17415. Siebzehntausendvierhundertfünfzehn. Diese Zahl steht im Mittelpunkt des Romans »Ein Lied für die Vermissten« von Pierre Jarawan. Es ist die Anzahl der Menschen, die während des Bürgerkriegs im Libanon verschwanden – und bis heute vermisst werden. Während des Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 vor allem in und um Beirut ausgetragen wurde, der eine der schönsten und multikulturellsten Städte des Mittelmeers in Schutt und Asche legte und der tiefe Wunden in den Seelen der Menschen dort hinterlassen hat. Diese Wunden sind nur schlecht vernarbt, sie drohen ständig wieder aufzureißen – doch von offizieller Seite wird alles getan, um nicht darüber reden zu müssen. Pierre Jarawan – dessen Eltern den Libanon 1982 verließen, als die alltägliche Gewalt einen Höhepunkt erreicht hatte – erzählt in seinem Roman die Geschichte von Amin, der auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Familie uns Leser tief hineinführt in die Tragik jener Zeit. „Denkmal für die Verschwundenen“ weiterlesen
306 Quadratmeter in Manhattan
Normalerweise hat bei mir ein gelesenes Buch fast keine Gebrauchsspuren; ich kann gar nicht anders, als meine Bücher äußerst pfleglich zu behandeln. Bei »Max, Mischa & die Tet-Offensive« von Johan Harstad war das allerdings nicht möglich, denn dieses 1.242-Seiten-Werk habe ich über mehrere Wochen überallhin mitgeschleppt, um so oft wie möglich darin zu lesen. Verschrammt ist es nun, die Ecken angeschlagen, der Buchblock nicht mehr strahlend weiß und das Vorsatzblatt vollgeschrieben mit notierten Seitenzahlen. Und es fühlte sich an, als würden mich ein paar Freunde die ganze Zeit begleiten; nachdem die letzte Seite umgeblättert war, empfand ich so etwas wie Abschiedsschmerz, nun, da ich Max, Mischa, Mordecai und Owen zurücklassen musste. Dabei hatte ich ursprünglich gar nicht vor, den Roman zu lesen. „306 Quadratmeter in Manhattan“ weiterlesen
Der Wächter und seine Dämonen
Einen Zaun. Einen Wachturm. Einen Mann. Und seine Dämonen. Mehr benötigt Gerhard Jäger nicht, um uns in seinem Roman »All die Nacht über uns« auf eine Reise tief in die Seele eines Menschen zu schicken, dorthin, wo es dunkel ist. So dunkel, wie die Nacht, die diesen Mann umgibt, als er auf dem Wachturm steht, um einen Zaun zu bewachen. Eine einzige, endlose Nacht lang begleiten wir Leser ihn dabei.
Europa in einer nahen Zukunft: Die Flüchtlingskrise hat einen neuen Höhepunkt erreicht, als tausende von Menschen versuchen, dem tödlichen Chaos im zerfallenden Nahen Osten zu entkommen. Die Staaten Mitteleuropas riegeln ihre Grenzen ab, bauen Zäune. In einem nicht näher genannten Land sind die widerwärtigen Phantasien rechtsnationaler Politiker Wirklichkeit geworden: Es wird geschossen, wenn Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun zu überwinden; egal, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelt. Dies ist die Aufgabe des einsamen Soldaten auf dem Wachturm. Auf den Zaun zu achten, in die Nacht hinaus zu starren und im Zweifelsfall das Feuer zu eröffnen. „Der Wächter und seine Dämonen“ weiterlesen
Und alles ändert sich
Roscoe T. Martin ist Elektriker. Das wäre an sich nicht besonders spektakulär. Im Alabama des Jahres 1923 allerdings schon, denn abseits der großen Städte ist die Elektrifizierung noch lange nicht angekommen und das Leben auf den Farmen hat sich seit dem 19. Jahrhundert nicht groß verändert. Und auf einer solchen Farm ist Roscoe T. Martin gestrandet – bis eine einzige falsche Idee sein Leben in den Grundfesten erschüttert. Virginia Reeves erzählt in ihrem Roman »Ein anderes Leben als dieses« seine Geschichte. Eine Geschichte über den Wunsch nach Fortschritt und Glück, über das Scheitern, den Verlust und – vielleicht – der Möglichkeit eines Neuanfangs. „Und alles ändert sich“ weiterlesen
Was wäre, wenn?
Wahrscheinlich kennt sie jeder, diese Momente, in denen das eigene Leben einen ganz anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn eine Entscheidung anders ausgefallen wäre. Oder wenn man den Mut gehabt hätte, eine Veränderung zu wagen. Vielleicht nur einen winzigen Schritt in eine andere Richtung zu tun. Dem Herz zu folgen, nicht dem Verstand. Oft werden einem diese möglichen Abzweigungen erst lange Zeit später bewusst, aber manchmal denkt man sein ganzes Leben darüber nach. Und kommt nie zu einem Ergebnis; die Was-wäre-wenn-Frage lauert stets im Dunkeln, und in so manchen Nächten lässt sie einen nicht einschlafen. Der Roman »Ein mögliches Leben« von Hannes Köhler beschäftigt sich mit einer solchen Abzweigung, eingebettet in einen historischen Kontext, der uns Lesern einen wenig erforschten Ausschnitt der Geschichte des 20. Jahrhunderts näher bringt. „Was wäre, wenn?“ weiterlesen
Der Zeit nicht mehr gewachsen
Es geschieht manchmal, aber nicht oft: Man beginnt abends mit einem neuen Buch, versinkt vollkommen darin und klappt es komplett durchgelesen mitten in der Nacht wieder zu. Bei »Töchter« von Lucy Fricke war es genau so. Am Tag danach war ich zwar furchtbar müde, aber es hat sich gelohnt. Jede Seite. Jedes Wort.
Ich hatte sowieso vor, den Roman zu lesen. Bald. Dann landete ich beim abendlichen Durchforsten der Literaturblogs wieder einmal bei buchrevier, wo Blogger Tobias Nazemi Lucy Frickes Buch vorstellte – so begeisternd, dass ich »Töchter« direkt aus dem Berg der Buchvorräte hervorgezogen habe. „Der Zeit nicht mehr gewachsen“ weiterlesen
Jagd auf Wasserspeier
Die Nachricht kam passend zur Lektüre: Während ich »Die Fassadendiebe« von John Freeman Gill las, berichtete der Kölner Stadtanzeiger darüber, dass in dem Viertel, in dem ich lebe, ein Häuserensemble aus den Zwanzigerjahren abgerissen werden soll. Es war eine Nachricht, die mich traurig und wütend zugleich gemacht hat. Traurig, weil wieder einmal ein Stück historischer Qualitätsarchitektur einem gesichts- und einfallslosen Neubau weichen muss. Und wütend, weil die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung nicht zu verstehen scheinen, dass eine gewachsene Architektur die Seele eines Viertels, einer Stadt darstellt. Mal davon abgesehen, dass mit dem zum Abriss freigegebenen Quartier auch Dutzende bezahlbarer Wohnungen verschwinden werden.
Von daher ist es kein Wunder, dass ich mich so gut in Nick Watts hineinversetzen konnte. Er ist New Yorker, liebt seine Stadt und muss in den Siebzigern mit ansehen, wie ein wunderschönes Art-Deco-Schmuckstück nach dem anderen den Kahlschlagplänen betonversessener Modernisten zum Opfer fällt. Wie kunstvolle Fassaden abgeschlagen und schmucklos neu verkleidet werden, zahllose Details aus New Yorks architektonischer Blütezeit verschwinden. Er versucht, zu retten, was er irgendwie retten kann und verliert dabei irgendwann den Bezug zur Realität vollständig aus den Augen – mit dramatischen Folgen. Sein Sohn Griffin Watts berichtet uns als Ich-Erzähler in »Die Fassadendiebe« über das Leben und Verschwinden seines Vaters. „Jagd auf Wasserspeier“ weiterlesen
Fluchtgedanken
Es war ein beeindruckender Abend, als Ilija Trojanow sein Buch »Nach der Flucht« im Kölner Literaturhaus vorstellte. Selten habe ich erlebt, wie jemand in kurzer Zeit so viele brillante Gedanken perfekt auf den Punkt bringen kann. Gedanken, in einfachen Sätzen formuliert, dabei aber von solch einer intellektuellen Tiefe, dass der Abend wie das Buch sich nachhaltig im Gedächtnis verankern werden – denn das Nachdenken über die Folgen der Flucht für einen Geflüchteten ist ein Thema so alt wie die Menscheit. Und immer aktuell, besonders heute. Ilija Trojanow schafft es, in einem schmalen Buch von gerade einmal 125 Seiten das Trauma Flucht eindrucksvoll zu schildern. Denn für einen Flüchtling endet die Flucht nie wirklich, er ist der, der mit Akzent spricht, der einen anderen Namen trägt, eine andere Hautfarbe hat, nicht zurück kann und trotzdem für viele immer ein Fremder bleiben wird. Was wiederum zu der Frage führt, was eigentlich Heimat ausmacht, doch dazu später. „Fluchtgedanken“ weiterlesen
Europas offene Wunde
Gerne wird momentan von der abendländischen Kultur Europas geredet, um unsere Identität gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen abzugrenzen. Und gerne wird dabei auf den christlich-jüdischen Hintergrund unserer kulturellen Entwicklung hingewiesen. Dabei drücken diese Wörter eine Symbiose aus, die es so nie gab; die vor dem Hintergrund eines jahrtausendealten europäischen Antisemitismus wie blanker Hohn wirkt. Es ist eher so, dass in Europa trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen eine lebendige jüdische Kultur existierte, die erst durch den industrialisierten Massenmord des Holocaust so dezimiert wurde, dass sie heute nur noch vage wahrnehmbar und in vielen Gegenden – insbesondere Osteuropas – vollkommen verschwunden ist. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, eines, das auf eindrucksvoll photographierte Art und Weise letzte Spuren dieser Welt zeigt, Zeugnisse des Verfalls und des endgültigen Verschwindens. Und eines, das uns an jene verschwundene Welt in seltenen Photographien erinnert. „Europas offene Wunde“ weiterlesen
Das Leben in der Sevilla-Bar
Obwohl ich die Werke des Autors kenne und schätze, hat erst die Besprechung der Klappentexterin dafür gesorgt, dass ich umgehend zu einer der Buchhandlungen meines Vertrauens gegangen bin und mir »Das Leben ist gut« von Alex Capus gekauft habe. Mal kein Buch über Sinnsuche, keines mit dramatischen Wendungen oder komplizierten Beziehungskonstellationen, sondern »Lesen voller Leichtigkeit«, wie Klappentexterin Simone Finkenwirth schreibt. Und trotzdem ein Buch mit Tiefgang. Funktioniert das? In diesem Fall, in diesem Buch ja, auch wenn es nachher noch ein »Aber« geben wird. „Das Leben in der Sevilla-Bar“ weiterlesen