Über Tankstellenästhetik

Lars Mytting: Fyksens Tankstelle

Erik Fyksen ist Ästhet. Und Betreiber von »Fyksens Tankstelle«, dem Titel des Buches von Lars Mütting. Seine Leidenschaft gehört den Autos, ihren Motoren und seiner Tankstelle. Allerdings ausschließlich schönen Autos, und da seit einigen Jahrzehnten nur noch praktische, aber keine ästhetisch anspruchsvollen Autos mehr gebaut werden, hat er sein Herz an die sechziger Jahre verloren und seine Tankstelle wirkt, als sei die Zeit stehen geblieben. Er weigert sich, seine Werkstatt oder seine Verkaufsräume zu modernisieren und alles entspricht dem Klischeebild einer Tankstelle, wie es sie eigentlich gar nicht mehr gibt: Fyksen oder sein Freund und Angestellter Tor-Arne stehen mit ölverschmierten Händen, gerade aus der Werkstatt kommend, an der Kasse, es gibt Ersatzteile auf einfachen Bretterregalen an der Wand, verpackt in schmucklosen Pappkartons, vielleicht noch ein paar Süßigkeiten vor dem Tresen. Aber zum Beispiel keine Würstchen, denn »kocht deine Mutter vielleicht in der Garage?«, keine auf Hochglanz polierten Fliesen, keine belegten Brötchen, es ist eben eine Tankstelle. Ehrlich und geradlinig.

Fyksen ist um die zwanzig, ein begnadeter Autoschrauber, ansonsten eher eigenbrötlerisch. Seine Tankstelle liegt am Ortsrand von Annor, einer kleinen Stadt mitten in der Provinz, im norwegischen Nirgendwo, dort, wo die einzige größere Straße in geschwungenen Kurven hinauf in die Berge führt. Dieses Leben in der Abgeschiedenheit der Provinz bestimmt die Handlung des Romans. Provinz: Eine Mischung aus Behaglichkeit und Trostlosigkeit, Geborgenheit und gnadenloser sozialer Kontrolle, einengend und haltgebend gleichermaßen.

Natürlich läuft Fyksens Tankstelle nicht besonders gut. Die meisten Bewohner des Ortes fahren lieber zur schicken, hellen Statoil-Tankstelle. Außer sie brauchen ein bestimmtes Ersatzteil, das es sonst nirgends gibt. Erik weiß das, er kommt gerade so über die Runden, wohnt in einem heruntergekommenen Appartment, und das alles ist ihm egal. Er will an schönen Autos herumschrauben und keine Kompromisse in Fragen des guten Geschmacks eingehen. Daran scheiterte auch seine Beziehung mit der schönen Elise, der er immer noch nachtrauert, unfähig, etwas an seinem Leben zu ändern. Es gibt aber auch nicht viel, was er in dieser kleinen Stadt machen könnte, ohne sich zu verbiegen. In seiner Kompromisslosigkeit wird er zum Außenseiter, durch seine Coolness beginnt mit der Zeit eine tiefe Einsamkeit durchzuscheinen. »Wie konnte es nur dazu kommen?, dachte er. Fing es mit einer kleinen Delle an, mit etwas, das sich nicht mehr zu reparieren lohnte? Oder warst du irgendwann einfach zu störrisch, eine zu bizarre Konstruktion, die zu viel Pflege benötigte? Wie auch immer, irgendwann hat dich jemand aufgegeben, hat dich in deinen eigenen Spinnweben stehen lassen, hat dich spüren lassen, wie es ist, wenn das Fett hart und die Radaufhängung steif wird.«

Dann wird eine Umgehungsstraße geplant, was seiner Tankstelle endgültig die Luft abschnüren würde. Gleichzeitig schraubt sein Freund Tor-Arne verbissen an seinem Auto herum, um es noch schneller zu machen. Ohne Erik etwas davon zu erzählen. Er will unbedingt das illegale Rennen gewinnen, dass sich einige Jugendliche einmal im Jahr liefern. Die kurvenreiche Straße ins Gebirge hoch, am Tag des großen Bürgerumzugs, wenn alle in der Innenstadt feiern und die ganze Umgebung der Stadt noch ausgestorbener als sonst wirkt. Dieses Rennen wird schicksalhaft in Fyksens Leben werden. Sein Leben, dass sich unaufhaltsam auf einen Wendepunkt zubewegt, an dem er sich entscheiden muss, ob er sich selbst treu bleibt und die kleine Stadt in der Provinz verlässt oder bleibt, dann aber für sich selbst Kompromisse suchen muss. Eine Sackgasse, aus der es nur einen Weg heraus gibt.

Mich hat das Buch enorm berührt, da ich selbst in einer kleinen Stadt aufgewachsen bin, irgendwo am Bodensee. Eine schöne Zeit, bis etwa zum 16. Lebensjahr, dann begann die Welt dort immer kleiner zu werden. Mit zwanzig bin ich gegangen, das war 1989. Damals hatte der Ort noch einen provinziellen Charme. Seitdem wurde saniert, gebaut und umgestaltet. Heute ist der Charme verschwunden, nur das Provinzielle ist geblieben. Einer der wenigen Orte, an denen ich mich dort wohlfühle, ist eine Kneipe in einer ehemaligen Tankstelle, so einer, die auch Fyksen gefallen würde. Ein sehr eigener Platz, mit netten Menschen und entspannter Atmosphäre, ein bisschen Subkultur in der Provinz. Die Tanke, wie sie genannt wird, gibt es jetzt schon seit 24 Jahren. Aber ob sie das Jahr 2014 2015 2016 2017 noch überlebt, ist fraglich, denn ein Abriss ist geplant, es wird Platz für moderne, wärmegedämmte und langweilige Neubauten benötigt. Und wie immer und überall verdient irgendein Investor Geld damit, dass eine Stadt wieder ein Stückchen gesichtsloser und hässlicher wird. (Nachtrag, Ende 2017: Sie ist jetzt abgerissen. So wird dieser Beitrag zu einem Nachruf auf einen Ort, der das Leben in einer kleinen Stadt ein großes Stück lebenswerter gemacht hat.)

Solche Orte wie Fyksens Tankstelle sind Kleinode in unserer durchnormierten Welt. Sie werden weniger, aber es gibt sie trotzdem. Immer wieder, allem »Fortschritt« zum Trotz. Aber was ist dieser Fortschritt eigentlich? »Dass sich die Nachrichtensprecher gegenseitig mit Vornamen anreden? Dass es alles in Tüten gibt, weil keiner mehr richtig kochen kann? Dass bei den Nachrichten im Radio Hintergrundmusik läuft? Dass die Post keine Auslandspäckchen mehr hat, dafür aber ‚Carry on Homeshopping‘? Dass mir die Bank eine Liste der Darlehens- und Anleihengeschäfte schickt, wenn ich mich nach einem Kredit erkundige? Dass niemand mehr zwischen einem Dienst und einer Ware unterscheiden kann, aber dafür alles als Lösung bezeichnet wird?«

Erik Fyksen hat es nicht leicht und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Wie alle, die sich einen Sinn für Ästhetik bewahrt haben. Was wohl aus ihm geworden ist? Leider gibt es keine Fortsetzung dieses Romans, denn das hätte mich sehr interessiert.

Buchinformation
Lars Mytting, Fyksens Tankstelle
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Piper Verlag
ISBN 978-3-492-05034-0
Leider ist das Buch nicht mehr lieferbar. 
Doch bei booklooker.de oder AbeBooks.de wird man sicher fündig.

2019 hat der Roman einen anderen Titel erhalten und ist als Taschenbuch neu aufgelegt worden.

Buchinformation neu
Lars Mytting, Die Tankstelle am Ende des Dorfs
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Insel Taschenbuch
ISBN 978-3-458-36460-3

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