Nicht selten verbringt man zwischen Weihnachten und Neujahr ein oder zwei Tage an dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, den man aber schon lange verlassen hat. So war es Ende 2013 auch bei mir. Von nostalgischen Gefühlen getrieben habe ich den Keller meines Elternhauses durchstöbert und es tatsächlich gefunden: Das Buch »Der Räuber Hotzenplotz« von Otfried Preußler. Und zwar genau das Exemplar, aus dem mir meine Oma vor nun über vierzig Jahren vorgelesen hatte. Stockfleckig, von Feuchtigkeit beschädigt, aber immer noch da. „Am Anfang war das Wort“ weiterlesen
Stolz noch im Verfall
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Leipzig eine der wichtigsten deutschen Industriestädte und einer der bedeutendsten europäischen Handelsplätze. Industrie und Handel, beides prägte das Stadtbild der Gründerzeit und der folgenden Jahrzehnte. Da Leipzig im 2. Weltkrieg »nur« zu einem Drittel zerstört wurde, sind viele Spuren dieser Zeit noch sichtbar, auch wenn die sozialistische Planwirtschaft fast genauso verheerende Auswirkungen hatte wie der Krieg. „Stolz noch im Verfall“ weiterlesen
In den Krieg gezogen
1914. Zwei Männer ziehen in den Krieg. Der eine ist Deutscher, der andere Franzose. Beide sind jung und begeistert von dem großen Abenteuer, das auf sie wartet. Beide tragen den gleichen Vornamen, Ludwig und Louis. Und noch etwas haben sie gemeinsam: Beide stammen aus einer jüdischen Familie. Das ist die Ausgangslage des Romans »Süß und ehrenvoll« von Avi Primor, der den Leser durch die Hölle der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs führt. Aber nicht das Kriegsgeschehen steht im Mittelpunkt der Erzählung, sondern die Suche der Protagonisten nach der eigenen Identität. „In den Krieg gezogen“ weiterlesen
Leseprojekt Erster Weltkrieg
»Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.« Dieser August Bebel zugeschriebene Satz ist aktueller denn je; 2014 jährt sich das Schicksalsjahr Europas zum hundertsten Mal. 1914 begann der Erste Weltkrieg, eine Katastrophe, die das alte Europa hinwegfegte, Millionen Menschenleben forderte und die Wurzel des Üblen war, das danach erst noch folgen sollte: Zwei menschenverachtende Diktaturen, ein weiterer, noch viel schlimmerer Krieg, Völkermord, Vertreibung unzähliger Menschen und die Spaltung des Kontinents, die bis heute nicht überwunden ist. Wäre dieser europäische Flächenbrand zu vermeiden gewesen? Wie kam es dazu? Was bewegte die politischen und militärischen Entscheidungsträger dieser Zeit? Viel ist schon darüber geschrieben worden, aber das Gedenkjahr 2014 wartete mit einer Fülle von neuen Büchern und neuen Erkenntnissen zu diesem Thema auf. „Leseprojekt Erster Weltkrieg“ weiterlesen
Zeitlos glücklich?
»Ist es verrückt, wenn einer glaubt, die Zeit lasse sich ›zurückdrehen‹? Es ist verrückt, denkt Peter Taler anfangs, als er das Vorhaben des alten Knupp begreift, der ihm gegenüber wohnt. Denn der möchte etwas denkbar Unmögliches möglich machen.« Das ist der Klappentext des Buches »Die Zeit, die Zeit« von Martin Suter. Ein bisschen knapp, wie bei Diogenes üblich, aber Geschichten über Vergänglichkeit und die vergehende Zeit finde ich per se spannend. Also gekauft und gelesen. Und was soll ich sagen: Es hat sich gelohnt. Sehr. „Zeitlos glücklich?“ weiterlesen
Stefan Zweigs Europa
2014 jährte sich der Ausbruch des ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Aus diesem Anlass erschienen eine Flut von neuen Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Zu Recht gilt dieser Krieg als Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die nicht nur Millionen von Menschen das Leben kostete, sondern Europas Landkarte und Gesellschaft radikal veränderte. Doch ein Buch, welches das Europa vor dem ersten Weltkrieg eindrucksvoll beschreibt, ist keine Neuerscheinung. Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern« ist ein Buch, das mich schon lange beschäftigt. Es wurde 1943 posthum publiziert und ist das Vermächtnis des großen Dichters. „Stefan Zweigs Europa“ weiterlesen
Gangster mit Stil
»Das Buch mit dem Hut.« So las ich auf Twitter über den Roman »In der Nacht« von Dennis Lehane. Es war in der Tat der Hut auf dem Buchcover, der mich das Buch kaufen ließ. Er rief sofort Bilder wach, die zu meiner visuellen Grundausstattung gehören. Durch Filme wie »Es war einmal in Amerika«, »Untouchables«, »Road to Perdition«, »Last Man standing« oder »Lawless« hat sich ein bestimmter Stil im Hinterkopf etabliert, der sofort Assoziationen weckt an die Zeit der Prohibition in Amerika, an den Alkoholschmuggel. An Gangster mit Maschinenpistolen, aber immer in stilvoller Kleidung. „Gangster mit Stil“ weiterlesen
Schrecksekunde mit Mario Vargas Llosa
Einmal hat mich ein Buch, besser gesagt eine Textstelle in einem Buch, für einen kurzen Moment in Todesangst versetzt. Und das meine ich ganz wörtlich. Es handelt sich um den Roman »Tod in den Anden« von Mario Vargas Llosa, den ich 1996 gelesen habe. Zu Beginn der Handlung wird ein Überlandbus irgendwo in den peruanischen Anden von einer Einheit der maoistischen Terrrorgruppe Leuchtender Pfad angehalten. Es ist mitten in der Nacht, die beiden einzigen Touristen in dem Bus werden herausgezerrt und getötet. Diese extrem barbarisch geschilderte Szene hat sich tief in mein Bewusstsein eingegraben.
Vier Wochen später saß ich in einem Flugzeug auf dem Weg nach Peru. „Schrecksekunde mit Mario Vargas Llosa“ weiterlesen
Otl Aichers Wüstentrip
Das Buch »gehen in der wüste« von Otl Aicher ist ein typographisches, photographisches und textliches Gesamtkunstwerk. Das verwundert nicht, schließlich war Otl Aicher einer der bedeutendsten Kommunikationsdesigner des 20. Jahrhunderts. Er hat das Erscheinungsbild Westdeutschlands entscheidend mitgeprägt und uns zahlreiche Piktogramme, Signets und Logos hinterlassen, die jeder kennt. Und dieses Buch. „Otl Aichers Wüstentrip“ weiterlesen
Große Gefühle in Wisconsin
»Shotgun Lovesongs« von Nickolas Butler ist eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Vertrauen, Heimat und die Lebensentwürfe von fünf Freunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Große Gefühle in dem 1.500-Einwohner-Städtchen Little Wing in Wisconsin, einer amerikanischen Kleinstadt, die zu veröden beginnt, umgeben von Sojafeldern, Rinderweiden und Maisplantagen. Das ist das Zuhause von Henry, Beth, Ronny, Kip und Lee. Sie sind dort aufgewachsen und kennen sich schon ihr ganzes Leben. „Große Gefühle in Wisconsin“ weiterlesen
In die Falle gegangen? Ein Textbaustein*, mitwachsend
»›Ach‹, sagte die Maus, ›die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.‹ – ›Du musst nur die Laufrichtung ändern‹, sagte die Katze und fraß sie.«
Schon wieder Kafka. Das ist kein Wunder, begleiten mich seine Texte schon seit vielen Jahren. Auch wenn ich seit meiner Kafka-extrem-Woche in Prag nichts mehr von ihm gelesen habe, an diesen Text hier, die »Kleine Fabel«, muss ich oft denken. „In die Falle gegangen? Ein Textbaustein*, mitwachsend“ weiterlesen
Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch
In meinem Blog geht es um Bücher. Und zwar um Bücher aus Papier. Das heißt nicht, dass ich keine E-Books mag, es gibt schließlich genug Bücher, die nicht aufhebens- oder sammelwert sind und wertvolle Regalmeter blockieren müssen. Auf jeden Fall leben wir in einer spannenden Zeit, in der wir die freie Wahl haben, auf welche Weise wir uns mit Texten beschäftigen. Ich lese den ganzen Arbeitstag am Bildschirm, bin ständig online, während zuhause mein Tolino in irgendeiner Schublade verstaubt. Denn in meinem Privatleben will ich mit echten Büchern zu tun haben, nicht nur mit Dateien, die mir nicht einmal richtig gehören. Wie schon einmal geschrieben: Ein E-Book reduziert ein Buch auf seinen bloßen Text. Manchen genügt das. Mir nicht, denn das Buch ist die Verpackung des Textes, es transportiert ihn zum Leser, es inspiriert ihn, sich mit ihm zu beschäftigen und macht den Text individuell. E-Books mögen praktisch sein, aber Bücher sind schön. „Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch“ weiterlesen
Europas vergessene Ur-Katastrophe
Das Buch »Krimkrieg – Der letzte Kreuzzug« von Orlando Figes war eine echte Horizonterweiterung für mich. Ich hatte es schon ein paar Jahre im Regal stehen, es mehrmals angefangen, dann wieder zurückgestellt. Für jedes Buch gibt es den richtigen Zeitpunkt, aber um den herauszufinden muss man es erst einmal haben. Der richtige Zeitpunkt für dieses Buch war jetzt. „Europas vergessene Ur-Katastrophe“ weiterlesen
Geheimdienst außer Kontrolle
Vor vielen Jahren habe ich das Buch »Vaterland« von Robert Harris in die Hände bekommen. Und seitdem alles, was er geschrieben hat, mit Begeisterung gelesen. Ein großes Thema, das sich durch viele seiner Romane zieht, ist das des Außenseiters, der sich alleine mit den Mächtigen anlegt, um ein Unrecht oder ein Geheimnis aufzudecken, das ansonsten gerne verschwiegen worden wäre. So auch in »Intrige«, seinem neuen Roman, der vollständig auf wahren historischen Begebenheiten beruht. Der Außenseiter ist diesmal George Picquart, ein Offizier der französichen Armee, der 1894 vom Kriegsminister beauftragt wird, ihn regelmäßig über den Prozess gegen den mutmaßlichen Spion und Verräter Alfred Dreyfus auf dem Laufenden zu halten. „Geheimdienst außer Kontrolle“ weiterlesen
Mittelalter ohne Folklore
»Isenhart« von Holger Karsten Schmidt ist ein historischer Roman, der deutlich aus dem Einheitsbrei dieses Genres herausragt. Beurteilt man ihn nur nach dem Klappentext, wird dies nicht sofort deutlich. Dort ist von einem Serienmörder die Rede, von einem mittelalterlichen Profiler; insgesamt entsteht dadurch ein falscher Eindruck von diesem großartigen Buch. Denn es handelt sich hier nicht um einen Mittelalter-Krimi. »Isenhart« ist viel mehr als das. „Mittelalter ohne Folklore“ weiterlesen