Ein Thriller als Augenöffner

Sebastian Fitzek: Noah

Vor einiger Zeit hatte ich das Buch »Zehn Milliarden« gelesen und hier vorgestellt. Es thematisiert die Überbevölkerung der Erde, die irreparable Umwelt- und Ressourcenzerstörung und den unaufhaltsamen Weg in den Kollaps unserer Welt. Nach etwas mehr als 200 Seiten gut aufbereiteter, aber erschreckender Daten zieht der Autor eine verstörende Bilanz: »Ich habe einen der nüchternsten und klügsten Forscher, die mir jemals begegnet sind, einem jungen Kerl aus meinem Labor, der sich weiß Gott in diesen Dingen auskennt, die folgende Frage gestellt: Wenn er angesichts der Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, nur eine einzige Sache tun könnte, was wäre das? Was würde er tun? Wissen Sie was er geantwortet hat? ›Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht.‹«

Nicht zuletzt wegen dieses drastischen Schlusssatzes ist mir das Buch im Gedächtnis haften geblieben und deshalb bin ich sehr neugierig, wenn dieses Thema in einer Romanhandlung umgesetzt wird. So wie in »Noah« von Sebastian Fitzek.

Zudem wurde erst kürzlich über eine aktuelle Oxfam-Studie berichtet, derzufolge die 85 reichsten Menschen der Erde genauso viel Vermögen besitzen wie die 3,5 Milliarden Armen weltweit zusammen. Fünfundachtzig. Personen. Diese Superreichen sind gut vernetzt, politisch, wirtschaftlich, persönlich. Das reicht vom G8-Gipfel über die Treffen in Davos bis zu den informellen Bilderberg-Konferenzen. Man kennt sich.

Was aber wäre, wenn sich aus dieser elitären Gesellschaftsschicht heraus eine kleine Gruppe bilden würde, eine Gruppe, die im Geheimen agiert und auf eine radikale Art und Weise das Problem der Überbevölkerung unserer Erde lösen will? Denn die Welt platzt mit momentan 7.224.074.330 Menschen aus allen Nähten, eine Zahl, die gerade so auf meine Handfläche geschrieben passt. Und die Menschheit wächst schneller, als ich diese Worte schreiben kann.

Was wäre, wenn diese Gruppe plant, die Menschheit durch eine Epidemie drastisch zu reduzieren? Die Mitglieder sind extrem vermögend und extrem gut vernetzt, weltweit agierende Pharmaunternehmen und Medienkonzerne stehen unter ihrem Einfluss.

Was wäre, wenn alles vorbereitet ist und ein perfider Plan anzulaufen beginnt?

Das ist die Ausgangslage in »Noah«. Noah ist eine der Schlüsselfiguren der Gruppe. Aber das weiß er nicht. Er weiß auch nicht, ob Noah sein richtiger Name ist, aber dieses Wort war blutig in seine Handfläche geritzt, als er bewußtlos und angeschossen in einem stillgelegten Berliner U-Bahntunnel vom Obdachlosen Oscar gefunden wurde, der sich nun um ihn kümmert. Als es Noah nach einiger Zeit wieder besser geht, ziehen die beiden gemeinsam durch Berlin, leben auf der Straße, schlafen in U-Bahnhöfen, Obdachlosenunterkünften oder eben in dem Tunnel. Und Noah versucht, sich daran zu erinnern, was ihn bis zu diesem Punkt geführt hat. Doch plötzlich macht jemand Jagd auf ihn und langsam, ganz langsam schwirren Erinnerungsfetzen durch sein Gehirn. Bilder, wie er blutüberströmt in einem Zimmer auf dem Boden liegt. Bilder, die bruchstückhaft seine Flucht aus diesem Raum zeigen. Was war passiert? Und warum weiß er es nicht mehr?

Dann schwenkt der Autor immer wieder auf die Perspektive der Verfolger, und es ist nicht nur einer. Der Leser lernt weitere Akteure der Handlung kennen, mit der Zeit verknüpfen sich die Stränge und Personen zu einem immer dichteren Netz und das Perfide des Dezimierungsplanes wird klarer und klarer. Der allerdings auch einen doppelten Boden enthält, was wiederum die meisten der Mitverschwörer nicht ahnen.

Gleichzeitig führt uns Sebastian Fitzek in einen Slum in Manila, wo Alicia mit ihrem Sohn Jay und ihrem neugeborenen Kind Noel lebt. Sie gehören zu den Ärmsten der Armen auf unserer Erde, wohnen in einem Verschlag auf einer Müllkippe; der siebenjährige Jay versucht mit dem Sammeln von Wiederverwertbarem die Familie notdürftig über Wasser zu halten, während das nur wenige Wochen alte Baby kurz vor dem Verhungern ist.  Die Geschichte von Alicia und ihren Kindern ist eine Parallelhandlung, deren Trostlosigkeit den Leser bis ins Mark trifft. Besonders deshalb, weil es sich bei Alicia zwar um eine fiktive Romanfigur handelt, die geschilderten Lebensumstände aber keineswegs fiktiv sind. Diese Parallelhandlung begleitet uns über den ganzen Roman und sie gibt ihm eine zusätzliche Tiefe.

Denn auf der einen Seite ist »Noah« ein solider Thriller mit spannenden Verfolgungsjagden, Schießereien, überraschenden Wendungen und einer ausgeklügelten Verschwörungstheorie. Also das, was man von einem Fitzek-Roman erwartet.

Auf der anderen Seite aber überzeugt die Verbindung mit einem sehr ernsten Thema. Dabei geht es nicht nur um die Überbevölkerung, sondern um den Lebensstil der westlichen Welt, der vor allem anderen für den katastrophalen Zustand unserer Erde verantwortlich ist. In einer Szene erklärt ein Wissenschaftler ein besonders perverses Beispiel der Verantwortungslosigkeit: »Als in Deutschland vor Jahren das Wirtschaftswachstum zu sinken drohte, forderte die damalige Kanzlerin die Bevölkerung dazu auf, ihre noch fahrtüchtigen Autos in die Schrottpresse zu fahren. Bürger eines der reichsten Länder der Welt bekamen Geld ausgezahlt, eine sogenannte Abwrackprämie, und zwar dafür, dass sie Rohstoffe vernichteten, um mit dem Kauf eines neuen Autos weitere Rohstoffe zu verbrauchen, während in den ärmsten Ländern der Welt die Kinder verhungern, weil es an Sprit und Transportfahrzeugen für die Hilfsgüter fehlt.« 

Hebt das Buch jetzt den moralischen Zeigefinger? Nein. Na gut, ein bisschen. In erster Linie ist es wie gesagt ein spannender Thriller. Aber einer, der sehr, sehr nachdenklich macht. In einem sympathischen Nachwort schreibt der Autor selbst über seine Intention für dieses Buch. »Das Thema entspringt einem Ausdruck meiner eigenen, ganz persönlichen Ohnmacht. Ich kenne die Fakten, ich sehe die Probleme, und auch wenn ich weit davon entfernt bin, ein Kommunist zu sein, bin ich dennoch der Überzeugung, dass unser jetziges System so nicht länger funktionieren kann. Oder um es mit einer gern zitierten Redensart zu sagen: ›Wer glaubt, dass Wirtschaft auf Dauer wachsen kann, ist entweder verrückt oder Volkswirt‹. Ich kenne nicht die Lösungen für die dringlichsten Probleme unserer Zeit, die uns anscheinend immer schneller davonläuft. Ich weiß nur, dass sie gefunden werden müssen, und zwar möglichst bald. Und ich weiß, dass dass man Lösungen nur finden kann, wenn man die Augen öffnet.« 

Beim Augenöffnen könnte dieses Buch helfen. Ein Verschwörungsthriller, packend und aufrüttelnd zugleich. Natürlich kann kein einzelner Mensch den Lauf der Dinge ändern. Aber nur ein paar Drehungen an den Stellschrauben unseres Alltags können schon einiges bewirken, wenn sie jeder für sich vornimmt. Mit dem Fahrrad fahren, statt mit dem Auto. Nicht jeden Tag Fleisch essen. So gut es geht auf Flugreisen verzichten. Um Fast-Food-»Restaurants« einen großen Bogen machen. Und. Und. Und. Ich weiß, dass sagt sich alles so leicht. Doch wer einmal nachschauen möchte, wie viele Erden es für seinen persönlichen Lebensstil geben müsste, wenn dieser auf die ganze Menschheit übertragen würde, kann das unter footprint-deutschland.de überprüfen, auch ein Tipp aus dem Nachwort des Autors. Denn eines ist sicher: Dass dauerhaft alles so weitergehen kann wie bisher, ist schlicht und ergreifend nicht möglich.

Bei mir wären es übrigens 2.46 Erden.

Buchinformationen
Sebastian Fitzek, Noah
Bastei Lübbe
ISBN 978-3-404-17167-5 

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4 Antworten auf „Ein Thriller als Augenöffner“

  1. Moin Uwe,
    deine Rezension ist zwar schon ein paar Tage alt, hatte das Buch von Herrn Fitzek allerdings noch nicht gelesen und habs mir – nur weil ich es hier entdeckte habe – bestellt :-) Heute Abend gehts los. Ich freu mich schon es zu lesen

    1. In der Tat, das ist schon was her. Das Buch ist kein typischer Fitzek, aber wohl genau deshalb hat es mir so gut gefallen. Bin gespannt auf Deine Meinung.

  2. Deine Besprechungen sind wirklich immer eine Klasse für sich, weil nicht nur pure Inhaltsangabe und Bewertung, sondern mit viel Zusatzinformationen und persönlichen Erfahrungen versehen.
    Super. Weiter so. Und immer wieder: Danke.

    Neulich wollte ich mich auch mal an Noah wagen, allerdings per Hörbuch. Der Sprecher war allerdings grausig, weshalb ich es nach zwei Abschnittenb wieder abbrach. Das Buch wartet weiter geduldig im Regal. Stattdessen lese ich (auch auf deine Empfehlung) derzeit unter anderem den ersten Pekkala. Gefällt mir bisher ganz gut.

    1. Ich danke Dir ganz herzlich für dieses nette Feedback, das Lob und Ansporn gleichzeitig ist. Zumal ich schon wirklich oft durch Deinen Blog auf großartige Bücher gestoßen bin, die mir sonst vielleicht entgangen wären.

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