Arabischer Frühling querfeldein

Ece Temelkuran: Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?

Die letzten Sommerferien meiner Schulzeit verbrachte ich zu großen Teilen in überfüllten Zügen. Per Interrail ging es durch Spanien und Marokko. Es war das Jahr 1988 und eine Reise voller Eindrücke, von denen manche bis heute präsent sind. An einen Moment erinnere ich mich noch besonders gut: Während der Zugfahrt nach Fès im östlichen Marokko fuhr ein alter, roter Mercedes neben uns her. Die Straße verlief eine ganze Weile parallel zur Bahnstrecke, weit und breit war nichts, keine Dörfer, kaum Vegetation, manchmal ein einsames Haus aus Lehmziegeln mit einigen Palmen drumherum und eben diese ungeteerte Straße und der Mercedes, in einer Staubwolke neben uns. In dem Auto saß eine ganze Familie und irgendwann bog die Straße ab, es war Abend und wurde rasch dunkel und der rote Mercedes verschwand in der staubigen Dämmerung. Aus irgendeinem Grund ist mir diese Szene im Kopf geblieben, damals dachte ich, was das wohl für Menschen sein mögen, wohin sie wollten, hier, inmitten des Nichts.

Dieses Bild eines Mercedes in einer Staubwolke hatte ich vor mir, während ich das Buch »Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?« von Ece Temelkuran gelesen habe. Auch wenn die Protagonistinnen mehrmals das Fahrzeug wechseln, zu Beginn dieses außergewöhnlichen Roadmovies sind sie in einem Mercedes unterwegs und von da an dachte ich an meine schon so lange zurückliegende Reise, von der ich eine diffuse Neugier auf die Länder der arabischen Welt mitgebracht hatte, auch wenn ich seitdem nie wieder eines besucht habe. Umso neugieriger war ich auf diesen Roman. Der in Tunis beginnt, mitten in einer Zeit der dramatischen Umbrüche, als der arabische Frühling jung und noch nicht zum Herbst geworden war.

In einem Hotel am Rande der Altstadt von Tunis begegnen sich zufällig drei Frauen, die Tunesierin Amira, die Ägypterin Maryam und die namenlos bleibende Ich-Erzählerin aus der Türkei. Die verschiedensten Gründe haben sie nach Tunis geführt, aber bald merken sie, dass sie einer eint, der wichtigste davon. Denn jede von ihnen ist eine Verstoßene, eine, die auf der Suche nach einem Zuhause ist, aber nirgends richtig dazugehört. Die mitgewirkt hat, die Umwälzungen in der arabischen Welt herbeizuführen, als Bloggerin, als Demonstrantin, als Journalistin, aber jetzt, nachdem Regierungen gestürzt, neue politische Systeme im Entstehen begriffen sind, merkt, dass sich an der Grundhaltung der Menschen nichts geändert hat. Dass für viele Männer sich Frauen immer noch unterzuordnen haben, dass fundamentalistische Strömungen an die Oberfläche streben, dass Altes zerstört wurde, aber das Neue nicht besser geworden ist. »Als die Zentrifuge, von der Maryam gehofft hatte, sie würde sie in ein anderes Leben entlassen, sie wieder ausspuckte, hatten Ägypten, die Menschen und der Tahrir-Platz sich keinen Deut verändert – nur sie selbst war eine andere geworden.« Ähnlich geht es auch den anderen beiden, dieses Unbehagen vereint sie, macht sie zu Freundinnen.

Und dann begegnen sie Madame Lilla. »Sie sah aus wie Ende sechzig, war aber sicherlich zehn Jahre älter. Eine Lady, die definitiv die Hauptrolle spielen könnte, sollte jemals eine Fortsetzung der Kameliendame gedreht werden. Ihre Bewegungen wirkten träge, aber es war wohl eher so, dass sie jene überflüssigen Bewegungen vermied, mit denen junge Menschen nur irgendwelche Lücken schließen. Sie glich einem alten, behutsam modernisierten Gedicht.«

Madame Lilla ist ein geheimnisvoller Mensch, immer mehr Bruchstücke ihrer schillernden Vergangenheit als Tänzerin, Spionin, Geschäftsfrau, Lebedame erfahren die drei jungen Frauen im Laufe der Geschichte. Denn zusammen mit Madame Lilla machen sie sich auf eine lange Reise, die sie von Tunis bis nach Beirut führt. Durch eine Welt, die dabei ist, in Stücke zu brechen. Vom nachrevolutionären Tunesien geht es nach Libyen, in dem gerade Krieg gegen Gaddafi geführt wird, dann durch Ägypten, in dem das Militär dabei ist, die Macht zu übernehmen bis nach Beirut, den großen Schmelztiegel des östlichen Mittelmeeres.

Es gibt einen konkreten Grund für die lange Fahrt, aber der spielt erst gegen Ende der Handlung eine Rolle, und nicht nur die äußere Welt bricht in Stücke sondern auch die innere Welt der drei Frauen. Madame Lilla ist bestens vernetzt und sie führt die drei in eine von Frauen gestaltete und gelebte Parallelwelt, die neben den männlich dominierten Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens existiert. Sie lernen ein Frauenhaus inmitten der libyschen Wüste kennen, jeepfahrende Kämpferinnen, eine Millionärsgattin in Alexandria, die politische Aktionen für die Rechte der Frauen plant und durchführt – und die wahre Geschichte der Königin Dido, der Gründerin Karthagos und eine der mächtigsten Frauen der antiken Welt. Denn »das Entscheidende sind die Frauen. Die Männer würden sowieso nur eine neue Ordnung ins Leben rufen, deren Soldaten sie werden können. Propheten und Revolutionen werden nur von Frauen wirklich ernst genommen

Vor allem aber lernen sie sich selbst kennen. Madame Lilla hält ihnen einen Spiegel vor, als sie sagt: »Das Reisen stimmt die Menschen friedlich. Deshalb machen Menschen wie wir uns auf die Reise. Sie aber – so gut kenne ich Sie inzwischen – halten Ihre eigenen Entscheidungen für eine Widrigkeit des Schicksals, für eine Laune der Natur. Weil Sie sich nicht eingestehen, dass Sie diesen Weg selbst gewählt haben, schreiten Sie nicht wie Helden einher, sondern wie Opferlämmer. Sie verstehen es nicht, meine Damen, Ihre Tränen hinunterzuschlucken und Ihren Schmerz in Zorn zu verwandeln. Das müssen wir ändern. Wir müssen Sie kurieren. Vertrauen Sie mir. Sie haben kein Zuhause als sich selbst und können nirgendwo hingehen als auf diese Reise. Nach unserer Rückkehr wird alles anders sein.«

Und so begeben sich vier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können, auf die Reise ihres Lebens. Eine Reise voller Überraschungen, voller Dramatik, voller intensiver Erlebnisse. Die ganz anders endet, als sie alle vier es sich vorstellen können.

Auch während ich das hier schreibe, habe ich wieder den alten, roten Mercedes vor Augen, der damals eine Weile neben unserem Zug hergefahren ist, bevor er auf der staubigen Piste im dämmrigen Nirgendwo verschwand. Das Symbol des Unterwegsseins schlechthin, so wie dieses Buch die Sehnsucht nach ebendiesem Unterwegssein schürt. Ein wunderbarer Roman, modern orientalisch mit einer Coolness in blumiger Sprache. Das den Leser mitnimmt in eine arabische Welt, die wir so noch nicht kennen. Und die wir hoffentlich eines Tages besser kennenlernen werden. Dieses Buch kann der erste Schritt auf dieser Reise sein.

Ece Temelkuran: Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?

Buchinformationen
Ece Temelkuran, Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner

Atlantik Verlag
ISBN 978-3-455-60004-9

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4 Antworten auf „Arabischer Frühling querfeldein“

  1. Ich hatte das Buch vor kurzem gesehen und überlegt, ob ich es lesen soll. Jetzt werde ich es definitiv tun! Ich bin bereits durch Ägypten und Marokko gereist und immer wieder fasziniert von diesen fremden Welten, die sich trotz aller Verwestlichung ihren ganz besonderen orientalischen Charme bewahrt haben…

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