Ein BRD-Lesebuch

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969

Was lese ich da eigentlich gerade? Eine Frage, die ich mir bei der Lektüre von Frank Witzels Roman immer wieder stelle. »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« ist ein sperriges Buch. Anstrengend. Fast unlesbar. Und gleichzeitig berauschend, ein wahrer Sprachmarathon, bei dem man seine Lesekräfte einteilen muss. Spätestens nach den Besprechungen von intellectures und lustauflesen.de bin ich mit Respekt an die Sache herangegangen, aber jetzt befinde ich mich mittendrin in diesem Sprachmonster und habe keine Ahnung, wie man dieses Werk in einer Besprechung darstellen, wie man die unglaubliche sprachliche Faszination gebührend würdigen könnte.

Wer eine Art Roman rund um die Rote Armee Fraktion erwartet, wird bitter enttäuscht werden. Ebenso wird es Lesern gehen, die sich auf eine klar strukturierte Handlung freuen. Das Buch hat beides nicht zu bieten. Dafür viel mehr als das, nämlich eine Reise tief, tief hinein in das Unterbewusstsein der alten Bundesrepublik Deutschland, ein Land und eine Lebensweise die genau so im Dunst der Geschichte verschwunden sind, wie die Deutschen Demokratischen Pendants. Die Jahre des RAF-Terrors stehen exemplarisch für die alte Bundesrepublik, haben sie doch wie kaum eine andere Zeit den gesellschaftlichen Wandel in Westdeutschland geprägt.

Doch um was geht es eigentlich? Das ist nicht einfach zusammenzufassen. Irgendwie um alles, was die Zeit der ausgehenden 60-er und beginnenden 70-er Jahre ausmachte, mit all ihrem spießigen Mief, dem angepassten Kleinbürgertum als staatstragende Verhaltensnorm. Gesehen aus der Warte eines Heranwachsenden, irgendwo in einer rheinhessischen Kleinstadt, dessen reale Erlebnisse sich mit Tagträumen, Fieberdelirien, weiter und weiter gesponnenen Gedankenläufen zu einer einzigartigen Textcollage verbinden, in die hinein man als Leser erst einmal einen Weg finden muss, eine Expedition ins Unbekannte. Bei der man viele, viele bekannte Namen und Marken der eigenen Jugend wiedertrifft, zumindest wenn man vor 1975 geboren wurde.

Lesetagebuch: Eine Annäherung

Bei mir dauert diese Textexpedition nun schon ein paar Tage an und ich habe beschlossen, diesmal eine Art Lesetagebuch zu führen. Als Versuch einer Annäherung.

Lesetag 1: Ich atme tief durch und schlage das Buch auf. 802 Seiten warten auf mich. Neugierig beginne ich zu lesen, es geht um eine Verfolgungsjagd mit einem offensichtlich gestohlenen Auto. Spielzeugpistolen. Eine Teenagerclique, die sich Rote Armee Fraktion nennt. Ich verstehe kein Wort, die Perspektive des Ich-Erzählers erschließt sich mir nicht. Sind es reale Erlebnisse? Träume? Keine Ahnung. Aber von Anfang an reißt einen die Sprache mit, fantastisch konstruierte Sätze, die nicht von A nach B sondern von A nach irgendwohin führen. Wohin? Das gilt es herauszufinden. Die ersten Andeutungen fallen, dass der Erzähler in psychiatrischer Behandlung ist. Wahrscheinlich.

Lesetag 2: Weitere Personen kommen hinzu, eine Kleinstadt entsteht vor den Augen des Lesers, der Vater des Ich-Erzählers ist ein Spiegelfabrikant, offenbar einer der Honoratioren des Ortes. Erste, aber vollkommen unzusammenhängende Details über das Leben des Erzählers fließen vorüber. Ein geplantes Attentat wird angedeutet, auf wen und von wem bleibt offen, die Andeutungen lassen wohl eher auf einen Traum schließen. Oder doch nicht? Sehr präsent ist der Einfluss der Kirche auf das tägliche Leben. Die Grundstimmung der Erzählung (ist es wirklich eine Erzählung?) empfinde ich als düster, aber dabei so mitreißend formuliert, dass man nicht aufhören kann zu lesen.

Lesetag 3: Es wird immer klarer, dass der Ich-Erzähler ein ernsthaftes Problem mit der Realität haben muss, aber sie genau deshalb viel klarer sehen kann. Ich stoße auf eine Stelle, die mich vollkommen an Kafka erinnert, den großen Meister der unterschwelligen Ängste: »Manchmal führt dieser Flur in den Keller und weiter in unterirdische Gänge, meistens allerdings steige ich die Treppen hoch, immer auf der Suche nach einem Durchgang zum richtigen Treppenhaus und damit der Wohnung meiner Eltern. Dieses zweite Treppenhaus ist vollgestellt mit Möbeln und Gerümpel, an denen vorbei sich ein unaufhörlicher Menschenstrom von oben nach unten und von unten nach oben schiebt. Diese Menschen sind arm, besser, sie sind wie aus Filmen, in denen Arme dargestellt werden … Unentwegt steigen sie auf und ab, ohne je in einer der Wohnungstüren zu verschwinden, Wohnungstüren, die vielleicht nur Attrappen sind, weshalb ich auch keinen Durchgang zum richtigen Treppenhaus finden kann.« 

Lesetag 4: Langsam haben sich erste Strukturen einer Handlung herausgeschält, erste Textfragmente verknüpfen sich miteinander, die zu Beginn vollkommen im luftleeren Raum zu stehen schienen. Ach ja, auch die RAF kam inzwischen vor, als aus der heutigen Zeit heraus in einem Rückblick berichtet wurde, wie der Erzähler als Erwachsener einmal an einer Art Terrorismusforschungs-Kongress in Hamburg teilnahm, der sich als RAF-Gedenkveranstaltung ewig Gestriger herausstellte. Mit unschönen Folgen für den Protagonisten. Doch dies scheint ein eigener Erzählstrang zu werden, jetzt steht wieder die Kindheit in der Kleinstadt im Vordergrund, Ängste und Neugierde. Und aus allen Poren der Handlung trieft die frömmelnde Spießigkeit der den Teenager umgebenden Gesellschaft. Das Buch fasziniert mich zusehends mehr, aber ich merke, dass es mir schwerfällt, meine Faszination in Worte zu fassen. Es ist wie ein buntes, detailverliebtes Kaleidoskop einer Gesellschaft, deren Sitten und Gebräuche noch weit in mein eigenes Aufwachsen hineingereicht haben.

Lesetag 5: Über weite Strecken herrscht Klarheit in der Handlung. Der Protagonist wird mit dreizehneinhalb das erste Mal wegen psychischer Probleme in ein Sanatorium eingeliefert. In seinen Gesprächen mit Pfarrer Fleischmann und dem Psychologen Dr. Märklin erfahren wir nicht nur viel über sein Aufwachsen und eine familiäre Tragödie. Vielmehr wird im Streit zwischen den beiden Herren – alleine die Namen weisen auf unüberwindbare Gegensätze hin – der konservativ-autoritäre Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche deutlich, den es gegen die moderne Wissenschaft zu verteidigen gilt. Wir befinden uns im Jahr 1969, es ist von heute aus gesehen also gar nicht so lange her – wie ich als ein in diesem Jahr Geborener finde. Dann verliert sich die Handlung wieder in Phantastereien, bruchstückhaft, aber anknüpfend an vorherige Wachträume. An einem scheinbar neben der Handlung stehenden Beispiel wird deutlich, wei sehr alte Nazis im öffentlichen Leben der BRD präsent waren; auch das trug mit zu dem repressiven Klima bei, das letztendlich die Studentenproteste auslöste, aus denen später die RAF hervorging.

Und dann blitzte noch ein Wort, ein kurzer Satz auf. Ein Wort, das ich fast schon vergessen hatte und das mich blitzartig wieder zurück in die Siebziger katapultierte: »Einmal Fasson bitte« heißt es beim Friseur. Genau das hatte mein Vater immer gesagt, als er mich im Frisursalon ablieferte, in dem es immer penetrant nach Haarwasser roch. »Einmal Fasson bitte. Hinten kurz, Ohren frei.« Dann ging er solange in die Kneipe nebenan, um ein Bier zu trinken und ein paar Reval zu rauchen. Ich sehe, ich schweife ab. Aber was soll’s, das macht der Erzähler ja auch. Und nach dem Friseur fühlten sich meine Haare genauso viel zu kurz an, wie bei ihm. Gibt es den Ausdruck »Fasson« heute eigentlich noch?

Lesetag 6: Stilistisch gibt es wieder viel unterschiedliches zu entdecken. Der Ich-Erzähler wird zwar aus dem Sanatorium entlassen, beginnt sich aber zunehmend Gedanken über seine geistige Störung zu machen, die nur er erkennen kann. Eine Entführung, ein Mord, die DDR scheint darin verwickelt, eine Räuberpistole, Traum, Wunschdenken und Wirklichkeit verschmelzen miteinander. Untrennbar für Leser, aber auch für den Protagonisten. Im Spiel, im Traum muss er mit seinen Freunden untertauchen, ein Name für die Gruppe wird gesucht, wie wäre es mit »Rote Armee Fraktion«? Wir befinden uns im Jahr 1969, ein Jahr später wird dieser Name von anderen nochmals erfunden. Diesmal aber nicht im Spiel, im Traum, sondern in einer blutigen Realität. Wird das noch zu Verstrickungen führen? Der Titel des Buches lässt solches erahnen.

Und wie ein konstantes Hintergrundrauschen treffen wir immer wieder auf die spießig-piefig-autoritäre bundesrepublikanische Realität dieser Zeit, gegen die als Teenager vielleicht nur die Flucht in einen Traum geholfen hat. Dazwischen gibt es ohne Übergang einen seitenlangen Exkurs, wie die Wortschöpfungen oder Wortnutzungen der Nationalsozialisten die deutsche Sprache vergiftet haben. Bis heute. Sehr unterhaltsam geschrieben, aber bitterernst.

Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurück zu kommen: Was lese ich da eigentlich gerade? Auf jeden Fall ein beeindruckendes Stück Literatur, das unzählige Bilder im Kopf entstehen lässt.

Lesetag 7: Bilder. Bilder. Bilder. Es ist unglaublich, was dieses Buch für Assoziationen und Erinnerungen weckt. Lese das Wort »Manchesterhose« und sehe wieder meine Oma und meine Eltern vor mir, die damit die grässlichen Cordhosen bezeichneten, die wir tragen mussten. Jeans waren verpönt. Neidisch und respektvoll schaute ich damals auf die »Oberstufler«, die langhaarig und lässig mit ihren ausgewaschenen und geflickten Jeans in der Raucherecke standen. Die »Oberstufler« – dieser Begriff wird ausführlich erläutert. Das Aufbegehren, das Revoluzzerhafte, das Kokettieren mit dem Untergrund. Die Aufbruchstimmung der 68er beginnt in die rheinhessische Provinz zu schwappen. Und die Leere zu füllen, die unser Ich-Erzähler in sich spürt, gefangen in lieblosen familiären Verhältnissen, umgeben von einer autoritär-freudlosen Gesellschaft. »Deshalb auch beobachtet der Teenager die Oberstufler, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass es nur darum gehen kann, in der Pause dazustehen und zu rauchen«. Ein verunsicherter, unglücklicher, zweifelnder Jugendlicher versucht die Welt zu verstehen, in die er hineingeboren wurde. Es folgt eine Schlüsselstelle des gesamten Buches: »... einen Grund zu finden, eine Begründung für das alles, da es das, was es vorgab zu sein, unmöglich sein konnte. Denn das wusste er. Denn darin bestand sein einziges Wissen und seine Sicherheit. Und nur deshalb wurde er müde. Und dann eben erschien die RAF. Der Teenager hätte sie sich nicht ausdenken können, und dennoch hat er sie erfunden. … Und in diesem Moment verstand der Teenager, dass endlich jemand sein Unwissen über die Welt kundtat und sein Unwissen einfach aussprach, ohne sich zu schämen. Und das allein reichte dem Teenager. Und es reichte ihm selbst dann noch, als er merkte, dass er sich getäuscht hatte.« 

Danach driften die Gedanken des Teenagers wieder ab, verlieren sich in zusammenhanglosen Sätzen und es wird für ein Kapitel lang recht anstrengend. Habe mir erlaubt, dort ein paar Seiten zu überspringen.

Lesetag 8: Streng genommen ist das hier gar kein Lesetag, aber Frank Witzel hat mit diesem Buch den Deutschen Buchpreis 2015 gewonnen. Ein absoluter Überraschungssieg, der mich sehr gefreut hat. Ich bin jetzt etwa bei der Hälfte und hatte einige Zeit pausiert, um noch andere für den Buchpreis nominierte Bücher zu lesen, aber jetzt wird es bald mit frischem Elan weitergehen!

Lesetag 9: Demnächst hier.

Das Lesen geht weiter!

Nachtrag, Ende Februar 2016: Inzwischen sind ein Jahr und fünf Monate seit dem letzten Lesetag vergangen. Ob das noch was wird mit dem Buch und mir? Ich weiß es noch nicht…

Irgendwann …

Nachtrag, Anfang Juli 2017: Das Buch ist irgendwann vom Stapel aktueller Lektüren ins Bücherregal gewandert. Irgendwann lese ich es weiter…

Ob das noch was wird?

Nachtrag, Januar 2021: Inzwischen hatte ich das halb gelesene Buch schon ein paar Mal in der Hand. Allerdings nicht zum Weiterlesen, sondern als es darum ging, Bücher auszusortieren, um Regalplatz freizumachen. Bisher ist es jedes Mal dann doch wieder an seinen Platz auf einem der oberen Regalbretter zurückgewandert und schaut vorwurfsvoll auch mich herunter. 

Darüber schrieb ich auf Twitter: 

Und erhielt eine perfekt passende Antwort – ein Zitat von Frank Witzel:

Buchinformation
Frank Witzel, Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969
Verlag Matthes & Seitz
ISBN 978-3-95757-077-2  

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Buchpreisblogger lang
Dieses Buch wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert.
Die Buchpreisblogger haben das Auswahlverfahren begleitet.

2 Antworten auf „Ein BRD-Lesebuch“

  1. Lieber Kaffeehaussitzer,

    dieses Lesetagebuch, also die Art, sich dem Text zu nähern, gefällt mir sehr. So kann man sehen, wie die Lektüre sich entwickelt und sozusagen beobachtend mit einsteigen. Ich habe Witzel auf der Leipziger Buchmesse aus seinem Roman vorlesen gehört – und war gleichermaßen fasziniert und überfordert. Danke für dieses gemächlichere Annäherungstempo!

    Beste Grüße, Malu

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