Vaters Land

Pierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern

Am plötzlichen und spurlosen Verschwinden seines Vaters droht ein Heranwachsender zu zerbrechen. Über zwanzig Jahre später macht er sich auf die Suche nach dem Verschwundenen, um sein zerrüttetes Leben in den Griff zu bekommen. So könnte man das Buch »Am Ende bleiben die Zedern« von Pierre Jarawan mit ein paar dürren Worten zusammenfassen. Doch das würde diesem Roman mit seiner poetischen Sprache und einer bewegenden und dramatischen Geschichte in keinster Weise gerecht werden. Ganz und gar nicht. „Vaters Land“ weiterlesen

Völker, seht die Signale

The Soviet Photobook 1920 - 1941

Der im Steidl Verlag erschienene, monumentale Band »The Soviet Photobook 1920 – 1941« ist ein Photobuch. Über Photobücher. Über sehr besondere und sehr seltene Photobücher. Mikhail Karasik hat in jahrelanger mühsamer Kleinarbeit in russischen Archiven nach Photobänden aus der Zeit zwischen 1920 und 1941 gesucht, einer Epoche, in der die Photographie in die Propagandamaschinerie der Sowjetunion fest eingebunden war, in der aber auch Meisterwerke der Photokunst und der Gestaltung entstanden sind. Diese Bücher sind heute zu großen Teilen kaum noch bekannt und nur sehr schwer zu erhalten; es ist das Verdienst der Herausgeber mit dem vorliegenden Prachtband einen spannenden Einblick in diese Epoche der Photographie zu geben.

Durch die Bilderserie am Schluss dieses Beitrags kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Ein Photoalbum zu einem Photobuch über Photobücher.

The Soviet Photobook 1920 - 1941

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Mit T.C. zurück ins Leseleben

T.C. Boyle: Wassermusik und Grün ist die Hoffnung

Heute kommt es mir kaum vorstellbar vor, aber es gab einmal eine Zeit, in der ich jahrelang fast kein einziges Buch gelesen habe. In der ich beinahe die Freude am Lesen verloren hätte. Es ist schon ein Weilchen her, aber ich habe nie vergessen, welchem Autor ich es verdanke, aus dieser buchlosen Zeit wieder herausgefunden zu haben. Es war T.C. Boyle mit seinen wunderbaren Werken »Wassermusik« und »Grün ist die Hoffnung«. 2014 und 2015 sind beide Bücher neu aufgelegt worden, in neuer Übersetzung und in wunderschöner Ausstattung. Ein guter Grund, sich wieder an längst vergangene Jahre zu erinnern. „Mit T.C. zurück ins Leseleben“ weiterlesen

Ein Vorhang der Wirklichkeit

Philip K. Dick: The Man in the High Castle - Das Orakel vom Berge

Jetzt bin ich tatsächlich über Amazon auf ein Buch aufmerksam geworden. Ausgerechnet. Wer schon öfters einmal hier war, der weiß, dass die Firma Amazon mit ihren rabiaten Geschäftspraktiken auf Kaffeehaussitzer Hausverbot hat. Gleichwohl fand ich die Nachricht interessant, dass der Gemischtwarenkonzern aus Seattle jetzt als Film- bzw. Serienproduzent agiert, um sich im Streaminggeschäft Marktanteile zu sichern. Eines der ersten großen und offensiv beworbenen Serienprojekte ist »The Man in the High Castle«, die filmische Adaption des 1962 erschienenen, gleichnamigen Romans von Philip K. Dick. Eines Klassikers der phantastischen Literatur, der seit vielen Jahren in deutscher Übersetzung als »Das Orakel vom Berge« vorliegt. Und von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte.

Um was geht es? Es ist die Beschreibung, wie unsere Welt aussehen würde, wenn Nazi-Deutschland und Japan gemeinsam mit Italien den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Eine düstere Was-wäre-wenn-Dystopie, die einen komplett anderen Verlauf der Weltgeschichte schildert. „Ein Vorhang der Wirklichkeit“ weiterlesen

Dokument der Hilflosigkeit

Frank Schirrmacher: Technologischer Totalitarismus - Eine Debatte

Flüchtlingskrise, ein Europa, das auseinanderzubrechen droht, ein neuer Kalter Krieg am Horizont – die Nachrichtenlage ist zur Zeit so bedrückend wie schon lange nicht mehr. Dabei gerät ein Thema völlig aus dem Fokus; ein Thema, das aber eine ebenso gewaltige Sprengkraft entfalten wird wie die genannten. Nur viel stiller und leiser. Denn wenn auch zur Zeit kaum darüber geredet oder berichtet wird, hat sich an der Brisanz der Datenüberwachung, des Datenmissbrauchs und der Datenspionage nichts geändert; sichere Regelungen sind weiter entfernt sind denn je. Es lohnt sich umso mehr ein Blick in das Buch »Technologischer Totalitarismus«, herausgegeben von Frank Schirrmacher. In dem 2014 gestarteten Leseprojekt Schöne neue, paranoide Welt hier auf Kaffeehaussitzer nimmt dieser Sammelband eine Schlüsselrolle ein, denn er vermittelt einen guten Eindruck über die Ratlosigkeit, mit der wir dem digitalen Umbau unserer Welt oftmals gegenüberstehen. „Dokument der Hilflosigkeit“ weiterlesen

Woodrell-Lesetag in Berlin

Daniel Woodrell: Winters Knochen

Eigentlich sollte dies ein Text über die Ozarks-Trilogie von Daniel Woodrell werden. »Der Tod von Sweet Mister« und »Winters Knochen« standen schon lange ungelesen im Regal, das Erscheinen der Neuübersetzung von »Tomatenrot« war der perfekte Anlass, alle drei Bände hintereinander zu lesen. Dabei wurde klar: Die Idee mit der Gesamtbesprechung wird nicht funktionieren. Zwar sind »Der Tod von Sweet Mister« und »Tomatenrot« beides lesenswerte Bücher; schon alleine durch Woodrells unnachahmliche Art die Trostlosigkeit gescheiterter Leben zu ästhetisieren.

Aber »Winters Knochen« ragt aus diesen drei Werken so hervor, ist ein so sprachgewaltiges Buch, ein so durch und durch gelungener und mitreißender Roman, dass es nun vor allem um ihn gehen wird. Zumal mich die Geschichte einen Tag lang in Berliner Cafés begleitet hat. Ein Kaffeehaus-Lesetag, so wie schon einmal mit einem Buch von ihm in Köln. „Woodrell-Lesetag in Berlin“ weiterlesen

Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*

Eine Zeitreise als Utopie: Aus der Rubrik Textbausteine

Die Welt ist aus den Fugen, so scheint es. An manchen Tagen möchte man sie schon nach dem ersten, morgendlichen Blick auf die Nachrichtenlage gerne eintauschen gegen eine andere. Oder zumindest gegen eine andere Zeit. Denn gleichzeitig habe ich seit vielen Jahren das Gefühl, im falschen Zeitalter zu leben, so als wäre ich nur durch Zufall im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geboren. Habe ich schon einmal gelebt? Der Glaube an Reinkarnation ist für mich esoterischer Unsinn, aber darum geht es nicht. Es ist eher ein diffuses Gefühl, das sich manchmal seinen Weg bahnt; vielleicht erklärt sich auch so mein Gruseln vor moderner Stadtplanung, mein völliges Desinteresse an Sportveranstaltungen oder auch meine Begeisterung für die einsamen Landschaften Caspar David Friedrichs, in die ich mich stundenlang vertiefen könnte. Die große Retrospektive dieses Meisters 2006 im Museum Folkwang war für mich der Höhepunkt eines Vierteljahrhunderts Ausstellungsbesuche.

Irgendwann hatte ich einmal einen Text entdeckt, der das alles viel besser in Worte zu fassen vermag, als ich es jemals könnte. Hier ist er. „Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Das Vermächtnis des Suchenden

Henning Mankell: Treibsand - Was es heißt ein Mensch zu sein

Am 5. Oktober 2015 ist der schwedische Schriftsteller Henning Mankell an Krebs gestorben. Er war ein Autor, dessen Werk ich nicht nur wegen seiner Romane rund um Kommissar Wallander sehr geschätzt habe. Aber dies hier soll kein Nachruf werden, sondern eine Buchvorstellung. Denn nur kurz vor seinem Tod erschien »Treibsand – Was es heißt ein Mensch zu sein«, seine letzte Veröffentlichung. Sein Abschied.

In »Treibsand« schreibt Mankell über seine Krebserkrankung, über den Schock der Diagnose, über Höhen und Tiefen, Behandlungserfolge, ein Leben zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Todesangst und Trotz. »Ich kann keinen Punkt setzen, weder durch einen tödlichen Ausgang, noch durch eine vollständige Genesung. Ich befinde mich mitten im Prozess. Ein endgültiges Fazit gibt es nicht. Aber das habe ich durchgemacht und erlebt. Die Erzählung hat kein Ende. Sie findet statt. Hiervon handelt dieses Buch. Von meinem Leben. Dem, das war, und dem, das ist.« Er erzählt uns sein Leben, lässt uns teilhaben an Ereignissen, die ihn geprägt, an Beobachtungen, die ihn sein ganzes Leben nicht mehr losgelassen haben und an seinen Gedanken über Identität und das Menschsein. Jedes Kapitel besteht nur aus wenigen Seiten, es sind aneinandergereihte Gedanken, Erlebnisse, ein Plauderton, manchmal schon beinahe anekdotenhaft, aber bei aller Leichtigkeit seiner Sprache geprägt von einem tiefen Ernst. Gedanken, die tief hineinreichen in die menschliche Seele und Spuren eines Lebens beschreiben, das kein einfaches, kein unkompliziertes war. Aber ein intensives. „Das Vermächtnis des Suchenden“ weiterlesen

Bestseller eines Massenmörders

Sven Felix Kellerhoff: »Mein Kampf« - Geschichte eines deutschen Buches

Im Sommer des Jahres 2000 reiste ich die kroatische Adriaküste entlang, von Zadar bis nach Dubrovnik. Der Krieg auf dem Balkan war noch nicht lange vorbei, immer wieder sah man ausgebrannte Häuser oder ganze Stadtlandschaften mit komplett neu gedeckten Dächern. Zwei weitere Dinge fielen mir auf: Es gab kaum Buchhandlungen, aber eine Menge mobile Buchverkaufsstände. Und fast auf jedem Stand war neben allen möglichen Romanen die kroatische Version von Hitlers »Mein Kampf« zu finden. Offensichtlich gab es dafür eine Nachfrage. Das wirkte auf mich sehr befremdlich; mutmaßlich waren es Raubdrucke, da die offiziellen Abdruckrechte seit 1945 unter Verschluss gehalten wurden. Bis vor kurzem, als Anfang 2016 die Urheberrechte nach 70 Jahren frei geworden sind. Die Diskussion, wie jetzt mit diesem giftigen Erbe umgegangen werden soll, läuft momentan auf Hochtouren. Ein guter Zeitpunkt, um sich einmal näher damit zu beschäftigen und deshalb habe ich Sven Felix Kellerhoffs »›Mein Kampf‹ – Geschichte eines deutschen Buches« gelesen. Jedem, der sich für diese Thematik interessiert, kann ich – soviel sei vorab gesagt – Kellerhofs Buch unbedingt empfehlen. „Bestseller eines Massenmörders“ weiterlesen

Reise durch die Zwischenwelt

Stephan Abarbanell: Morgenland

Die Suche nach einer verschwundenen Person, ein Roadtrip durch eine Welt im Umbruch und jede Menge zeitgeschichtlicher Hintergrund: Der Klappentext zu »Morgenland« von Stephan Abarbanell versprach ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und genau das ist es dann auch gewesen. Ein spannender Roman, der uns eine Epoche in der Geschichte zweier Länder näher bringt, in der das eine noch gar nicht existierte und das andere in Trümmern lag. Israel und Deutschland. „Reise durch die Zwischenwelt“ weiterlesen