Der Künstler und die Macht

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch war einer der bedeutendsten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Wenn man es etwas präziser ausdrücken möchte, dann müsste man sagen, er sei einer der bedeutendsten sowjetischen Komponisten gewesen. Und in diesem feinen Unterschied zwischen russisch und sowjetisch liegt die gesamte Tragik eines Künstlerlebens, das sich in einer totalitären Diktatur bei aller Bedeutsamkeit nicht frei entfalten konnte. Und was dies für einen Menschen wie Schostakowitsch bedeutete, beschreibt Julian Barnes in seinem Roman »Der Lärm der Zeit«.

Mit einer der stärksten Szenen des Buches beginnt gleich das erste Kapitel. Dmitri Schostakowitsch steht am Aufzug seines Hauses und wartet. Er hat einen Koffer bei sich und wartet die ganze Nacht. Diese Nacht, die nächste Nacht, viele weitere Nächte. Es ist das Jahr 1937 und der Terror Stalins hat unfassbare Ausmaße angenommen. Unzählige Menschen werden verhaftet, eingesperrt, gefoltert, erschossen oder in sibirische Arbeitslager geschickt. Ein falsches Wort, eine unbedachte Äußerung, ein Verhalten, das nicht der Norm entspricht oder die Denunziation eines Neiders können reichen, ein Leben auszulöschen. Nacht für Nacht rollen die Transporter des NKWD durch die Straßen, Nacht für Nacht werden Menschen aus ihren Betten geholt und in den dunklen Autos abtransportiert. Männer, Frauen, ganze Familien.

Und genau darauf wartet der einsame Mann am Aufzug. Auf das Abgeholtwerden. Um sich die Demütigung zu ersparen, vor den Augen seiner Frau im Nachthemd aus dem Bett gezerrt zu werden, steht er mit seinem Koffer alleine im kalten Treppenhaus. Zu dieser Zeit ist Dmitri Schostakowitsch schon längst weltberühmt, ist schon seit vielen Jahren ein erfolgreicher Komponist. Doch niemand ist vor Stalin sicher, und seit der Gewaltherrscher die Moskauer Aufführung von Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk vorzeitig verlassen hatte, war sich der Komponist durch diesen Ausdruck von Stalins Missfallen sicher, in Ungnade gefallen zu sein. Was in diesen mörderischen Zeiten im schlimmsten Falle einem Todesurteil gleichkam. Seitdem lebt er auf Abruf. Und wartet auf das Ende.

»Er wollte keine dramatische Figur aus sich machen. Aber manchmal, wenn seine Gedanken in den frühen Morgenstunden hierhin und dorthin zuckten, dann dachte er: Das kommt also beim Lauf der Geschichte heraus. So viel Streben, Idealismus, Hoffnung, Fortschritt, Wissenschaft, Kunst und Gewissen, und am Ende steht ein Mann am Aufzug mit einem kleinen Koffer voller Zigaretten, Unterwäsche und Zahnpulver; er steht da und wartet darauf, dass sie ihn abholen.«

Es kommt natürlich ganz anders, wie ein Blick auf die biographischen Angaben von Schostakowitsch schnell lehrt, der 1975 an einem Herzinfarkt gestorben ist. Aber diese einsamen Nächte im Treppenhaus, die Angst vor einer willkürlichen Verhaftung, vor Verschleppung, vor dem Tod, diese Nächte haben den Künstler gebrochen. Haben ihm gezeigt, wo sein Platz ist im Arbeiter- und Bauernparadies. Haben seine Flügel beschnitten, ihn an die Leine gelegt. Nur sein Talent konnten sie nicht zerbrechen. Doch »von nun an würde es nur zwei Arten von Komponisten geben: Die einen waren am Leben und hatten Angst, die anderen waren tot.«

Denn Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wird zu Recht als einer der großen Musiker des letzten Jahrhunderts bezeichnet, gefeiert in der Sowjetunion, bewundert auf der ganzen Welt. Doch die Frage, die Julian Barnes in seinem Buch stellt, ist jene: Was hätte aus diesem begabten Menschen in Freiheit alles werden können? Zu welchen Werken wäre er fähig gewesen, wenn er nicht dazu verdammt gewesen wäre, sich einem restriktiven System anzupassen. Wir werden es nie erfahren.

Barnes bringt uns in seinem biographischen Roman einen sensiblen Menschen nahe, der versucht hat, bei allen Einschränkungen seinen Weg zu gehen, kleine Freiräume zu suchen, sie zu nutzen, ohne anzuecken. Denn anecken war lebensgefährlich. Gleichzeitig ruscht er immer tiefer hinein in den Sumpf aus Macht, Angst, Protektion und Anpassung. Ernüchternd sind die Gedanken über den bis zur Unkenntlichkeit korrumpierten Prokofieff, frustrierend seine Begegnung mit Nabokov während einer USA-Reise, an der Schostakowitsch als sowjetischer Offizieller teilnimmt. Der in den USA lebende Nabokov treibt ihn mit einer Ansprache in die Enge, in der er an die sowjetische Zensur erinnert, durch die beispielsweise die Werke des großen Strawinsky nicht in Russland aufgeführt werden dürfen. Und Schostakowitsch bleibt in seiner offiziellen Funktion nichts weiter übrig, als dieses Vorgehen zu bejahen, die Zensurmaßnahmen zu verteidigen. Diese Stelle ist eine von vielen, in denen dem Leser klar wird, wie sehr Schostakowitsch ein Gebrochener war, ein Einsamer, einer, der nirgends richtig dazugehörte. Nur zu seiner Kunst, sein Fluch und sein Segen zugleich.

Lange vor dieser USA-Reise war Stalin gestorben und ein ganzes Land hatte aufgeatmet. Doch auch wenn damit die Jahre des Terrors beendet waren, ist die Sowjetunion ein totalitärer Staat geblieben, in dem abweichende Meinungen nicht geduldet werden. Schostakowitsch schafft es nicht, sich freizuschwimmen, zu eng ist sein Schaffen inzwischen mit der Staatsräson verbunden. Um das kleine Quentchen Freiheit zu schützen, dass er in seiner Musik findet, lässt er sich zunehmend vereinnahmen. Sein Name steht in sowjetischen Zeitungen unter Artikeln, die er nicht selbst geschrieben hat, unter Verlautbarungen, die nichts mit ihm zu tun haben; er gehört zu den Mitunterzeichnern offizieller Briefe, die den Abweichler Solschenizyn brandmarken und Sacharow ebenso. Schostakowitsch ist eine Stütze der sowjetischen Kulturpolitik geworden und gleichzeitig ihr Opfer. Gefeiert und überwacht.

Dies ist die Tragik seines Lebens und Julian Barnes findet dafür großartige Worte: »Er hatte lange genug gelebt, um von sich selbst entsetzt zu sein. Das war bei Künstlern häufig so: Entweder verfielen sie in Eitelkeit und hielten sich für größer, als sie waren, oder sie versanken in Enttäuschung. Inzwischen war er oft geneigt, sich für einen langweiligen, mittelmäßigen Komponisten zu halten. Der Selbstzweifel der Jugend ist nichts gegen den Selbstzweifel des Alters. Und das war, vielleicht, ihr letzter Triumph über ihn. Statt ihn umzubringen, hatten sie ihn leben lassen, und indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht. Das war die letzte, unwiderlegbare Ironie seines Lebens.«

Und wer war nun dieser Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch?

Ein großer Musiker.
Ein gebrochener Mann.
Ein unglücklicher Mensch.

Drei Persönlichkeiten in einer Person, und alle drei lernen wir in Julian Barnes‘ brillant geschriebenen Roman kennen; sehen den Mensch hinter dem Werk. In einer Sprache, die sachlich und mitreißend zugleich ist, beschreibt er dieses Künstlerleben im Schatten einer allesverschlingenden Macht. Und schildert eindrucksvoll, wie sehr das Gefühl der Unfreiheit, der ständigen Bespitzelung und Bedrohung Menschen verändert.

Nicht nur Künstler. Sondern jeden Menschen.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Tragödie eines Volkes.

Buchinformation
Julian Barnes, Der Lärm der Zeit
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04888-9

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6 Antworten auf „Der Künstler und die Macht“

  1. Vielen Dank dafür das Du diesen Mann in meinen Fokus gebracht hast. Nicht, dass ich seine Musik nicht kannte. Ich kannte die Musik, aber nicht den Namen des Komponisten. Ich liebe den Walzer NO.2. Und so steht jetzt ein Buch auf meiner Liste für 2018.

    Gruß
    Britta

  2. Obwohl ich kein Musikfan dieser Art bin, finde ich die Person Schostakowitsch wirklich interessant, da er so viel erlebt hat und von so viel geprägt wurde und dennoch der tolle Künstler war. Deswegen finde ich dein dazugehöriges Resümee sehr passend.
    Liebe Grüße
    Joel von Büchervergleich.org

  3. Ich liebe Musik von Schostakowitsch, habe kürzlich gerade wieder einmal seine 1.Sinfonie in f-Moll gehört, die zufälligerweise an meinem Geburtstag, an einem 12.Mai, uraufgeführt wurde :)
    Die Musik ist sensationell, und das Schicksal des Komponisten wirklich tragisch. Für alle Schostakowitsch-Musikfans ist das Buch ein MUSS!
    Wie ironisch (und erschütternd zugleich): auf seinem Grab lag auch ein Kranz des KGB.
    Evelin B. Blauensteiner

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