Aus vielen einzelnen Stimmen entsteht ein Bild. Das Bild eines Dorfes, einer kleinen Stadt mit ihren Bewohnern, mit all den unterschiedlichen Schicksalen und Lebensläufen. Ihrem Glück, ihrer Trauer, ihren verpassten Chancen, ihrer Liebe, ihrer Verzweiflung, ihrem Hadern, ihren Tränen und ihrem Lachen, kurz: Ihrem Menschsein. Es ist eine literarische Collage, durch die sich die Stadt nach und nach bevölkert, wir Leser langsam Zusammenhänge und Beziehungsgeflechte erkennen können. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, die genau dies mit ihrer Erzähltechnik fertigbringen, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Denn das eine berichtet von den Lebenden, das andere von den Toten. Es sind die Romane »Speicher 13« von Jon McGregor und »Das Feld« von Robert Seethaler. „Die Lebenden und die Toten“ weiterlesen
Älterwerden. Ein Textbaustein*
In der Rubrik Textbausteine stelle ich Textpassagen vor, die mir wichtig sind. Es sind manchmal nur ein paar kurze Sätze, die mich beim Lesen mit einer solchen Wucht getroffen haben, dass ich sie nie wieder vergessen werde. Manche davon begleiten mich schon viele Jahre, über andere bin ich gerade erst gestolpert. Miteinander gemein haben sie, dass sie Gefühle in Worte fassen, für die mir bisher die passenden Worte fehlten oder dass ich sie genau dann gefunden habe, als ich sie brauchte. Gerade ist es mir wieder so ergangen, diesmal mit einer kurzen Textstelle aus dem Buch »Propaganda« von Steffen Kopetzky. „Älterwerden. Ein Textbaustein*“ weiterlesen
Bügeln mit Pearl Jam
Kaum eine Tätigkeit im Haushalt kann ich so wenig leiden wie das Bügeln. Man könnte auch sagen, dass ich es hasse. Wenn man aber in einem Alter ist, in dem zerknitterte Hemden nicht mehr unangepasst, sondern eher ungepflegt aussehen, bleibt einem von Zeit zu Zeit leider nichts anderes übrig, als sich an diese ungeliebte Arbeit zu machen.
Das Gute dabei: Zwar haben in der Wohnung längst Spotify & Co. Einzug gehalten, neben dem Bügelbrett steht aber das unverwüstliche CD-Regal mit seinen Schätzen aus der Vergangenheit. Und so ist das Bügeln meist begleitet von unglaublich lauter Musik (so wie früher) mit entspanntem Headbangen (fast so wie früher). Frank Goosen hat in seinem wunderbaren Buch »So viel Zeit« passende Worte dazu geschrieben: »Musik brachte einen in Kontakt zu jemanden, den man früher gekannt hatte, dem Jemand, der man gewesen ist, bevor man der wurde, der man jetzt war.«
Und genau so ist es. Jeder von uns kennt sie wahrscheinlich, die Erinnerungen, die man mit bestimmter Musik verbindet und die sofort wieder präsent vor einem stehen. Als wären nicht Jahre oder Jahrzehnte vergangen, sondern nur ein paar Wochen.
Als ich kürzlich wieder einmal das Bügeleisen einsteckte und den Lautstärkeregler nach rechts drehte, war dieses Erinnern, dieses Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen Geschichte allerdings so intensiv wie nur ganz selten zuvor. „Bügeln mit Pearl Jam“ weiterlesen
Zehn Sekunden mit Paul Auster
Nach 1259 Seiten war das Buch zu Ende. Zugeklappt lag es vor mir und ich verabschiedete mich schweren Herzens von Archie Ferguson. Es fiel mir schwer, wir hatten einige Wochen miteinander verbracht, waren Vertraute, Freunde geworden. Aber jetzt musste ich ihn ziehen lassen, ihn, den vierfachen Helden aus Paul Austers »4 3 2 1«. Was für ein Roman! Und jetzt überlege ich seit ein paar Tagen, wie ich darüber schreiben soll. Wie sich einem Werk nähern, das bereits seit Wochen in Blogs und im Feuilleton besprochen und hochgelobt wird. Einer der ersten, der über »4 3 2 1« berichtet hat, war Jochen Kienbaum auf lustauflesen.de und er gelangte zum Fazit: »Das schreibe ich selten bis nie: 4321 ist ein Meisterwerk!« Und dem schließe ich mich von ganzem Herzen an.
Ein Meisterwerk also. Aber warum? Was macht dieses Buch so besonders, so anders? „Zehn Sekunden mit Paul Auster“ weiterlesen
Ein Jahr am Abgrund
»Spinner« ist ein früher Roman von Benedict Wells, den er jetzt, sieben Jahre nach Erscheinen, noch einmal überarbeitet hat. Das machte mich neugierig, denn es kommt selten vor, dass ein heutiger Autor ein Buch noch einmal in einer neuen Version veröffentlicht. Also habe ich es gekauft. Angefangen es zu lesen. Nicht mehr damit aufgehört, bis die letzte Seite umgeblättert war. Es hat mich umgehauen. Dabei ist die Handlung an sich schon beinahe banal: Ein junger Mann irrt durch Berlin auf der Suche nach dem Sinn in seinem Leben. Schon tausend Mal gelesen. Aber niemals so. Denn es waren unzählige Sätze und Gedanken in diesem Buch, die mich auf eine Reise zu einem anderen Ich aus einer längst vergangenen Zeit geschickt haben; eine Zeit, lange her, die ich schon beinahe vergessen hatte, die mich aber geprägt hat bis heute. Es wird also gleich mal wieder etwas persönlicher, nur zur Vorwarnung. „Ein Jahr am Abgrund“ weiterlesen
Das Vermächtnis des Suchenden
Am 5. Oktober 2015 ist der schwedische Schriftsteller Henning Mankell an Krebs gestorben. Er war ein Autor, dessen Werk ich nicht nur wegen seiner Romane rund um Kommissar Wallander sehr geschätzt habe. Aber dies hier soll kein Nachruf werden, sondern eine Buchvorstellung. Denn nur kurz vor seinem Tod erschien »Treibsand – Was es heißt ein Mensch zu sein«, seine letzte Veröffentlichung. Sein Abschied.
In »Treibsand« schreibt Mankell über seine Krebserkrankung, über den Schock der Diagnose, über Höhen und Tiefen, Behandlungserfolge, ein Leben zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Todesangst und Trotz. »Ich kann keinen Punkt setzen, weder durch einen tödlichen Ausgang, noch durch eine vollständige Genesung. Ich befinde mich mitten im Prozess. Ein endgültiges Fazit gibt es nicht. Aber das habe ich durchgemacht und erlebt. Die Erzählung hat kein Ende. Sie findet statt. Hiervon handelt dieses Buch. Von meinem Leben. Dem, das war, und dem, das ist.« Er erzählt uns sein Leben, lässt uns teilhaben an Ereignissen, die ihn geprägt, an Beobachtungen, die ihn sein ganzes Leben nicht mehr losgelassen haben und an seinen Gedanken über Identität und das Menschsein. Jedes Kapitel besteht nur aus wenigen Seiten, es sind aneinandergereihte Gedanken, Erlebnisse, ein Plauderton, manchmal schon beinahe anekdotenhaft, aber bei aller Leichtigkeit seiner Sprache geprägt von einem tiefen Ernst. Gedanken, die tief hineinreichen in die menschliche Seele und Spuren eines Lebens beschreiben, das kein einfaches, kein unkompliziertes war. Aber ein intensives. „Das Vermächtnis des Suchenden“ weiterlesen
Weg.Gegangen
Das Buch »An den Rändern der Welt« von Olivier Adam habe ich vor über fünf Monaten gelesen und es hat mich seit Jahren kein Roman so berührt und getroffen wie dieser. Seither überlege ich, wie ich diese Begeisterung in Worte fassen kann. Es fällt mir diesmal nicht leicht und auch jetzt sitze ich schon seit geraumer Zeit vor dem Bildschirm und versuche es wieder einmal aufs Neue. Denn es geht um nichts weniger als alles, was mich in den letzten Jahrzehnten meines Lebens bewegt hat. Und bis heute bewegt. „Weg.Gegangen“ weiterlesen
Wohin geht die Reise?
Wenn ich ein symbolisches Bild für den Begriff Familie finden müsste, würde ich an ein Planetensystem, an eine Galaxie denken. Jeder Planet steht alleine für sich, alle kreisen sie um ein Zentrum, sie ziehen sich an und sie stoßen sich ab, aber keiner kann ohne den anderen sein. Ein geschlossenes System, das man nur verlassen könnte mit einem radikalen Abbruch aller Beziehungen, einem Ausbruch ohne Wiederkehr. Hält man sich lediglich bedeckt, bleibt man trotzdem Teil des Ganzen, ob man will oder nicht. Und kann durch besondere Umstände jederzeit wieder mitten hinein in das Planetensystem gezogen werden. So geht es Lennard Salm, dem Protagonisten des Romans »Über den Winter« von Rolf Lappert. „Wohin geht die Reise?“ weiterlesen
Ein Textbaustein* des Herrn B.
»Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹ sagte Herr K. und erbleichte.«
Dieser kurze Text begleitet mich nun schon ein halbes Leben und ich weiß leider nicht mehr, wo und wann ich ihn das erste Mal gelesen habe. Eigentlich bin ich mit dem Werk von Bertolt Brecht nie ganz warm geworden, es war mir immer zu zäh, die sozialrevolutionären Aussagen passten nicht richtig zu jemanden, der im täglichen Leben wohl eher wenig mit einfachen Arbeitern zu tun hatte. Das Theodor W. Adorno zugeschriebene Zitat bringt dies schön auf den Punkt: »Mit einer silbernen Pinzette hat sich Bertolt Brecht Dreck unter die Fingernägel geschoben, um glaubhaft klassenbewußt proletarisch zu wirken.« Wobei die Beschäftigung mit der Person Brechts sehr faszinierend ist, ein Mann, der mit seinen Stücken dramaturgische Maßstäbe setzte und nach einem Leben voller Anfeindungen und Verfolgung zum Schluss nirgends mehr richtig zu Hause war. „Ein Textbaustein* des Herrn B.“ weiterlesen
In die Falle gegangen? Ein Textbaustein*, mitwachsend
»›Ach‹, sagte die Maus, ›die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.‹ – ›Du musst nur die Laufrichtung ändern‹, sagte die Katze und fraß sie.«
Schon wieder Kafka. Das ist kein Wunder, begleiten mich seine Texte schon seit vielen Jahren, die Kafka-extrem-Woche in Prag war dabei eine meiner intensivsten Leseerfahrungen. Und dieser Text hier, die »Kleine Fabel«, ist diejenige seiner Erzählungen, an die ich am häufigsten denken muss. „In die Falle gegangen? Ein Textbaustein*, mitwachsend“ weiterlesen