Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. 

Das Buch startet mit einem Faustschlag: »Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren. Und die Dunstschwaden nähren die Illusion, dass es doch noch einen Ausweg aus dem Unglück gibt, vielleicht alles nur verschwommen ist. Plötzlich stellt man sich vor, dass gleich die Sonne durchbricht und das Bild zerstreut. Die Unschärfe verschwindet, und die Schäden erweisen als nicht so schlimm. (…) Leider gelingt der Sonne dieses Wunder schon seit Monaten nicht, und die Lagune wird immer nebliger. Hat der Einsturz womöglich mephitische Dünste freigesetzt, die so dicht sind, dass sie sich nicht vertreiben lassen? Oder hört die Lagune ganz einfach nicht auf, um ihre Stadt zu weinen: um Venedig.«

Das ist ein Buchbeginn, der sich tief ins Gedächtnis gräbt. Venedig existiert nicht mehr, übriggeblieben ist eine von halb verschütteten Kanälen durchzogene Trümmerlandschaft. Auf den nach diesem starken Einstieg folgenden Seiten fährt ein Mann mit seinem Motorboot durch die verlassene Ruinenstadt. Gemeinsam mit ihm blicken wir auf eine großflächige, nahezu vollkommene Zerstörung, auf eingestürzte Paläste, auf Schutthaufen im Canal Grande, auf leergeräumte Häuser, denen die Fassade fehlt, auf versunkene Mauerreste. Der Mann – Guido Malegatti – lässt sich langsam durch die Ruinen gleiten, denkt an die vielen Toten, an den Abend der Katastrophe. Und vor unseren Augen entsteht das Bild einer untergegangenen Stadt. Was war geschehen? Am Beispiel der Familie Malegatti erzählt Isabelle Autissier von den dramatischen Ereignissen; von den jahrelangen Entwicklungen, die letztendlich zu der Nacht führen werden, in der Venedig untergeht.

Guido, seine Frau Maria Alba und deren gerade volljährige Tochter Léa führen ein privilegiertes Leben. Guido stammt aus einfachen Verhältnissen, hat sich hochgearbeitet, sich einen Namen als Bauunternehmer und Entwickler für touristische Projekte gemacht – und damit sehr, sehr viel Geld verdient. Und ja, Venedig braucht zwar die Einnahmen durch den Tourismus, um nicht zu zerfallen. Doch gerade in den letzten Jahren hat diese Entwicklung so viel Fahrt aufgenommen, dass sie der Stadt mehr schadet als nützt. Guido sieht das nicht, kann es nicht sehen. Er ist der Macher, der versucht, so viel Geld aus allem herauszupressen, wie es nur möglich ist. Und sieht sich dabei noch als Fürsprecher der einfachen Menschen, die auf die Jobs angewiesen sind, die der Fremdenverkehr mit sich bringt. Dass die Identität der Stadt dabei verschwindet, dass alte Häuser zu Edelherbergen oder Airbnb-Quartieren umgewandelt werden und immer weniger Wohnraum zur Verfügung steht, dass die Umwelt durch die Touristenströme stark in Mitleidenschaft gezogen wird – das blendet er komplett aus. Bei den letzten Kommunalwahlen hat er sich politisch engagiert und wurde mit dem Posten des Wirtschaftsresorts belohnt. Ausgerechnet. Denn Guido Malegatti steht für ein System des Wirtschaftens, in dem keine Gedanken an ein Morgen verschwendet werden. 

Maria Alba stammt aus einer alteingesessenen venezianischen Familie, die in den letzten vier-, fünfhundert Jahren mehrere Dogen stellte und eng mit der Geschichte der Stadt verwoben ist. Eine Stadt, die sie über alles liebt, die Teil ihrer DNA ist. Doch dabei verkörpert sie ein Venedig, das nur noch aus Erinnerungen an eine große Vergangenheit existiert, ohne die Gegenwart zu begreifen oder sie mitzugestalten. Sie lebt in einer Phantasiewelt, verbringt viele Stunden in der Schiffschaukel auf der Dachterrasse mit ihrem spektakulären Ausblick, kurz: Sie hat sich vollkommen ins Private zurückgezogen, in dem es um gutes Essen für die Familie, Fragen der Wohnungseinrichtung und um oberflächliche Gespräche mit ihren reichen Freundinnen geht. Durch die Heirat mit ihr wurden dem neureichen Guido die Türen zur gehobenen Gesellschaft geöffnet – mit all ihren informellen Netzwerken und Kontakten.

Die Tochter Léa hat das Bewusstsein, Teil einer jahrhundertealten Geschichte zu sein, von ihrer Mutter geerbt. Und ja, auch sie liebt diese Stadt von ganzem Herzen, hat sie als Kind und Heranwachende in endlosen Streifzügen erkundet, kennt gefühlt jede Gasse, jede kleine Brücke, jedes Haus, jeden Stein, bewundert täglich aufs Neue die funkelnde Schönheit. Als junge Frau beginnt sie Architektur an der Universität Ca‘ Foscari zu studieren – und als hätte ihr jemand eine Binde von den Augen gerissen, erkennt sie, wie sehr vom Untergang bedroht ihr geliebtes Venedig, wie zerbrechlich und gefährdet die sie umgebende Schönheit ist. Es gibt für sie einen Schlüsselmoment in dem Roman, in dem eine einfache Camera Obscura und ein Gemälde des großen Meisters Canaletto eine wichtige Rolle spielen. 

Aus Entsetzen wird Wut und der Wunsch, Dinge zu verändern – Léa beginnt, sich als Umweltaktivistin zu engagieren und tritt eine Reise an, die sie weiter und weiter von ihrem Vater, von ihrer Familie entfernt. Es ist übrigens nicht so, dass Guido Venedig nicht lieben würde. Ganz im Gegenteil, ihm ist die Einzigartigkeit der Stadt mehr als bewusst. Nur möchte er sie mit so vielen Menschen wie möglich teilen, um dadurch den Wohlstand Venedigs (und seinen eigenen) zu mehren. Für ihn haben die Touristenströme die früheren Handelsströme ersetzt, die Jahrhunderte zuvor Venedig zu einem reichen Machtzentrum im Mittelmeerraum gemacht haben. Und alles andere wird man schon irgendwie in den Griff bekommen. 

»Guidos Theorie dreht sich ausschließlich um Waren und Personen. Doch es sind vor allem die Wasserströme, auf die sich die Stadt gründet. (…) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war etwas in dem Gleichgewicht zwischen Land und Meer zerbrochen, als Industrie und Profit lockten, als die Menschen vergaßen, dass die die Lagune ein empfindliches Lebewesen ist.«

Eine Familie also, bestehend aus einem Macher, einer phlegmatischen Träumerin und einer Aktivistin – und das inmitten einer Stadt, die nur im Einklang mit der Natur überleben kann, niemals gegen sie. Wird das komplexe System der Lagune zerstört, stirbt auch Venedig. Und Tag für Tag nähert sich die Stadt einem Punkt, nach dem es kein Zurück mehr geben wird – und das nicht nur im Roman. Es mag sein, dass dies auf eine fast zu plakative Weise symbolisch wirkt, aber es funktioniert. Auf kleinstem Raum entwickelt die Autorin ein Drama, das sich auf unsere ganze Welt übertragen lässt. Auf eine Welt, in der es zu viele Macher gibt, viel zu viele phlegmatische Menschen und in der es die Aktivisten trotz – oder vielleicht auch wegen – ihrer Wut nicht schaffen, die Phlegmatischen wachzurütteln. Bis irgendwann alles in Trümmern liegt.

In Isabelle Autisiers Roman ist dieses Irgendwann übrigens nicht in einer dystopischen Zukunft. Die Katastrophe, die Venedig verschwinden und die Famillie Malegatti zerbrechen lässt, ereignet sich nicht morgen oder übermorgen. Sondern genau jetzt. 

»Die Vorstellung ist umso unerträglicher, als das Szenario bereits im Voraus feststeht und man genau weiß, warum und was auf welche Weise zu tun wäre, und trotzdem niemand etwas tut oder nur so wenig. Sie weint. Solastagie quält sie – die Hilflosigkeit angesichts dessen, was verschwindet.«

Buchinformation
Isabelle Autissier, Acqua Alta
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig
mare Verlag
ISBN 978-3-86648-708-6

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Der Brief mit der Axt

Franz Kafkas Brief mit der Axt

Franz Kafkas Satz mit der Axt und dem Buch und dem gefrorenen Meer kennt wahrscheinlich jeder literaturinteressierte Mensch; er wurde so oft zitiert, dass er fast zu einem Gemeinplatz geworden ist. Leider, muss man sagen, denn es gibt kaum eine Formulierung, mit der sich die Macht der Literatur, des geschriebenen Wortes besser ausdrücken lässt. Besonders, wenn man sich nicht nur diesen einen Satz anschaut, sondern den gesamten Brief, aus dem er stammt. Der zwanzigjährige Franz Kafka berichtet darin von einem überwältigenden Leseerlebnis und der Abschnitt, in dem sich der Axt-Satz befindet, ist nur ein kleiner Teil davon. Es ist sehr leicht, diesen Brief online zu finden, eine schnelle Recherche genügt. Geschrieben wurde er von Kafka in Prag im Januar 1904 an seinen gleichaltrigen Schul- und Studienfreund Oskar Pollak, der zu dieser Zeit ein Semester pausierte. Hier ist er in Gänze. „Der Brief mit der Axt“ weiterlesen

Gestatten?* Larissa Reissner

Steffen Kopetzky: Damenopfer - das Leben von Larissa Reissner

Was für ein Leben! Vermutlich ist das der Gedanke, der mir beim Lesen des Romans »Damenopfer« am häufigsten durch den Kopf ging. Denn auch wenn es sich um ein fiktionales Werk und nicht um eine Biographie handelt, so erzählt Steffen Kopetzky dennoch eine wahre Geschichte. Die Geschichte eines Lebens. Eines kurzen Lebens zwar, das aber so spektakulär verlief, dass alleine schon die Eckdaten klingen wie ein Roman. Denn die 1926 verstorbene Larissa Reissner hatte viele Rollen inne in den knapp dreißig Jahren, die ihr gegeben waren. Die Tochter eines russischen Juristen mit deutschen Wurzeln glaubte fest daran, die Welt zum Besseren verändern zu können. Als Mitglied der Bolschewistischen Partei war sie in der russischen Oktober-Revolution aktiv, kämpfte während des russischen Bürgerkriegs in der Roten Armee und war Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie trug entscheidend zur Rückeroberung der Stadt Kasan bei; eine der Schlüsseloperationen für den endgültigen Sieg der Bolschewiki über die Weißgardisten. Aber Larissa Reissner focht nicht nur mit der Waffe: Sie war Schriftstellerin, verfasste Reportagen, Zeitungsartikel und Reiseberichte. Ständig unterwegs entwarf sie Pläne, um die Revolution in die Welt hinauszutragen, kannte zahllose Intellektuelle; Boris Pasternak und Leo Trotzki sprachen an ihrem Grab. Und das sind nur ein paar der biographischen Details dieses außergewöhnlichen Lebenslaufes, der sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch Steffen Kopetzky hat es geschafft: Mit seinem Roman holt er den Menschen hinter diesen Details aus dem Schatten der Geschichte und bringt uns Larissa Reissner so nahe, wie es fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod nur möglich ist. „Gestatten?* Larissa Reissner“ weiterlesen

Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr

Das Kafka-Jahr

Als ich zum ersten Mal etwas von Franz Kafka las, stand ich im Licht einer Straßenlaterne. Es ist lange her und muss im Herbst des Jahres 1990 gewesen sein, aber ich habe diesen Moment, diesen Abend nie vergessen. Vielleicht, weil dabei einiges zusammenkam. Es war kurz nach dem Ende meines Zivildienstes, und beim Start ins Leben war ich gleich in einer Sackgasse gestrandet. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, keine Idee, was die Zukunft bringen könnte, keine Perspektive. Ich wohnte zur Untermiete bei einer Kollegin; nicht ganz legal, denn laut Mietvertrag war dies nicht erlaubt – was dazu führte, dass ich immer schnell durch das Treppenhaus huschte und möglichst wenig zu Hause war. Falls man es unter diesen Umständen überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Der Zivildienst war gegen einen Job als Altenpflegehelfer eingetauscht worden, das Geld genügte, um jeden Abend auszugehen oder die freien Nachmittage in Cafés zu verbringen. Die nagende Unzufriedenheit wurde dabei durch ständiges Unterwegssein und viel zu wenig Schlaf mehr oder weniger erfolgreich übertüncht. Doch nach einer langjährigen Pause hatte ich einige Monate zuvor das Lesen wieder entdeckt – und in dieser Zeit wurde es mir zur Gewohnheit, immer ein Buch bei mir zu tragen. Eine Gewohnheit, die ich nie wieder abgelegt habe. „Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr“ weiterlesen

Mein Lesejahr 2023: Die besten Bücher

Mein Lesejahr 2023: Die besten Buecher

»Manche Menschen sind für die Bücher gemacht, und nur die Ahnungslosen glauben, es sei umgekehrt.« Dieser Satz stammt aus dem Roman »Die Bibliothek im Nebel« von Kai Meyer und er trifft es genau. Das Lesen und die Literatur sind für mich elementare Bestandteile des Lebens; sie geben mir Halt, Orientierung und neue Kraft in einer Welt, die vor unseren Augen zu zerbröseln scheint. Und wie jedes Jahr um diese Zeit stelle ich hier die fünfzehn Werke vor, die mir in den vergangenen zwölf Monaten besonders gut gefallen, die mich begeistert haben und die auch lange darüber hinaus im Gedächtnis bleiben werden. Bei diesem Rückblick sind nicht alle, aber die meisten Bücher tatsächlich im letzten Jahr erschienen, was bei meinen Lesegewohnheiten keinesfalls selbstverständlich ist. Es ist mir nie besonders wichtig, bei der Lektüreauswahl stets auf aktuellem Stand der Verlagsprogramme zu sein – eher im Gegenteil. Oft lagern Bücher jahrelang im Regal, bevor ich sie lese, bevor genau der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und bei diesen war dieser richtige Zeitpunkt da. Aber seht selbst, hier sind sie, die besten Bücher meines Lesejahres 2023. „Mein Lesejahr 2023: Die besten Bücher“ weiterlesen

Das Haben-Müssen-Gen

Alte Buecher

Einmal, es ist schon etwas her, war ich wochenlang damit beschäftigt, meine Bücherregale zu durchforsten, um auszusortieren. Nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, aber ab und zu ist es einfach nötig. Denn der zur Verfügung stehende Platz ist leider begrenzt, auch wenn er große Teile der Wohnfläche einnimmt. Daher gibt es drei Kriterien, nach denen ich die Bücher auswähle, mit denen ich mich umgeben möchte: Entweder hat mich ein Buch so begeistert oder beeindruckt, dass ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen – auch wenn das möglicherweise nie stattfinden wird. Oder ich verbinde ein Buch mit einem bestimmten Ereignis in meinem Leben, an das es mich erinnert; viele davon habe ich hier im Blog im Laufe der Jahre vorgestellt. Und natürlich gibt es die zahlreichen ungelesenen Bücher, die auf die Lektüre warten; dies ist mein Lesevorrat. Und im Prinzip kann man davon gar nicht genug haben, ich liebe es, vor den Regalen mit der Frage zu stehen: Was lese ich als nächstes? Aber es gibt das ein oder andere Buch, bei dem ich überlege, ob es mich nach zehn, fünfzehn Jahren im Regal tatsächlich noch so interessiert, dass ich es irgendwann lesen werde. Gleichzeitig ziehen Woche für Woche neue Bücher in mein Zuhause ein, manche Stapel – in den Regalen ist schon längst kein Platz mehr – schwanken bereits bedenklich. Daher müssen immer wieder Bücher weichen; was bleibt, ist irgendwann die Essenz eines Leserlebens. „Das Haben-Müssen-Gen“ weiterlesen

Als Trauermusik im Radio lief

Andreas Pflueger: Wie Sterben geht

Im Februar 2017 schrieb ich hier im Blog: »Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.« Diesen Einstieg würde ich am liebsten noch einmal verwenden, wieder für einen Roman von Andreas Pflüger; diesmal ist es – man ahnt es schon – »Wie Sterben geht«. Ein Agententhriller vom Feinsten, der gerade eine begeisterte Besprechung nach der anderen erhält. Der Vergleich mit John Le Carré ist regelmäßig zu lesen und auch ich dachte bei der Lektüre unweigerlich an den Großmeister des Spionageromans. Und ja, »Wie Sterben geht« hält diesem Vergleich locker stand, auch wenn Le Carrés Romane – zumindest diejenigen, die ich kenne – fast noch eine Spur düsterer sind. Und düster ist es bei Andreas Pflüger, denn die Handlung führt uns in die Zeit des Kalten Krieges, als sich die Nato und die Warschauer-Pakt-Staaten waffenstarrend gegenüberstanden, sich in einem bedrohlichen Patt belauerten, während hinter den Kulissen erbittert um das gekämpft wurde, wofür alle Geheimdienste dieser Welt bereit sind, über Leichen zu gehen. Um Informationen. „Als Trauermusik im Radio lief“ weiterlesen

Brief an den Vater

Necati Oeziri: Vatermal

Für die Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mir den Titel von Franz Kafkas »Brief an den Vater« geborgt; eines der bekanntesten Zeugnisse der Literaturgeschichte, in dem ein Autor mit der alles dominierenden Präsenz eines Familienpatriarchen abrechnet. Und auch wenn es vollkommen unterschiedliche Texte sind und nichts miteinander zu tun haben, finde ich den Titel auch hier passend. Denn Arda Kaya, der Protagonist des Romans »Vatermal« von Necati Öziri, schreibt ebenfalls an seinen Vater und prangert dessen Verhalten als verhängnisvoll für das Leben seiner Familie an. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied, denn Ardas Vater dominiert nicht mit seiner Präsenz, sondern hat mit seinem unvermittelten Weggang eine riesige Lücke gerissen. Doch gerade diese Leerstelle prägt das Leben von ihm, seiner Schwester Aylin und ihrer Mutter Ümran auf eine alles erdrückende Weise. 

Der Ich-Erzähler Arda liegt im Krankenhaus. Er ist jung, noch zu Beginn seines Studiums, aber es ist sehr ungewiss, ob er die Klinik lebend verlassen wird. Die Diagnose lautet Autoimmunhepatitis, sein eigenes Immunsystem greift die Organe an und niemand weiß, ob und wie dies zu stoppen ist. Ein junger Mensch, dessen Leben gerade gestartet war, steht bereits vor dem Ende. Und er nutzt dies, um alles aufzuschreiben, was er Metin, seinem Vater, gerne gesagt hätte. Seinem Vater, den er nie kennengelernt, der ihn durch seinen Weggang im Stich gelassen hat. Und gleich auf den ersten Seiten fällt ein starker, ein entscheidender Satz: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.«  „Brief an den Vater“ weiterlesen

Welch vortrefflich Werk

Thomas Willmann: Der einserne Marquis

Das Warten hat sich gelohnt. Der 2010 erschienene Roman »Das finstere Tal« von Thomas Willmann hatte mich seinerzeit vollkommen begeistert und seitdem war ich gespannt auf das nächste Buch des Autors. »Er schreibt daran« – so hieß es seitens des Liebeskind-Verlags Jahr für Jahr, wenn ich auf den Buchmessen danach fragte. Das war schon fast eine Art liebgewonnenes Ritual, bis es in diesem September endlich soweit war und tatsächlich ein neuer Roman von Thomas Willmann in den Buchhandlungen auftauchte. »Der eiserne Marquis« lautet der Titel, über zwölf Jahre lang hat er daran geschrieben, über zwölf Jahre lang haben seine Leser darauf gewartet. Und auch wenn ich mich wiederhole: jeder einzelne Tag davon hat sich gelohnt. 

»Der eiserne Marquis« führt uns in die Mitte des 18. Jahrhunderts, hinein in eine Zeit, in der sich große Umbrüche andeuteten. Absolutistische Monarchen herrschten mit eiserner Hand über ihre Länder, während die Epoche der Aufklärung den klerikalen Mief beiseite fegte und den Weg frei machte für neues Denken. Noch beinahe mittelalterliche Strukturen prägten das Leben der Landbevölkerung, während sich gleichzeitig eine Blütezeit der Wissenschaft anbahnte, sich der Beginn der Industrialisierung bemerkbar machte, der Fortschrittsglaube ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war. Kriege begannen globale Ausmaße anzunehmen – der Siebenjährige Krieg zwischen 1756 und 1763 wurde nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Nordamerika und Indien ausgetragen. Und über alldem lag der erste, noch vorsichtige, aber spürbare Dufthauch einer großen Revolution. Stillstand und Bewegung in Richtung einer ungewissen Zukunft – das sind die beiden Pole jener Epoche, die sie moderner erscheinen lassen, als es uns gemeinhin bewusst ist. „Welch vortrefflich Werk“ weiterlesen

Nie wieder ist jetzt

Nie wieder ist jetzt.

In den letzten Wochen war es sehr ruhig hier im Blog Kaffeehaussitzer. Ein einziger Beitrag ist im Oktober erschienen; dies auch nur, weil ich ihn schon weitgehend vorbereitet hatte. Dabei ist es nicht so, dass mir die Ideen ausgegangen sind, eher im Gegenteil – es warten noch dutzende gelesene Bücher darauf, vorgestellt zu werden. Nein, es sind die furchtbaren Ereignisse des 7. Oktober 2023 und deren Folgen, die meine Gedanken so beschäftigt haben, dass ich den Blogalltag nicht einfach fortsetzen konnte; so, als sei alles wie immer. Es sind Gedanken voller Entsetzen, voller Wut und voller Fassungslosigkeit, und seit jenem verheerenden Tag suche ich die Worte, um ihnen hier Ausdruck zu verleihen. „Nie wieder ist jetzt“ weiterlesen

George Grosz trifft Agatha Christie

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat

Wenn ich einen Blogbeitrag beginne, um ein Buch vorzustellen, habe ich in der Regel bereits eine grobe Gliederung im Kopf. Oftmals wird der Text dann doch ganz anders als gedacht, doch zumindest der Einstieg fällt mir nie schwer. Dieses Mal ist es anders. Einen Abend lang habe ich versucht, die ersten Sätze zu schreiben, aber die Worte wollten nicht so wie ich. Jetzt also der nächste Versuch. Es geht um das Buch »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher, auf dessen Umschlag das Wort »Kriminalroman« steht. Und ja, auf den ersten Blick ist es eine beinahe klassische Whodunit-Geschichte. Doch beim zweiten Blick gibt es darin noch eine ganze Menge mehr zu entdecken – und dies herauszuarbeiten, ohne zu viel von der Handlung zu verraten, ist nicht ganz einfach. Beginnen wir erst einmal mit der zeitlichen Einordnung.  „George Grosz trifft Agatha Christie“ weiterlesen

Literaturreise in die Berge

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023

Das Unterwegssein ist mir ebenso wichtig wie das Lesen und die Beschäftigung mit Literatur – es sind essentielle Bestandteile meines Lebens. Und manchmal trifft beides zusammen: Am 21. und 22. September 2023 war ich eingeladen, als Gast bei der Vergabe des Franz-Tumler-Literaturpreises dabei zu sein. Die Reise führte nach Laas in Südtirol; eine Bahnfahrt von Köln über München, Bozen und Meran. Dann weiter. Die Züge wurden immer kleiner, schließlich ging es hoch hinauf in das Vinschgautal; Laas liegt etwa auf halber Strecke zwischen Meran und dem Reschenpass. Ich hatte im vorletzten Blogbeitrag die Tour unter dem Titel »Mit fünf Büchern in die Marmorstadt« angekündigt, aber mit etwa 4.100 Einwohnern hat der Ort eher dörflichen Charakter – doch der Marmor ist tatsächlich das prägende Element. Direkt am Bahnhof ein riesiges Depot aufgereihter Marmorklötze zur Weiterverarbeitung, die Fußwege im Dorfkern sind mit Marmor gepflastert, der Dorfplatz sowieso, es gibt einen Brunnen aus Marmor, sogar die Litfaßsäule im Zentrum trägt eine marmorne Überdachung. In 1.500 Meter Höhe wird er abgebaut; unter Tage, es sind riesige Höhlen mit weißen Wänden. Seit hunderten von Jahren gibt es die Marmorminen, der Abbau verleiht dem Dorf in Verbindung mit der allgegenwärtigen Vinschgauer Obstwirtschaft ein ganz eigenes Flair. Es ist ein besonderer Ort für eine ganz besondere Veranstaltung. „Literaturreise in die Berge“ weiterlesen

Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches. „Lesend durch die Cafés der Stadt“ weiterlesen

Mit fünf Büchern in die Marmorstadt

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023: Die Nominierten

Eine Reise steht bevor, auf die ich mich schon sehr freue und die Überschrift deutet an, um was es gehen wird: Mit fünf Büchern in die Marmorstadt. Die Marmorstadt ist Laas in Südtirol. Der Marmor, das »weiße Gold«, das dort seit der Antike abgebaut wird, findet weltweit Verwendung; Beispiele sind das Queen-Victoria-Denkmal in London oder die U-Bahn-Station World Trade Center in New York

Die fünf Bücher, die mich auf der Reise begleiten, sind: »Drama« von Arad Dabiri, »oft manchmal nie« von Cornelia Hülmbauer, »Sommer in Odessa« von Irina Kilimnik, »Alpha Bravo Charlie« von Tine Melzer und »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes« von Magdalena Saiger. Es sind fünf Debütromane und sie alle sind nominiert für den Franz-Tumler-Literaturpreis, der alle zwei Jahre in Laas vergeben wird. So auch diesen September und ich habe das große Vergnügen, als Gast dabei zu sein. In diesem Beitrag erzähle ich vorab über die fünf Bücher, die Jury und den Preis. Nach der Verleihung wird es einen Bericht darüber geben – mit Photos natürlich. „Mit fünf Büchern in die Marmorstadt“ weiterlesen

#dbp23: Ein Longlist-Gespräch

Deutscher Buchpreis 2023: Die Longlist

Am 22. August war es soweit: Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 wurde veröffentlicht. Es ist immer wieder spannend, welche zwanzig Titel dort aufgeführt werden; die diesjährige Liste hatte ein paar Überraschungen auf Lager und bietet einen gelungenen Querschnitt durch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Und sie ist wie jedes Jahr das Ergebnis einer intensiven Juryarbeit; ein Ergebnis, in das die unterschiedlichen Lesevorlieben der sieben Mitglieder eingeflossen sind. Die diesjährige Jury besteht aus Shila Behjat (Journalistin und Publizistin), Heinz Drügh (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Melanie Mühl (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Lisa Schumacher (Inhaberin Steinmetz’sche Buchhandlung in Offenbach), Katharina Teutsch (freie Kritikerin), Florian Valerius (Buchblogger, Gegenlicht Buchhandlung Trier) und Matthias Weichelt (Zeitschrift Sinn und Form).

Zwei Tage nach der Veröffentlichung war ich unterwegs nach Hamburg, denn die Buchhandlung stories! veranstaltete einen Longlist-Abend. Zusammen mit Frank Menden und Simone Finkenwirth sollte ich über die ausgewählten Titel reden, plaudern, diskutieren. „#dbp23: Ein Longlist-Gespräch“ weiterlesen