Am frühen Morgen des 12. September 2001 war ich auf dem Weg zum nächstgelegenen Zeitungskiosk, um zwei, drei Tageszeitungen zu kaufen. Nicht, um sie zu lesen, sondern um sie als zeitgeschichtliche Dokumente aufzubewahren. Denn es war vollkommen klar, dass der Tag zuvor alles verändern würde. Als die beiden Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center gekracht waren, als Manhattan in einer riesigen Staub- und Rauchwolke versank, als tausende von Menschen starben, als all dies live über unzählige Bildschirme auf der ganzen Welt flimmerte – da hörte die Welt, die wir bisher kannten, auf zu existieren. Die Bilder haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und auch nach zwanzig Jahren lösen sie beim Betrachten Entsetzen aus. In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich viel über diesen Schicksalstag gelesen – aber noch nie ein Buch wie »Und auf einmal diese Stille« von Garrett M. Graff. Das uns so nahe an die Geschehnisse heranführt, wie es für Außenstehende möglich ist. Der Untertitel schickt es bereits voraus: »Die Oral History des 11. September«. „9/11: Der Tag, der alles veränderte“ weiterlesen
Keiner kommt hier lebend raus
Der Begriff »Noir« dürfte allen Literaturinteressierten bekannt sein, aber was genau verbirgt sich dahinter? Für diese Stilrichtung gibt es keine allgemeingültige Definition; vor einiger Zeit tastete sich die Journalistin Sonja Hartl in ihrem Essay »Was ist Noir?« an die Thematik heran. Unter anderem heißt es darin: »Die Düsterheit der Existenz, das Erkennen von Moral bzw. deren Abwesenheit und die Einsicht, dass es keine Erlösung – kein glückliches Ende – gibt, machen somit den Noir aus. … Aus dieser zugrunde liegenden Weltsicht lassen sich Themen und Handlungselemente ableiten. Oft geht es um die zerstörerische Kraft der Macht, die Bedeutungslosigkeit und Absurdität der Existenz, die Korrumpierung des öffentlichen Lebens, um Unordnung, Missbehagen, Unzufriedenheit. Die Protagonisten sind häufig Einzelgänger und soziale Außenseiter. Sogar wenn die Hauptfigur gut ist, ist sie zynisch und glaubt, dass die Gesellschaft korrupt sei, sie aber der Gerechtigkeit Genüge tun kann. Extreme sind die Norm – und weder das Gute noch die Gerechtigkeit werden zwangsläufig siegen.« Zwar muss ein Noir-Roman nicht unbedingt ein Kriminalroman sein, aber dieses Genre bietet sich natürlich geradezu an. Daher ist es kein Zufall, dass Sonja Hartls Essay im Blog Polar-Noir veröffentlicht wurde, dem Verlagsblog des Polar-Verlags; eines Verlags, der sich auf grandios-düstere Kriminalromane spezialisiert hat. Und das Buch »Flucht« von Benjamin Whitmer ist ein gutes Beispiel für die literarische Qualität des Verlagsprogramms: Noir vom Feinsten. „Keiner kommt hier lebend raus“ weiterlesen
Majestätische Hoffnungslosigkeit
Diejenigen, die schon länger in diesem Blog mitlesen, wissen, dass ich ein Faible habe für eher düstere Romane, deren Protagonisten ihrem Leben verloren gegangen sind. Getriebene, Einsame, Suchende – das sind meine literarischen Helden. Dieses Entwurzelte oder dieses Gefühl, komplett auf sich alleine zurückgeworfen zu sein, sind derart existenzielle Situationen, dass sie jene Romanfiguren zu Sinnbildern des Lebens an sich machen. Sie regen zum Nachdenken an, zur Beschäftigung mit den Gedanken, woher wir kommen, wohin wir gehen und was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist – und die viel schneller vorbei sein wird, als wir es uns in jungen Jahren vorstellen können. »In der Ferne« von Hernan Diaz ist daher ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und ist dabei etwas sehr Besonderes, denn noch nie habe ich einen Text gelesen, in dem die geschilderte Einsamkeit so überwältigend präsent war, wie in diesem. „Majestätische Hoffnungslosigkeit“ weiterlesen
Der Krieg, die Lügen und die Politik
»Propaganda (von lateinisch propagare ›weiter ausbreiten, verbreiten‹) bezeichnet in seiner modernen Bedeutung die zielgerichteten Versuche, politische Meinungen oder öffentliche Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und das Verhalten in eine erwünschte Richtung zu lenken.« So definiert Wikipedia den Begriff und genau darum geht es im Roman »Propaganda« von Steffen Kopetzky: Um das Beeinflussen von Meinungen in Kriegszeiten. Um das Schönreden, Verschleiern und Vertuschen. Um das Lügen. Und John Glueck, der Held der Geschichte, ist einer dieser Menschen, die genau damit befasst sind. „Der Krieg, die Lügen und die Politik“ weiterlesen
Zur anderen Seite der Welt
Im Roman »Äquator« erzählt Antonin Varenne die Geschichte eines Mannes auf der Flucht vor sich selbst: Pete Ferguson ist ein Getriebener, ein steckbrieflich Gesuchter, der sich im Nebraska des Jahres 1871 auf den Weg in Richtung Äquator macht. Denn dort im tropischen Nirgendwo, so glaubt er, wird er sein Leben neu beginnen können. Varenne hat bereits mit »Die sieben Leben des Arthur Bowman« den Abenteuerroman stilistisch in unsere Zeit geholt. Mit »Äquator« gelingt ihm dies erneut. „Zur anderen Seite der Welt“ weiterlesen
Kensington Avenue, Philadelphia
Lesen ist Reisen im Kopf – dieser Satz ist vollkommen überstrapaziert, aber vor allem ist er eines: wahr. Und manchmal führen einen diese Reisen in Gegenden, in die man im echten Leben eher nicht kommen würde. So wie etwa nach Kensington im Roman »Long Bright River« von Liz Moore, einem Stadtteil Philadelphias, der allerdings mit seinem edlen Namensvetter in London nichts gemein hat. Denn Philadelphias Kensington ist einer der größten Drogen-Hotspots im Osten der USA und ein Viertel, das geprägt ist von Drogenhandel, Kriminalität, Straßenprostituion, Obdachlosigkeit, leerstehenden Industriebauten, Abbruchhäusern, zugemüllten Brachflächen, Perspektivlosigkeit und kaputten Menschen. Und einer Menge Drogentoten, Jahr für Jahr. Dazwischen leben diejenigen, die schon immer dort wohnen, die es sich nicht leisten können, wegzuziehen. Oder es auch nicht wollen. Die sich irgendwie arrangieren, durchschlagen, kleine Geschäfte betreiben, Nagelstudios, Handy-Läden, Mini-Märkte, Pfandhäuser, Diner oder einfache Cafés und auf ein besseres Morgen hoffen. Und zwischen dem Elend auf der Straße blinzelt die Gentrifizierung durch die Abgase und den Staub, denn die Mieten sind billig, ziehen die ersten jungen Leute mit Geld an, die gerne urbane Bohème spielen, »ernst, reich, naiv«. Hippe Imbisse, Craft-Bier-Kneipen oder schicke Cafés sind in den letzten Jahren im Viertel aufgetaucht; mit Preisen, die sich die Alteingesessenen kaum leisten können. „Kensington Avenue, Philadelphia“ weiterlesen
Die Reise ins Nirgendwo
Der lange Weg nach Westen gehört zu den Gründungsmythen der USA. Die Bilder dazu in unseren Köpfen verdanken wir Hollywoods Traumfabriken: Planwagenkolonnen, die durch eine endlose Prärie ziehen, hoffnungsvolle Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Die harte Wirklichkeit sah anders aus, denn abgesehen davon, dass die Besiedlung des Westens einherging mit der gewaltsamen Vertreibung der indigenen Bevölkerung, waren es keine heldenhaften Pioniere, die Wagen an Wagen in Richtung Abendröte zogen. Sondern Familien, die nichts zu verlieren hatten, die aufgebrochen waren, um der Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen; Gücksritter waren dabei, die alles auf eine Karte setzten, Entwurzelte, aber auch Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren und eine zweite Chance suchten. Und längst nicht alle überstanden die monatelange Reise durch eine raue Natur, die lebensbedrohlich werden konnte. Die Opfer forderte und manchmal für furchtbare Tragödien verantwortlich war. Von einer dieser Tragödien erzählt die Autorin Alma Katsu in ihrem Roman »The Hunger« – mit dem vielsagenden Untertitel »Die letzte Reise«. „Die Reise ins Nirgendwo“ weiterlesen
»Fahrenheit 451«: Ein Interview zur Neuübersetzung
Der Dystopie-Klassiker »Fahrenheit 451« von Ray Bradbury wurde von Peter Torberg neu übersetzt. Entstanden ist dabei ein mitreißend erzählter Roman mit einer bildgewaltigen Sprache – ganz im Sinne des Autors, der dieses Buch seinerzeit in nur neun Tagen niederschrieb; seine Aufgewühltheit beim Verfassen des Textes ist in der Neuübertragung deutlich spürbar. Überhaupt verdanke ich der Übersetzungsleistung Peter Torbergs etliche großartige Leseerlebnisse; als Beispiele seien »Winters Knochen« von Daniel Woodrell, »Bitter Wash Road« von Gary Disher oder »Einsame Tiere« von Bruce Holbert genannt. Vor einiger Zeit hatten wir uns auf der Frankfurter Buchmesse auf einen Kaffee getroffen und ein Interview verabredet. Nun bot die Neuübersetzung von »Fahrenheit 451« einen guten Anlass, ihm Fragen zu seiner Tätigkeit zu stellen. „»Fahrenheit 451«: Ein Interview zur Neuübersetzung“ weiterlesen
Acht Generationen, zwei Kontinente
Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Sklaverei. Egal wann oder wo auf der Welt, stets wurden Gefangene als Arbeitskräfte eingesetzt, die nicht viel kosteten und jederzeit ersetzt werden konnten. Doch der massive Sklavenhandel des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit seinen Millionen von Verschleppten hatte noch einmal ganz andere Dimensionen: Er prägte gesellschaftlich und politisch den afrikanischen und die beiden amerikanischen Kontinente bis heute – egal, ob es sich um strukturellen Rassismus oder das blutige Erbe europäischer Kolonialherrschaft handelt. In ihrem Roman »Heimkehren« erzählt Yaa Gyasi eine von diesen Entwicklungen geprägte Familiengeschichte über acht Generationen, die auf beiden Seiten des Atlantiks angesiedelt ist. „Acht Generationen, zwei Kontinente“ weiterlesen
Schreiben, um zu leben
Der Roman »Writers & Lovers« von Lily King beginnt mit einem starken ersten Satz: »Ich verbiete mir strikt, schon am Morgen an Geld zu denken.« Schon hat man als Leser eine Person vor Augen, die vollkommen mit dem Rücken zur Wand steht. Diese Person, diese Ich-Erzählerin ist Casey, die einen ganzen Sack voll heftiger Probleme mit sich trägt; ihr einziger Trost, ihre einzige Hoffnung, ihr einziges Verlangen ist das Schreiben. »Ich schreibe, weil sich ohne das Schreiben alles noch trostloser anfühlt.« Casey ist Autorin, 31 Jahre alt, pleite, Halbwaise mit einem gebrochenen Herzen und gelegentlichen Angstattacken, und sie schreibt seit sechs Jahren an ihrem ersten Roman. „Schreiben, um zu leben“ weiterlesen










