Das Finale nach dem Finale

Volker Kutscher: Westend

Das habe ich noch nie erlebt: Man freut sich auf ein Buch, kann den Erscheinungstermin kaum erwarten – und als man es schließlich in der Hand hält, weiß man nicht, ob man es überhaupt lesen möchte. So ist es mir gegangen mit »Westend« von Volker Kutscher. Der Name dieses Autors ist hier schon oft gefallen, und wer schon eine Weile im Blog mitliest, der weiß, wie begeistert ich von seiner Buchreihe rund um den Ermittler Gereon Rath bin, die 2007 mit dem ersten Band »Der nasse Fisch« gestartet ist. Danach folgten neun weitere Bände; die Handlung ist im Berlin der Jahre 1929 bis 1938 angesiedelt und sie führt uns mitten hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches«. Tatsächlich gibt es nur selten Romane, die das Leben in dieser Zeit so glaubwürdig schildern, wie diejenigen von Volker Kutscher. Aber das habe ich schon einmal aufgeschrieben, nachzulesen im Beitrag »Der Weg in die Finsternis«, in der ich die Serie komplett vorstelle und dabei erzähle, was die Bücher so besonders macht. Anlass für jenen Text war das Erscheinen des letzten, des zehnten Bands, der den schlichten Titel »Rath« trägt. Mein Fazit: »Der Schluss von ›Rath‹ ist so gelungen wie die gesamte Buchreihe. Ein dünner Rest Hoffnung bleibt, während Dunkelheit und Nebelschwaden alles verhüllen – wie ein prophetischer Blick auf das, was kommen wird.« 

Und genau so war es: Das Ende der Reihe ist perfekt. Es bleiben viele offene Fragen – und alles verliert sich in der Dunkelheit. Ein anderer Schluss wäre angesichts des komplexen Figurentableaus, das über zehn Bände aufgebaut wurde, nicht glaubwürdig und kaum denkbar gewesen. Und jetzt, ein Jahr später, liefert Volker Kutscher noch einen schmalen Band nach: »Westend« hat gerade einmal 104 Seiten Text und führt ins Jahr 1973, es sind also 35 Jahre vergangen seit dem Ende in der Buchreihe. Wir begegnen Gereon Rath erneut, er lebt inzwischen alleine im Seniorenheim Westend in Berlin. Und ja, es wird Antworten auf die offenen Fragen am Ende des Abschlussbands geben, zumindest auf einige. Doch als das Buch dann vor mir lag, war ich mir mit einem Mal gar nicht mehr sicher, ob ich diese Antworten überhaupt hören möchte. Würden sie das perfekte Ende der Reihe nicht zerstören? Sorgten die ungewissen Schicksale der Protagonisten nicht für Kopfkino vom Feinsten und waren der bestmögliche Abschluss überhaupt? Aber natürlich siegte die Neugier, und ich habe »Westend« in einem Rutsch durchgelesen. Und selbstverständlich werde ich hier nichts von den Überraschungen wiedergeben, die der kurze Roman bietet – und das sind nicht wenige. 

Schon auf der ersten Seite lässt Volker Kutscher drei Zeitebenen entstehen. In einem Vorwort beschreibt M. Kayser vom Historischen Seminar der Universität zu Köln, wie im Nachlass des emeritierten Professors Hans Singer zwei C-60-Tonbandkassetten gefunden wurden, die keinem seiner Forschungsprojekte zugeordnet werden konnten. Professor Singer war im Januar 2025 gestorben; Kayser übernahm als wissenschaftliche Hilfskraft die Auswertung und Transkription der Aufnahmen. Es handelte sich dabei um ein aufgezeichnetes Gespräch aus dem Jahr 1973: Der damals noch junge Hans Singer interviewte den Kriminalhauptkommissar a.D. Gereon Rath, der 74-jährig in einem Altenwohnheim in Berlin lebte. Als Zeitzeugengespräch, in dem es um die Polizeiarbeit in Berlin von der Weimarer Republik über das »Dritte Reich« bis hinein in die Nachkriegszeit gehen sollte. 

Der sich daran anschließende Text ist ein Gesprächsprotokoll – daraus besteht das gesamte Buch Das mag nüchtern, sogar etwas spröde klingen, doch dies täuscht. Denn trotz der Protokollform schafft es Volker Kutscher, sofort eine Spannung aufzubauen, die von Beginn an mitschwingt. Dabei ist es ein reizvoller Kniff, einen Romanhelden, den man zwischen dessen dreißigsten und achtunddreißigsten Lebensjahr begleitet hat, in einem neuen Buch als alten – okay: älteren – Herrn wiederzutreffen. Wobei das »Held« in »Romanheld« nicht wörtlich gemeint ist: Gereon Rath war jemand, der immer zwischen den Stühlen saß, sich nach 1933 viel zu lange einzureden versuchte, dass Polizeiarbeit nichts mit Politik zu tun habe und die Menschen in seinem Umfeld regelmäßig vor den Kopf gestoßen hat – besonders seine Frau Charlotte »Charly« Rath, geb. Ritter, die in den letzten zwei, drei Bänden zur Hauptperson der Reihe wurde.

In einem ZEIT-Interview zu »Westend« charakterisierte Volker Kutscher seinen »Helden« so: »Gereon Rath ist ein egoistischer Mistkerl. Wie die allermeisten in seiner Generation hat er sich verstrickt, war vielleicht kein überzeugter Nazi, hat aber mindestens einmal den rechten Arm gehoben. Das hat sich aus seiner Figur im Laufe der Romane so ergeben. Genauso kann ich nicht mit Sicherheit sagen, was ich selbst getan hätte – oder tun würde. Wenn heute jemand beteuert, sie oder er hätte bestimmt im Widerstand gekämpft, da denke ich mir immer: Mit dieser Naivität wärst du sicher unter den ersten Mitläufern gewesen.« 

Genau dies ist ein Grund für den Reiz der Reihe: Dieses tiefe Eintauchen in den Alltag jener Zeit mit Hilfe vieler fein gezeichneter Figuren, allen voran eben Gereon Rath. Im Alter ist er nicht menschenfreundlicher geworden; im Gespräch mit seinem Interviewer wird er zu den unterschiedlichsten Ereignissen befragt, mit denen sein Berufsleben verknüpft ist. Und beginnt, Dinge abzuschwächen, schönzureden oder Details zu verschweigen – als Leser der Reihe ertappt man ihn jedes Mal dabei. An der Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass man mit »Westend« vermutlich nicht ganz so viel anfangen kann, wenn man die Buchreihe nicht kennt. 

Bevor ich beruflich in der Buchbranche gelandet bin, war ich ein paar Jahre als Altenpflegehelfer tätig – und beim Lesen hatte ich sofort das Zimmer oder das kleine Apartment vor Augen, in dem Gereon Rath jetzt lebt. Möbel, die nicht ganz zusammenpassen, da sie die Reste eines aufgelösten Haushalts sind. Ein Sessel, etwas abgewetzt. Ein Beistelltisch, auf dem ein Wasserglas steht, das schon den zweiten oder dritten Tag benutzt wird. Vielleicht ein paar gerahmte Bilder auf der Anrichte, eine Tagesgardine, die den Blick auf einen Hof abmildert. Und ein Mann in diesem Zimmer, der sein Leben gelebt hat; ein Leben mit Höhen und Tiefen und ein paar dunklen Flecken, an die er nicht mehr zu denken versucht. Einsamkeit steht fast greifbar im Raum. Und das verwunderte Staunen, wie schnell ein Leben vorbeigeht. 

Im Laufe des Gesprächs werden die Fragen immer persönlicher, der Interviewer weiß erstaunlich gut Bescheid über so manche Details, die nicht nur Gereons Leben prägten und veränderten. Bis diesem plötzlich klar wird, wer ihn da eigentlich interviewt – und damit entsteht eine völlig neue Situation. Für beide. 

Und wir erfahren dann in der Tat, wie es mit einigen zentralen Personen der Buchreihe nach 1938 weiterging, mit Gereon, mit Charly, mit Fritze, mit Wilhelm Böhm, Sebastian Tornow und anderen. Wir hören vom Untertauchen, vom Weitermachen, vom Neuanfang nach 1945, als viele Nazis plötzlich keine Nazis mehr waren, egal ob in der Bundesrepublik oder in der DDR. Wir erfahren von einer Intrige aus dem Jahr 1953, in die Gereon Rath verwickelt war, lesen über die Gesellschaft in einem geteilten Land, in dem es keinen Raum für Schuldfragen gab. Und wir finden wieder einmal William Faulkners berühmten Satz bestätigt: »Das Vergangene ist nie tot. Es ist nicht einmal vergangen.« 

Volker Kutscher hat mit diesem Band in der Tat einen Schlussstein gesetzt, der seiner Reihe einen brillanten letzten Feinschliff verleiht und deren offenes Ende keineswegs zerstört, ihm vielmehr weitere Dramatik verleiht. Von der Künstlerin und Illustratorin Kat Menschik wurde das Buch wunderschön gestaltet – ein Schlussstein als Gesamtkunstwerk. 

Buchinformation
Volker Kutscher, Westend
Illustriert von Kat Menschik
Galiani Verlag
ISBN 978-3-86971-323-6

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4 Antworten auf „Das Finale nach dem Finale“

  1. Lieber Kaffeehaussitzer!
    Ähnliche Gedanken wie Sie bezüglich der Lektüre von „Westend“ habe ich mir bis gerade eben auch gemacht – aber nach dem Lesen Ihres Blogbeitrags bin ich so neugierig, dass ich gleich morgen in „meine“ Buchhandlung eilen werde.
    Herzlichen Dank fürs „Anfixen“!
    Heidi Scholzen

  2. Hallo, lieber Kaffeehaussitzer,
    Ich bin so oft Ihrer Meinung, aber hier?
    Was für ein hartes Urteil. Ich habe Gereon Rath so nie empfunden. Er wollte doch nur was alle Menschen wollen, ein bisschen Glück, auch in schweren Zeiten. Zeiten, die schwerer waren, als es sich irgend jemand heute vorstellen kann. Im Gegenzug fand ich, dass Volker Kutscher Charlys Charakter immer stärker dem heutigen Zeitgeist und Lesergeschmack angepasst hat. (Man spürt es, wenn man Originalquellen aus der Zeit liest). Trotzdem, ein Happyend in Band 10 hätte mich gefreut. Es sind doch immer noch Unterhaltungsromane, wenn auch ziemlich gute.
    Herzliche Grüße
    J. K.

    1. Das harsche Urteil kommt ja vom Autor selbst – ich selbst mochte genau diese Ambivalenz von Gereon Rath immer sehr. Genau das macht für mich den Reiz der Reihe aus. Als Leser war ich immer auf Gereons Seite, auch wenn ich sein Handeln manchmal nicht ganz nachvollziehen konnte.
      Ein Happy End wäre meiner Meinung nach unpassend gewesen, zumal ich Bücher ohne glücklichen Ausgang und dafür mit einem offenen Ende am liebsten mag.
      Aber das ist natürlich Geschmackssache.
      Herzliche Grüße
      Uwe Kalkowski

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