Pompeji ist wohl einer der faszinierendsten Orte der Welt. Mein Besuch dort liegt schon einige Jahre zurück, aber ich kann mich so gut daran erinnern, als sei es erst vor ein paar Wochen gewesen. Auf alten, gepflasterten Straßen durch die Ruinenlandschaft flanieren, Blicke in Häuser, kleine Geschäfte und Werkstätten werfen: das Gefühl, unmittelbar durch den Alltag der Menschen zu laufen, die vor fast zweitausend Jahren dort gelebt haben, ist ein überwältigendes Gefühl. Und am Horizont hat man dabei stets den dunklen, drohenden Umriss des Vesuvs vor Augen, der vor dem großen Vulkanausbruch 79 n. Chr. fast 800 Meter höher gewesen sein muss. Die Zeugen dieser Katastrophe treffen wir dort noch an, die Gipsabgüsse der Menschen in der Stunde ihres Todes zeigen die Gewalt der Natur, die an diesem sommerlichen Unglückstag Pompeji zerstörte. Pompeji und die umliegenden Orte. Und sie in der Zerstörung durch den alles überdeckenden Asche- und Steinregen konservierte. Bis heute.
Zwei Bücher stelle ich hier vor, die unterschiedlicher kaum sein können, die aber für mich perfekt zusammenpassen und die ich direkt hintereinander gelesen habe: »Vom Zauber des Untergangs« von Gabriel Zuchtriegel und »Pompeji« von Robert Harris.
Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs
Seit April 2021 ist Gabriel Zuchtriegel Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji. Dieser Ort »ist für die klassische Archäologie so etwas wie der Vatikan für die katholische Kirche.« Sein Buch »Vom Zauber des Untergangs« trägt den Untertitel »Was Pompeji über uns erzählt« und es ist eine sehr persönliche Annäherung an die Bedeutung der Archäologie für unsere Gegenwart. Und die ist immens – denn wenn wir wissen wollen, wohin wir gehen, müssen wir in Erfahrung bringen, woher wir kommen. Das ist ohnehin das Faszinierende an der Beschäftigung mit Geschichte, aber im Fall von Pompeji gilt das noch einmal ganz besonders. In der Regel sind die antiken Quellen diejenigen, die von Mitgliedern der Oberschicht geschaffen wurden, und egal ob es sich um Texte, Inschriften, Gräber oder Bauten handelt, sind es fast immer die Hinterlassenschaften der Reichen und Mächtigen. Zuchtriegel bringt das schön auf den Punkt: »Was in unserer Gegenwart Seltenheitswert hat – die Welt der Superreichen und Mächtigen -, dominiert somit den Blick auf die antike römische Welt.« Und weiter: »Pompeji ist wie ein Riss in der Leinwand, durch den wir die Möglichkeit haben, einen Blick hinter die offizielle Version der Geschichte zu werfen.«
Er beschreibt verschiedene besondere Grabungsstätten Pompejis und was sie mit dem Alltag der Römer zu tun hatten. Was aus kleinen Details gelesen werden kann, warum ein erhaltener, schlichter Hinterraum, in dem Sklaven untergebracht waren, einen ganz besonderen Fundort darstellt und warum archäologische Arbeit niemals zu Ende ist, zu Ende sein kann. Letzteres erläutert er sehr plastisch an einem Beispiel: Jahrzehntelang wurde die Bevölkerungszahl Pompejis auf 12.000 bis maximal 15.000 Einwohner geschätzt. Dann hat im Jahr 2017 die Entdeckung einer einzigen Inschrift auf einem Grab alle Schätzungen über den Haufen geworfen. Denn durch diese Inschrift wurde klar, dass in der Stadt etwa 45.000 Menschen lebten – dicht gedrängt, wenige Reiche und viele Arme auf engstem Raum. Häuser, Wohnungen, Straßen – alles muss man sich deutlich voller vorstellen, als es bisher getan wurde. Eine überfüllte Stadt, der Versorgungsengpässe zu schaffen machten, die aber von der Bevölkerungsstruktur her viel gemischter war, als ursprünglich gedacht. Ebenso sichtbar werden in den Trümmern Pompejis die Spuren einer globalisierten, vernetzten Wirtschaft. Und deren Fragilität.
Neben diesen spannenden Einblicken in die Forschungsarbeit erfahren wir einiges über die Geschichte der Pompeji-Forschung, über erste Funde, darüber, wie die Bedeutung des riesigen Ausgrabungsfeldes erst nach und nach klar wurde, über Raubgrabungen, die unter der Beteiligung der Mafia andauern bis heute, über Konkurrenz unter den Forschenden, über Öffentlichkeitsarbeit in unserer heutigen, sensationsheischenden Welt. Und über den Bedeutungswandel der Altertumswissenschaften im akademischen Bildungskanon – standen sie früher im Mittelpunkt einer klassischen, universitären Ausbildung, erhalten sie heute längst nicht mehr die Aufmerksamkeit von einst. Gabriel Zuchtriegel analysiert kritisch den Umgang mit dieser Entwicklung: »Anstatt offensiv und kreativ mit dieser Umwälzung umzugehen, haben viele Vertreter des Faches sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. So hinkt die Klassische Archäologie, die einstmals tonangebend für Innnovationen aller Art war, heute den anderen Geisteswissenschaften hinterher.« Umso wichtiger ist sein engagiertes und mitreißend geschriebenes Buch, denn es trägt dazu bei, die Beschäftigung mit der Antike – und damit mit den Wurzeln Europas – wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.
»Vom Zauber des Untergangs« ist unterhaltsam geschrieben und doch voller Tiefe – als würde man mit dem Autor an einem nicht zu heißen Septembernachmittag durch die Ruinen von Pompeji schlendern und dabei ein anregendes Gespräch über das Gestern und das Heute, über Geschichte und Gegenwart führen – und darüber, wie sich beides miteinander verbindet, um den Weg in die Zukunft zu erforschen. Während die Silhouette des Vesuvs nach wie vor am Horizont zu drohen scheint.
»Das, was war und sein wird, hat niemand im Griff, doch die Mischung aus Erinnern und Vergessen, mit der wir auf unsere Geschichte blicken, liegt in unserer Hand.«

Robert Harris: Pompeji
Die Bücher von Robert Harris mag ich sehr und »Pompeji« ist einer der Romane die ich schon mehrfach gelesen habe. Nach der Lektüre von »Zauber des Untergangs« schien mir der Moment perfekt, ein weiteres Mal in die Geschichte einzutauchen, die uns direkt hineinführt in den August des Jahres 79 n. Chr. Die Handlung beginnt in Misenum, zwei Tage vor dem Ausbruch des Vesuvs. Dort, an der nordwestlichen Spitze des Golfs von Neapel, lag zu diesem Zeitpunkt einer der großen Häfen der römischen Kriegsflotte, Kommandant des Stützpunkts war Plinius der Ältere. Die exponierte Lage war nur möglich durch die Wasserversorgung mit Hilfe des Serino-Aquädukts; die »Aqua Augusta« war eine der Meisterleistungen römischer Ingenieurskunst in höchster Perfektion. Sie leitete das benötigte Trinkwasser über fast 100 Kilometer in die »Piscina mirabilis« in Misenum; die Strecke führte direkt am Vesuv vorbei.
Der Roman startet mit einer Katastrophe: Das Wasser aus dem Aquädukt versiegt und damit ist die Existenz des Hafens und der Garnison ernsthaft gefährdet. Der junge Wasserbaumeister – der Aquarius – Marcus Attilius Primus, der erst ein paar Tage im Amt ist, um seinen verschwundenen Vorgänger zu ersetzen, macht sich auf die Suche nach der Ursache. Begleitet wird er von einem Trupp ihm nur widerwillig gehorchender Arbeiter und Sklaven. Es ist eine Suche, die ihn per Galeere über den Golf nach Pompeji führen wird und von da über Land dem Verlauf des unterirdischen Aquädukts folgend, eine Strecke, die direkt auf das dunkle Massiv des Vesuvs zuzuführen scheint.
Robert Harris lässt Pompeji in seinem Roman wiederauferstehen, zumindest für zwei Tage. Er beschreibt eine Stadt, die noch gezeichnet ist von dem schweren Erdbeben einige Jahre zuvor (das heute als eines der ersten Vorzeichen für den kommenden Vulkanausbruch gilt). Eine Stadt, voller Leben, aber auch geprägt von harten gesellschaftlichen Unterschieden. Eine Stadt, in der Attilius einem zu viel Geld gekommenen, korrupten Spekulanten begegnet, der als graue Eminenz das Sagen hat. Eine Stadt, in der er auf die Spur seines verschwundenen Vorgängers stößt und zu ahnen beginnt, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Eine Stadt, die noch zwei Tage lang existieren wird. Auf dem Weg in Richtung Vesuv reitet er seinem Schicksal entgegen, das ganz anders verlaufen wird, als er es sich vorstellen kann. Und wir Leser auch nicht.
Immer wieder blendet der Autor erste Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe ein: Eine unnatürlich glatte Wasseroberfläche im Golf von Neapel, leichte Erdstöße, die den Wein in einem Glas fast unmerklich vibrieren lassen, die immer unerträglicher werdende Hitze, schließlich die vollkommene Stille in den Wäldern am Fuße des Vesuvs – kein einziger Vogel ist zu hören. Und wie immer, wenn Robert Harris geschichtliche Themen bearbeitet, verknüpft er perfekt den historischen Hintergrund mit seiner Romanhandlung. Wir werden eine Stadt untergehen sehen, wir werden durch die Augen von Plinius dem Älteren miterleben, wie ein ganzer Landstrich verwüstet wird. Und wir werden dabei sein, wenn Attilius zu begreifen beginnt, was ihnen allen bevorsteht. Aber dann ist es zu spät. Oder doch nicht?
»Pompeji« ist nicht nur ein ungemein spannendes Buch mit unzähligen eingestreuten geschichtlichen Details. Es lässt uns zudem begreifen, was damals, im Sommer 79 n. Chr. geschehen ist – als die Explosion des Vesuvgipfels eine thermale Energie freisetzte, die etwa das 100.000fache der Atombombe von Hiroshima betragen hat. Etwa 1,5 Millionen Tonnen Bimsstein wurden pro Sekunde (!) herausgeschleudert, bis hinauf in eine Höhe von 33 Kilometern. Die Menschen, die nicht fliehen konnten, hatten keine Chance.
Und als alles vorbei war, als sich die Natur wieder beruhigt hatte, gerieten das verschüttete Pompeji und die anderen zerstörten Orte wie Herculaneum in Vergessenheit. Für sehr lange Zeit.

Ein kleines, aber feines Detail: Gabriel Zuchtriegel beschreibt in »Zauber des Untergangs« ein Haus in Pompeji, das heute den Namen »Casa del Citarista« trägt. Grund dafür ist eine Bronzestatue, die dort gefunden wurde und die den Kithara spielenden Apollon zeigt. Es ist ein bedeutendes Funststück, er beschreibt sie sehr genau und es gibt im Buch eine Abbildung dazu. Im Roman von Robert Harris spielt eine Szene genau in diesem Haus und wir sehen Apollon noch in einer unzerstörten Umgebung – das war das erste Wiedersehen. Eine Woche, nachdem ich die beiden Bücher gelesen habe, war ich ein paar Tage in Neapel und besuchte dort das Archäologische Nationalmuseum. Dort traf ich ihn, jenen Apollon. Das war das zweite Wiedersehen. Fast zweitausend Jahre ist diese Statue alt. Und immer noch da.
Bücherinformationen
Gabriel Zuchtriegel, Vom Zauber des Untergangs
Propyläen Verlag
ISBN 978-3-549-10048-6
Robert Harris, Pompeji
Aus dem Englischen von Christel Wiemken
Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-47013-2
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