In den Strudeln einer sterbenden Welt

Nelio Biedermann: Lázár

Am 27. August 2025 hörte ich zum ersten Mal von dem Buch. An diesem Tag erschien in der ZEIT eine Besprechung des Romans »Lázár« von Nelio Biedermann. »Ein großartiges und größenwahnsinniges Werk« urteilte der Rezensent Adam Soboczynski – und ich kann mich nicht erinnern, jemals solch eine begeisterte, geradezu hymnische Buchvorstellung in einem Feuilletonartikel gelesen zu haben. Und kurz danach war das Buch omnipräsent: Überall in der Presse, in zahlreichen Blogs und stapelweise in jeder Buchhandlung, das markante Buchcover war nirgends zu übersehen. Im Verlauf der Wochen vor der Frankfurter Buchmesse wurde ich mehrfach und von den unterschiedlichsten Menschen gefragt: »Und? Hast Du schon ›Lázár‹ gelesen?« Ich neige dazu, dass mich solche Hypes eher abschrecken, einige der hochgelobten Romane der letzten Jahre stehen noch ungelesen im Regal. Nicht, weil ich meinen Lesegeschmack für irgendwie außergewöhnlich halte, sondern weil ich dann jedes Mal das Gefühl habe, schon vorab so viel über ein Buch gehört zu haben, dass ich es gar nicht selbst lesen muss. In diesem Fall aber war ich wirklich neugierig geworden und in der Woche nach der Buchmesse verbrachte ich einen Nachmittag mit »Lázár«, saß lesend am Fenster, während der Regen dagegen prasselte. Und was soll ich sagen? Das Buch entwickelt sofort einen solchen Sog, dass ich vollkommen abgetaucht war und verzaubert von einer wahrlich außergewöhnlichen Sprache. 

Nelio Biedermann erzählt die Geschichte einer Welt, die verschwindet; die sich erst aufzulösen beginnt, deren Strukturen zerbröseln und deren Reste dann, Jahre später, in einem Strudel aus Gewalt untergehen. Es ist die Geschichte des alten Europas. Es ist die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und es ist die Geschichte der Familie Lázár, die in dieser sterbenden Welt verloren geht.

Das Buch beginnt im Januar 1900. Die Lázárs sind ein altes ungarisches Adelsgeschlecht; das Schloss, in dem die Familie lebt, liegt inmitten eines dunklen, undurchdringlichen Waldes, irgendwo im Süden Ungarns, am Rand des riesigen österreichisch-ungarischen Vielvölkerreiches. Für die Bewohner des abgeschiedenen Schlosses fühlt es sich an wie der Rand der bekannten Welt, wie ein Leben am Rand der Geschichte. Nachrichten über aktuelle Ereignisse dringen nur zeitversetzt zu ihnen durch – doch auch sie werden ihren Auswirkungen nicht entgehen können. 

»Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie. Und auf ihrem Weg durch dieses alte Reich, das von einem ebenso alten Kaiser regiert wurde, auf ihrer spiralförmigen Reise durch die Felder und Wälder und Städte, hinab zu den zukünftigen Knochen, hinein in die blutroten Tiefen dieses jungen Jahrhunderts, mieden die umherstreifenden Jahre auch das Schloss der Familie von Lázár nicht.« 

Währenddessen haben die Familienmitglieder mit ihren eigenen Dramen und Verwerfungen zu tun, mit Selbsttötung, mit Wahnvorstellungen, mit einem Verschwinden im düsteren Wald. Im Verfall der Familie spiegelt sich der Verfall der Donaumonarchie, während bei beiden die Fassaden noch notdürftig aufrecht erhalten werden. Bis sich 1914 alles zu ändern beginnt. 

»Das Kriegsgeflüster, das über die Jahre immer lauter geworden war, das sich wie ein Lauffeuer über den Globus verbreitet und von einem Krieg gekündet hatte, der scheinbar mehr Helden als der Trojanische hervorbringen sollte, hatte es nicht durch den dichten Wald geschafft, der das Schloss umgab. Im Innern seiner Mauern lebte man noch immer in einer Zeit, in der ein Krieg undenkbar, das Ende der Monarchie unvorstellbar war.«

Nur 328 Seiten benötigt Nelio Biedermann, um darin ein ganzes Familienepos unterzubringen. Die drei Generationen der Familie Lázár erleben zwei Weltkriege, zwei Diktaturen, zwei zusammenbrechende Systeme, erleben Umbrüche, Krisen, Gewalt, Zerstörung, Verfolgung, Verlust und Flucht, gehören zu den Tätern und zu den Opfern – und das in nicht einmal sechzig Jahren; die Handlung endet kurz nach dem ungarischen Volksaufstand 1956. Und dies alles schildert er mit einer erzählerischen Eleganz, die ich so oft vermisse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die in vielen Fällen geprägt ist von einer alles erdrückenden Schwere. Nicht so in diesem Buch: Es sind harte Themen, es geht um eine brutale und gnadenlose Epoche und doch vermittelt der Text bei aller Komplexität eine Luftigkeit voller Poesie, die ihn zu einem ganz besonderen Lesegenuss macht. Nicht zu vergessen jene in der deutschsprachigen Literatur selten gewordene, kaum wahrnehmbare, hauchzarte Prise Humor, die die poetische Eleganz einer Erzählung noch unterstreicht. Vielleicht trägt all dies dazu bei, dass ich am Ende der 328 Seiten das Gefühl hatte, während eines langen, verregneten Nachmittags ein Zwölfhundertseitenwerk gelesen zu haben, ohne es zu merken. Nur an ein paar wenigen Stellen schießt der Autor ein bisschen über das Ziel hinaus, wenn er etwas zu offensichtlich Klassiker-Reminiszenzen einbaut; etwa wenn es auf Seite 162 über einen der Protagonisten heißt: »Lange Zeit war er früh schlafen gegangen.« Aber das sind Marginalien, das Proust-Zitat hat sich schon längst verselbständigt, wie etwa in Sergio Leones Film »Es war einmal in Amerika«; es ist aber auch einfach zu gut. 

Die beiden bereits eingefügten Textstellen mögen schon einen kleinen Einblick und Vorgeschmack gegeben haben. Hier ist eine weitere, die ich sehr mochte: 

»Die Augustabende waren blau. Sie legten sich in die Felder wie müde Landstreicher, ließen sich im Schlosspark nieder, unter der Trauerweide am Ufer des kleinen Sees, ruhten sich auf den Betten, den Sofas, den dicken Teppichen und in den Sesseln aus, als hätten sie eine lange Reise hinter sich. Als kämen sie von weit her, aus einem fernen, einsamen Reich. Einsamer noch als die untergehende Monarchie.«

Das ist eine Sprache wie Musik, wie eine Komposition, die sofort Bilder im Kopf entstehen lässt. Es mag sein, dass sich literarisches Schreiben lernen lässt, in Kursen oder Studiengängen. Doch es wie das Lernen eines Instruments: Man kann darin gut werden oder auch sehr gut. Doch nur ganz wenige Menschen haben das eine Quäntchen mehr, das Talent, das sie zu Virtuosen ihrer Kunst macht. Und ihre Texte zu außergewöhnlich guter Literatur. Daher finde ich es etwas befremdlich, wenn nicht sogar übergriffig, dass bei vielen Buchbesprechungen darauf hingewiesen wird, dass der Autor von »Lázár« erst zweiundzwanzig Jahre alt sei – als würde das eine Rolle spielen. So schreiben zu können wie Nelio Biedermann ist eine Gabe und ich hoffe, dass wir noch viel lesen werden von ihm. Ich freue mich schon darauf.

Buchinformation
Nelio Biedermann, Lázár
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0226-1

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Das Buch der Stunde

Jens Bisky: Die Entscheidung

Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky. „Das Buch der Stunde“ weiterlesen

Das geht doch schnell vorbei

Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich

Es gibt sie, diese besonderen Bücher, die einen das Leben lang begleiten. Die fester Bestandteil der eigenen Biographie und mit wertvollen Erinnerungen verbunden sind. Die man unzählige Male gelesen hat. Die vergilbt, zerfleddert und mit losen Seiten im Regal stehen – und von denen man sich nie, niemals und unter keinen Umständen trennen würde. Jahre- und jahrzehntelang erinnern sie einen an längst vergangene, prägende Zeiten – und wenn man sie eines Tages wieder einmal in die Hand nimmt, sie nach einer langen Pause erneut liest, dann ist das wie eine Zeitschleuse zurück in die eigene Vergangenheit. Und es kann geschehen, dass eine Textstelle, die man damals zwar schon angestrichen hat, beim Wiederlesen vollkommen anders wirkt. Intensiver. Wuchtiger. Einen frösteln lässt. Und man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt. So geschehen bei dem Roman »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir. Und das schreibe ich jetzt auf. „Das geht doch schnell vorbei“ weiterlesen

Das Abschiedsbuch

Paul Auster: Baumgartner

Ein seltsamer Zufall, falls es so etwas gibt. Am 30. April 2024 stand ich spätabends vor dem Bücherregal und überlegte, was ich als nächstes lesen möchte. Es ist eines meiner liebsten Rituale, ich schaue die Buchrücken entlang, lese hier kurz hinein und dort, bei manchen Büchern ist es sofort klar, dass sie gerade nicht passen, bei anderen bin ich unschlüssig, stelle oder lege sie dann doch zurück und schaue weiter. Irgendwann kommen zwei, drei Titel in die engere Wahl, ein Favorit kristallisiert sich heraus – und die Entscheidung ist getroffen. Da es inzwischen sehr spät geworden war, wollte ich mich am nächsten Morgen endgültig für die nächste Lektüre entscheiden. Mit in die engere Wahl gekommen war der Roman »Baumgartner« von Paul Auster, das zuletzt erschienene Buch eines meiner Lieblingsautoren, dessen Werke einige Spuren in meiner Leserbiographie hinterlassen haben. Am nächsten Morgen dann verbreitete sich weltweit die Nachricht von Paul Austers Tod, er war 77jährig an einer schweren Krebserkrankung gestorben. Und »Baumgartner« ist zu seinem Abschiedsbuch geworden. „Das Abschiedsbuch“ weiterlesen

Gestatten?* Larissa Reissner

Steffen Kopetzky: Damenopfer - das Leben von Larissa Reissner

Was für ein Leben! Vermutlich ist das der Gedanke, der mir beim Lesen des Romans »Damenopfer« am häufigsten durch den Kopf ging. Denn auch wenn es sich um ein fiktionales Werk und nicht um eine Biographie handelt, so erzählt Steffen Kopetzky dennoch eine wahre Geschichte. Die Geschichte eines Lebens. Eines kurzen Lebens zwar, das aber so spektakulär verlief, dass alleine schon die Eckdaten klingen wie ein Roman. Denn die 1926 verstorbene Larissa Reissner hatte viele Rollen inne in den knapp dreißig Jahren, die ihr gegeben waren. Die Tochter eines russischen Juristen mit deutschen Wurzeln glaubte fest daran, die Welt zum Besseren verändern zu können. Als Mitglied der Bolschewistischen Partei war sie in der russischen Oktober-Revolution aktiv, kämpfte während des russischen Bürgerkriegs in der Roten Armee und war Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie trug entscheidend zur Rückeroberung der Stadt Kasan bei; eine der Schlüsseloperationen für den endgültigen Sieg der Bolschewiki über die Weißgardisten. Aber Larissa Reissner focht nicht nur mit der Waffe: Sie war Schriftstellerin, verfasste Reportagen, Zeitungsartikel und Reiseberichte. Ständig unterwegs entwarf sie Pläne, um die Revolution in die Welt hinauszutragen, kannte zahllose Intellektuelle; Boris Pasternak und Leo Trotzki sprachen an ihrem Grab. Und das sind nur ein paar der biographischen Details dieses außergewöhnlichen Lebenslaufes, der sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch Steffen Kopetzky hat es geschafft: Mit seinem Roman holt er den Menschen hinter diesen Details aus dem Schatten der Geschichte und bringt uns Larissa Reissner so nahe, wie es fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod nur möglich ist. „Gestatten?* Larissa Reissner“ weiterlesen

Heimkommen. Ein Textbaustein*

Graham Norton: Heimweh

Es gibt diese Textstellen, die einen beim Lesen innehalten lassen. Über die man geradezu stolpert, die man noch einmal liest und ein weiteres Mal. Und die einem danach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine solche Stelle ist mir im Roman »Heimweh« von Graham Norton begegnet. Es ist eine Schlüsselszene des Romans: Der über fünfzigjährige Connor Hayes kehrt nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Mullinmore zurück; es ist ein kleiner Ort in Irland, irgendwo in der Gegend von Cork. Als er sich in seinem Mietwagen langsam der Landschaft nähert, in der er aufgewachsen ist, als die Straßen, die Felder, die in der Luft liegende Stimmung immer vertrauter werden und trotzdem vage fremd bleiben, als er das Städtchen vor sich sieht, in dem vor langer Zeit sein unstetes Leben den Anfang nahm – da fallen sie, die beiden Sätze. „Heimkommen. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Die Zerrissenheit jener Jahre

Szczepan Twardoch: Demut

»Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.« Das ist der Wunsch von Alois Pokora, als er inmitten einer revolutionären Menge auf das Berliner Polizeipräsidium, die »Rote Burg« zustürmt, um Gefangene zu befreien. Es ist die Zeitenwende 1918/1919, die politische Ordnung und gesellschaftliche Normen zerbröseln. Chaos herrscht auf den Straßen und Szczepan Twardoch schickt uns mit seinem Roman »Demut« mitten hinein in diese Zeit des Umbruchs. Eine Zeit, in der vieles möglich schien. Eine Zeit voller Aufbruchsstimmung inmitten unzähliger Dramen am Ende des Ersten Weltkriegs. Eine Zeit der Kämpfe, des Hasses und des Beginns einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Und in der Figur jenes Alois Pokora spiegelt sich die ganze Zerrissenheit jener Jahre wider, denn er ist ein Mensch, der zwischen allen denkbaren Stühlen sitzt und droht, daran zugrunde zu gehen. Dabei hat er nur einen großen Wunsch: irgendwo dazuzugehören. »Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.«  „Die Zerrissenheit jener Jahre“ weiterlesen

Zu Gast in vierzig Leben

Peter Englund: Momentum. November 1942 - wie sich das Schicksal der Welt entschied

Rückblickend gesehen war der November 1942 ein Wendepunkt in der Geschichte. Die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan überzogen die Welt seit drei Jahren mit Krieg und noch zu Beginn des Monats waren sie auf dem Vormarsch, ihr Machtbereich hatte seine größte Ausdehnung erreicht. Doch in diesen dreißig Novembertagen gab es erste Anzeichen dafür, dass der Zenit überschritten war und sich die Waage in Richtung der Alliierten zu senken begann. Im Nachhinein ist dies deutlich erkennbar – es war der Monat, in dem die Engländer in El Alamein siegten, die Amerikaner in Guadalcanal die japanischen Besatzer in eine ausweglose Situation brachten und die 6. Armee der Wehrmacht in Stalingrad eingeschlossen wurde. Aber wie nahmen die Menschen, die in jener Zeit lebten, die großen – und die zahllosen anderen – Ereignisse wahr? Der schwedische Historiker Peter Englund nimmt uns mit auf eine Zeitreise: In seinem Werk »Momentum« geht es um diesen Monat, um den November 1942. 

Englund ist ein Meister der erzählenden Geschichtsschreibung. Für seine grandiose Darstellung des Ersten Weltkriegs »Schönheit und Schrecken« wertete er zahllose Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen aus und schuf dadurch ein Panorama, das über die Zeit hinweg auf eine faszinierende Weise ganz nah erscheint – denn wir sehen jene Jahre durch die Augen der Menschen, die diese Schriftstücke verfassten. Und genau so funktioniert auch »Momentum«, nur dass diesmal die Darstellung auf einen einzigen Monat komprimiert ist. Was jene Wochen noch dichter heranholt, uns zu Gästen in den Leben der Menschen werden lässt, um die es in dem Buch geht. Es sind Personen aller Gesellschaftsschichten, die wir in den unterschiedlichsten Situationen antreffen – und nicht wenige dieser Situationen sind für uns Leser, die wir in jene dunkle Zeit eintauchen, nur schwer zu ertragen. „Zu Gast in vierzig Leben“ weiterlesen

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief

Georg Heym: Der Krieg. In: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung

Der Krieg
Georg Heym, 1911

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.

Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.

Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.

Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Was für ein Gedicht. Georg Heym schrieb es 1911, drei Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Ein rußgeschwärzter Riese, der wie eine unaussprechliche Monstrosität aus dem Dunkel erscheint, den Mond in seiner unbarmherzigen Hand zerdrückt und damit das Signal gibt für den Beginn des Weltenbrands. Der wie ein Köhlerknecht mit seinem Stab die alles verschlingenden Feuer anfacht, wieder und wieder. Das Grauen, in Worte gefasst. „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief“ weiterlesen

Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*

Ueber Gentrifizierung: Textstelle aus »Der Sollist« von Jan Seghers

»Als Gentrifizierung bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug. Damit verbunden ist der Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen.« Diese dürre Wikipedia-Definition beschreibt eines der größten Probleme unseres Wohnungsmarktes, bei dem es nicht nur um bezahlbaren Wohnraum, sondern um eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft geht. „Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*“ weiterlesen