefunden und findet weiterhin statt.
        So wie die Linke den Massenmedien ihren Misserfolg verdankt, verdankt die AfD denselben ihren Erfolg, denn in dem Maße, wie sich gefühlt jede 2. Talksendung mit Flüchtlingen, Terror, Sicherheit beschäftigt hat, wurde die AfD von den vielen Verängstigten als einzige Partei wahrgenommen, die sich dieser Themen mit der gewünschten Rigorosität anzunehmen versprach. Anders ausgedrückt: Wenn nur noch AfD-Themen in den Mittelpunkt gestellt werden, dann bekommt die AfD mehr Aufmerksamkeit und mehr Stimmen.
        Im übrigen: Auch wenn es böse klingt, aber ich glaube, CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP profitieren geradezu vom Erfolg der AfD, lenkt er doch von den neo-liberalen Exzessen ab, mit denen diese Parteien unsere Gesellschaft zugrunde richten und lässt sie stattdessen plötzlich im heroischen Licht aufrechter Demokraten erscheinen.
        Viele Grüße
        Smilla Blum

  13. Interessant, dass du gerade das Beispiel Weilburg erwähnst. Ich bin jedes Jahr im Sommer dort anlässlich der Weilburger Schlosskonzerte. Eine kurze Zeit, in der dort tatsächlich mal Leben einzieht. Einmal war ich außerhalb der Saison abends dort und auch sehr erschrocken. Die Stadt war wie ausgestorben. Mangelnde Parkplätze werden immer wieder angeführt. Am Ende ist es, so wie du schreibst, unser aller Bequemlichkeit, die kleine und mittlere Städte veröden lassen. Weilburg ist da nur ein Beispiel für den ländlichen (mittelhessischen) Raum. Ich bin ganz deiner Meinung, die man nicht oft genug kundtun kann. Viele Grüße, Petra

    1. Als ich dieses pittoreske Städtchen von weitem gesehen habe, hätte ich auch nicht damit gerechnet, diese leerstehenden Läden und Restaurants zu sehen. Es ist auch nur im unteren Teil der Altstadt so ausgeprägt, aber es wirkt wie ein Leerstand-Tumor, der sich anschickt, sich weiter auszubreiten.
      Wie mag es wohl in Kleinstädten irgendwo im Westerwald, im Hunsrück, in Mecklenburg oder in der Uckermark aussehen?
      Viele Grüße
      Uwe

  14. Diesen Aufruf kann ich nur unterstützen. Ich habe Weilburg zwar deutlich weniger drastisch erlebt, aber ich habe auf meinen Radtouren häufig Orte gesehen, die kein Schloss haben, keine Schlosskonzerte, keinen Paddel-Tourismus und auch sonst keine besonderen Sehenswürdigkeiten oder Attraktionen. Dort gibt es dann kaum noch Geschäfte und Gaststätten, vielleicht gerade noch einmal eine Eisdiele oder einen Döner-Imbiss.
    Nicht einmal die Grundversorgung ist im Ort selbst gewährleistet. Man braucht ein Auto oder muss sich beliefern lassen. Wenn erst einmal alles ausgestorben ist, ist es zu spät. Solange es noch Einzelhandel gibt, sollte man sich unbedingt bemühen, ihn zu unterstützen. Ganz besonders gilt das für Buchhandlungen, die Orte der Kultur sind und auf uns als Kunden angewiesen sind.
    Mindestens eine gibt es immerhin auch in Weilburg. Im Übrigen bin ich angesichts der Beschreibung des Ortes nun auch etwas schockiert. Ich war in diesem Sommer sogar mehrmals dort und habe wohl einen oder zwei geschlossene Läden gesehen, aber nicht das Aussterben des Einzelhandels in diesem Ausmaß bemerkt. Allerdings habe ich mich nicht sehr weit vom Schloss und dem Marktplatz (mit mehreren Restaurants) fortbewegt. Es kann sein, dass die Situation in den weniger frequentierten Seitenstraßen und in anderen Ortsteilen sehr viel trauriger ist.
    Ich habe auf meinem Blog unter der Überschrift „Circle of Life“ auch von Weilburg und einem interessanten neuen Museum berichtet. Ausgestorben erschien mir die Stadt nicht (es waren jeweils Wochenenden), aber – wie gesagt – Weilburg hat ja auch noch gewisse Attraktionen zu bieten. Für andere kleinere Städte sieht es doch teilweise sehr viel schlechter aus.
    Auch wenn unsere Bestandsaufnahme im konkreten Fall vielleicht etwas unterschiedlich ausfällt, ist die Kernaussage auf jeden Fall richtig und findet meine volle Zustimmung.
    Beste Grüße
    Elisabeth

    1. Gerade weil Weilburg ein so schönes Städtchen ist, das wie ein perfektes barockes Ensemble daherkommt, war ich so schockiert. Es stimmt schon, auf der einen Seite vom Marktplatz gibt es zahlreiche Geschäfte und Restaurants. Nähert man sich aber dem Platz von der in Richtung Limburg gelegenen Seite der Stadt, dann sieht es dort aus wie beschrieben: Leerstand, aufgegebene Restaurants, die ein oder andere Döner-Bude. Und das war schon sehr ausgeprägt, betraf tatsächlich ganze Straßen und ist ein Vorgeschmack auf kommende Entwicklungen.
      Jedenfalls war es sehr auffallend und in Städten ohne Tourismus sieht es sicherlich noch ganz anders aus.
      Viele Grüße
      Uwe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert