Ein fünfzehnjähriges Mädchen aus Meran in Südtirol schneidet sich die Haare kurz, besorgt sich Männerkleidung und zieht in den Krieg, um den Vater an der Front zu suchen. Dies ist die wahre Geschichte von Victoria Savs, erzählt von David Pfeifer in seinem Roman »Die Rote Wand«. Es ist das Jahr 1915 und die »Front« zieht sich quer durch die Dolomiten, über unzugängliche Bergspitzen, abgelegene Hochalmen, mitten durch unwirtliches Terrain. Hier stehen sich Österreicher und Italiener gegenüber. Und hier irgendwo ist Victoria Savs Vater stationiert, den das Mädchen finden möchte.
Das Mädchen – anders wird sie im Roman nie genannt. Das gibt der Handlung die leichte Anmutung eines Protokolls. Überhaupt bleibt die Sprache spröde, schon fast etwas kunstlos, was mich zu Beginn irritiert hat. Bis die Geschichte einen ganz eigenen Sog erzeugt, da genau diese Sprödigkeit die Sichtweise eines Mädchens aus einfachen Verhältnissen verdeutlicht. Und die Sichtweise aller betroffenen Bergsteiger, Bauern und Almhirten, die plötzlich Soldaten waren und gegen ihre Nachbarn Krieg führen mussten. Ihre Nachbarn, die italienischen Bergsteiger, Bauern und Almhirten, die genau so wie sie ihr Leben und ihren Broterwerb der rauen Bergwelt der Alpen abtrotzen mussten. Gerade die erfahrenen Bergsteiger kannten sich oftmals untereinander und sollten jetzt aufeinander schießen. Dazu kamen auf beiden Seiten unzählige Soldaten, die noch niemals einen Berg aus der Nähe gesehen hatten und nun mitten hinein in diese schon im Frieden lebensbedrohliche Landschaft geschickt wurden.
Wir folgen dem Mädchen von Sexten, einem Dorf am Rande der Dolomiten, das im Krieg völlig zerstört wurde, zum vorgeschobenen Posten auf einer Alm, erleben mit, wie mit Hilfe der Technik die Berge kriegstauglich gebaut werden sollen. Lasten-Seilbahnen, Telefonleitungen, Tunnel und Unterstände entstehen an den unmöglichsten Orten, tausende Soldaten sitzen in kleinsten Einheiten in schier unerreichbaren Posten. Bis ein Steinschlag, eine Lawine oder eine Kanonade der feindlichen Artillerie wieder alles zerstört. Krieg und Natur vermischen sich, eines so tödlich wie das andere. »Sie hat das Gefühl, dass es nicht der Feind ist, vor dem sie sich fürchten muss, sondern der Zufall.«
Gleichzeitig wird dadurch ganze Absurdität des Krieges deutlich. Das Erklimmen steilster Wände, bergsteigerische Höchstleistungen und das Überwintern in eisigen Höhen dienen lediglich dazu, sich gegenseitig umzubringen. »Harter Boden, harte, kalte Winde. Die Bäume markieren den Übergang von einer freundlichen Natur, die etwas zum Überleben bietet, zu einem Teil der Welt, in dem der Mensch nichts verloren hat, der ihn nicht einmal als Feind oder als Eindringling ansieht, sondern einfach als nicht existent. Zu klein, zu versorgungsbedürftig ist die menschliche Lebensform, um mehr als ein paar Stunden oder Tage oberhalb der Baumgrenze auszuhalten.«
Gipfel wechseln die Besitzer, Geschütze werden auseinandergebaut und über kaum gangbare Pfade in die Höhe geschafft, durch waghalsige Umgehungen sollen die gegnerischen Stellungen von unerwarteter Seite unter Beschuss genommen werden. Es ist ein ständiges Hin- und Her, ein Belauern, bei dem manchmal viele Tage nichts passiert. »Die Kampfhandlungen sind wieder einmal völlig zum Erliegen gekommen. Alle sind gleichermaßen vom Schnee eingeschlossen, der keinen Freund und keinen Feind kennt. Der einfach daliegt und alles erstickt.« Und trotzdem ist der Krieg zwischen den majestätischen Gipfeln ständig präsent. Im Zentrum der Handlung steht dabei das titelgebende Rotwandmassiv.
Das Mädchen bleibt als Mädchen unerkannt. Sie lernt eine ihr fremde Männerwelt kennen, erringt die Achtung ihrer Kameraden, schließt Freundschaften, sieht Freunde sterben. Manchmal ist sie sich nicht sicher, ob die anderen nicht doch merken, dass sie gar kein junger Mann ist, sondern eine inzwischen sechzehnjährige junge Frau, doch zwischen all den Entbehrungen, der Kälte, dem Tod und den ständigen Gefahren spielt dies keine Rolle mehr. »Sie hat die Geschichte der Zivilisation umgekehrt zurückgelegt. Von Meran mit seinen Grand Hotels, Theateraufführungen und feinen Kurgästen bis hierhin, vor eine Höhle, wo es nur noch ums Überleben geht.«
Das Mädchen verändert sich. Sie wird wie ihr Vater, als er von seinem ersten Kriegseinsatz an der galizischen Front zurückkehrte. Er hat damals nicht über das gesprochen, was er gesehen und erlebt hat, nur in seinen Augen erkannte sie, dass es Unaussprechliches gewesen sein musste. Dann zog er erneut in den Krieg und da ist sie nun, auf der Suche nach ihm. Mit inzwischen dem gleichen Blick in den Augen wie ihr Vater. Wird sie ihn finden? Den Wahnsinn des Gebirgskrieges irgendwie überstehen? Ihren Platz im Leben wieder finden? Manchmal erscheint ihr alles »wie die Bühne eines absurden Theaters. Ein nach hinten sanft auslaufender Fels, in dessen Schutz ein paar Menschen um ihr Überleben kämpfen. Nach vorne eine unbezwingbare Wand, bewehrt und bewacht von Männern, die sich als Soldaten verkleidet haben und dafür beten, dass es sie nicht erwischen möge. Und nur hundert Meter vor ihnen die als Feind verkleideten Männer, die genau dieselben Sorgen haben, nur in einer anderen Sprache. Sie sind nicht zu hören, nicht zu sehen, aber sie schießen mit der gleichen tödlichen Ahnungslosigkeit, mit der sie selbst ins Ungewisse zielen. Womöglich ist das tatsächlich eine Komödie für jemanden, der einen grausamen Sinn für Humor hat, denkt das Mädchen.«
Viel ist nicht bekannt über das wahre Leben der Victoria Savs außer ihrem Namen und den Eckdaten ihres Lebens. Deshalb ist das Mädchen im Roman eine Erfindung des Autors. Ebenso wie ihre Freunde und Kameraden. Dabei schafft es das Buch, uns eine Zeit nahezubringen, deren Überreste noch heute, ein Jahrhundert später, in den Südtiroler Dolomiten langsam verwittern. Es setzt allen sinnlosen Opfern dieser blutigen Jahre ein Denkmal und holt ein fünfzehnjähriges Mädchen aus dem Vergessen der Geschichte, das sich Haare kurz geschnitten hatte, Männerkleidung trug und in den Krieg gezogen war, um den Vater zu suchen.
Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.
Buchinformation
David Pfeifer, Die Rote Wand
Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-26961-3
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Ich werde mir den Titel gleich einmal notieren. Danke für diesen wundervollen Tipp und die wunderbare Besprechung. By the way: Ich habe heute den grandiosen Roman „Wir sehen uns dort oben“ zu Ende gelesen, über den Du bereits geschrieben hast. Wahrlich ein Meisterwerk, Besprechung folgt. Viele Grüße
Vielen Dank, es freut mich, dass ich Deine Neugier wecken konnte. Bin schon sehr gespannt, wie Dir das Buch gefallen wird.