Ein jüdisches Familientreffen. Unerwartet

Jüdisches Familientreffen

Die Leipziger Buchmesse steht vor der Türe. Wie jedes Jahr freue ich mich auch dieses Mal wieder auf das Treffen mit Freunden und alten Bekannten, auf das Kennenlernen neuer Menschen und auf unerwartete Begegnungen. Unerwartet, wie bei der letztjährigen Messe. Denn man macht in seinem Leben oft die Bekanntschaft völlig unterschiedlicher Personen, die aber doch in irgendeinem Zusammenhang miteinander stehen. Letztes Jahr bin ich durch die Leipziger Buchmesse drei jüdischen Familien begegnet. An drei aufeinanderfolgenden Tagen. Völlig unterschiedlich und vor allem komplett unerwartet.

Die erste Familie traf ich im Zug von Köln nach Leipzig. Ich las Frank Schätzings Roman »Breaking News«, ein Buch mit mehreren Handlungssträngen, das zur Zeit des arabischen Frühlings spielt. Der eine davon erzählt die Geschichte von Jehuda Kahn, seiner Familie und seines besten Freundes. Seine Eltern sind Emigranten, die sich nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland in Palästina niederlassen, damals noch ein Gebiet unter britischer Verwaltung. Sein bester Freund heißt Ariel; ein Kämpfer, der sich, als er in die Politik geht, den Namen Scharon geben wird. Ariel Scharon, einer der umstrittensten israelischen Militärs und Politiker. Zum Zeitpunkt der Romanhandlung liegt Scharon bereits im Koma. Der zweite Handlungsstrang beschreibt den Werdegang Tom Hagens, eines Kriegsreporters, der sich auf dem Abstellgleis befindet, durch Zufall einer Verschwörung innerhalb des israelischen Militärapparats auf die Spur kommt und fortan zum Gejagten wird. Der dritte Handlungstrang erzählt weit ausholend die Geschichte des Staates Israel, mit allen Höhen und Tiefen. Schätzing schafft es, diese drei Handlungsstränge perfekt zusammenzuweben und daraus einen packenden Thriller zu schaffen. Schade nur, dass die Handlung über weite Strecken in einem gekünstelt umgangssprachlichen Ton gehalten ist. Das mag bei Don Winslow funktionieren, etwa in Kings of Cool; hier wirkt es sehr aufgesetzt. Aber trotzdem ein spannendes Buch. Und die Geschichte der Familie Kahn, die in dem Roman eine zentrale Rolle spielt. Tag eins.

Die zweite Familie lernte ich am Abend des Buchmesse-Freitags kennen. Wie jedes Mal in Leipzig lasse ich mich gerne durch das Messegeschehen treiben und auch abends ist eigentlich nie etwas geplant. So landete ich bei der Autorenlesung von Katja Petrowskaja, die ihr Buch »Vielleicht Esther« vorstellte; ein Werk, das bei der letztjährigen Messe in aller Munde war, da die Autorin gerade dafür den Bachmannpreis bekommen hatte. Es ist kein Roman, eher ein literarisches Experiment. In episodenhaft gestalteten, mit verschiedenen Stilmitteln und in unterschiedlichen Perspektiven verfassten Kapiteln begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte. Eine zutiefst ostjüdische Geschichte, eine Familie, die immer wieder zwischen die Mahlsteine der Geschichte geriet, bis sie während des Zweiten Weltkriegs von den SS-Mördern fast gänzlich ausgelöscht wurde. Katja Petrowskajas Auftritt ha mich beeindruckt, humorvoll, auf eine charmante Art und Weise streitlustig und diskussionsfreudig. Natürlich musste ich eines der ausgelegten Bücher erwerben und ließ es mir von ihr signieren – irgendwo zwischen Garderobe und Ausgang, da schon die nächste Veranstaltung anlief. Es war eine großartige Lesung und die Familie Petrowskaja, oder besser gesagt, deren von der Geschichte verschlungene Vorfahren, war die zweite jüdische Familie, deren Bekanntschaft ich letzes Jahr in Leipzig machte. Tag zwei.

Und auch die dritte Familie lernte ich bei einer Lesung kennen. Einen Abend später, diesmal in der naTo, einer altbewährten und schön abgerockten Kneipe in der Leipziger Südvorstadt. Der New Yorker Schriftsteller Jonathan Lethem las aus seinem Buch »Der Garten der Dissidenten«. Ebenfalls die Geschichte einer jüdischen Familie, ebenfalls gezeichnet von den Widrigkeiten des 20. Jahrhunderts. Die natürlich auch von den Ereignissen in Europa betroffene Familie Zimmer lebt in Brooklyn und stand in den Zeiten des kalten Krieges auf der falschen Seite, denn kommunistische Überzeugungen machen das Leben in den USA nicht gerade einfach. Mit großem Wortwitz beschreibt der Roman, wie die Haupt-Protagonistin im Laufe der Zeit endgültig zwischen allen Stühlen sitzt. Eine melancholisch-witzige Story, wunderbar gelesen von einem Autor, der wirkte, wie man sich einen Intellektuellen aus Brooklyn, N.Y., vorstellt. Ein toller Abend. Und Tag drei.

Drei völlig unterschiedliche Bücher – ein Thriller, ein literarisches Experiment und ein Familienroman – und alle drei Handlungen geprägt von den Tragödien und Verbrechen, denen Juden schon immer, aber besonders im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren und sind. Es sind nur drei Beispiele von vielen, es gibt unzählige Romane, die jüdische Lebenswelten und Familien thematisieren; ich muss nur in mein Bücherregal schauen. Aber das Besondere an diesem Erlebnis war der rasch aufeinanderfolgende Kontakt mit Büchern und Autoren vollkommen verschiedener Genres, was gerade dadurch ein unglaublich intensives Gesamtbild ergab. Denn man kann in verschiedenen Stilen darüber schreiben, letztendlich rührt man immer wieder an den Schrecknissen der Vergangenheit. Umso mehr wird dem Leser deutlich, wie eng jüdisches Leben mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, eine allen Diskriminierungen zum Trotz über lange Jahrhunderte kulturell fruchtbare Symbiose; eine Kultur, die Großes hervorgebracht hat, bis sie von den Barbaren des letzten Jahrhunderts unwiederbringlich vernichtet wurde. Es ist eine nie verheilende Verletzung, es ist die offene Wunde Europas.

Eigentlich sollte das alles schon vor einem Jahr aufgeschrieben werden, aber irgendwie wollten die Worte nicht so wie ich. Da dieses Jahr aber der Leipziger Buchmesseschwerpunkt den Titel »1965 – 2015. Deutschland – Israel« trägt und damit den 50jährigen Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern würdigt, dachte ich mir, dass es jetzt eigentlich auch perfekt passt. Und dieses Jahr werde ich diese Literaturerfahrung fortsetzen. Eine Karte für »Geschichte von Liebe und Finsternis – Eine lange Nacht der deutsch-israelischen Literatur« habe ich jedenfalls schon. Ausnahmsweise im voraus. Und bin schon sehr gespannt auf Amos Oz, Meir Shalev, Avi Primor und viele andere großartige Schriftsteller.

Zum Photoshooting für dieses Familientreffen wurde übrigens koscheres Bier aus Israel gereicht. In diesem Sinne: Le’chájim!

Bücherinformationen
Frank Schätzing, Breaking News
Verlag Kiepenheuer und Witsch
ISBN 978-3-462-04527-7

Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42404-9

Jonathan Lethem, Der Garten der Dissidenten
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach
Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50116-2

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