Erster Weltkrieg privat

Vor ein paar Jahren ist eine Bewohnerin unserer Straße 100 Jahre alt geworden. Alle Nachbarn waren vor dem Haus versammelt, um ihr zu gratulieren, Bierbänke wurden aufgestellt und es gab Kölsch. Im Verlauf der kleinen Feier unterhielt ich mich kurz mit der Jubilarin und sie erzählte mir von einer ihrer ersten Erinnerungen, damals, als sie ein fünfjähriges Mädchen war: Sie wusste heute noch, wie ihr Vater aus dem Krieg zurückkehrte. Ich musste kurz überlegen, bis mir klar wurde, dass sie vom Ersten Weltkrieg sprach. Da lief mir ein Schauer über den Rücken, ein direkter Kontakt mit einer Zeitzeugin einer solch fernen Epoche ist selten geworden und wird in wenigen Jahren nicht mehr möglich sein. Und erzählte Geschichte ist Thema des Buches, das ich hier vorstellen möchte.

An Büchern über den Ersten Weltkrieg herrschte gerade im Gedenkjahr 2014 beileibe kein Mangel, Bücher über die Ursachen, über den Verlauf, über einzelne Aspekte, über globale Zusammenhänge, über kulturgeschichtliche Erkenntnisse. Aber was dachten die Menschen, die in dieser Zeit lebten? Wie lebten sie? Was empfanden sie? Was erduldeten, ertrugen, erlitten sie? Welche Spuren haben die Kriegsjahre in ihnen hinterlassen? Und: Wer waren sie? Was haben sie davon berichtet? Hier sticht ein Buch aus der Masse hervor. Es ist »Schönheit und Schrecken« von Peter Englund.

Der Untertitel beschreibt es perfekt: »Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen«. Um es gleich vorweg zu nehmen, es ist ein großartiges Projekt, gekonnt umgesetzt und mitreißend aufgeschrieben. Peter Englund hat sich neunzehn Personen näher angeschaut, die 1914 den Kriegsausbruch miterlebten und anhand ihrer Briefe, Tagebuchaufzeichnungen oder Berichte von Freunden und Verwandten ihr Leben während der folgenden vier Jahre akribisch recherchiert und nachgezeichnet.

Es sind vollkommen unterschiedliche Menschen, die porträtiert werden und die wir über vier Jahre lang begleiten. Wir sehen aus der Draufsicht eines Beobachters wie sich  die Neunzehn von überallher auf den Weg machen, ihrem Schicksal entgegen.

Wir lernen einen dänischen Preußen kennen, der sich vor allem als Däne fühlt und nicht in den Krieg ziehen möchte. Einen draufgängerischen Engländer, der den Krieg als Chance sieht, aus seinem öden Alltag auszubrechen und tatsächlich zu einem furchtlosen Kämpfer wird. Einen italienischstämmigen New Yorker, der sich freiwillig meldet, um für Italien zu kämpfen und nach den ersten Fronterlebnissen in einer Nervenheilanstalt landet. Einen Artilleristen aus einer alteingesessenen jüdischen Frankfurter Familie, der bis zum Ende an die Gerechtigkeit der deutschen Sache glaubt. Einen Neuseeländer, der in Mesopotamien in türkische Gefangenschaft gerät. Eine Engländerin die als Sanitäterin für eine Einheit arbeitet, die von Suffragetten aufgestellt wurde, mit modernsten Krankenwagen ausgerüstet ist und in der ausschließlich Frauen Dienst tun – erst in Frankreich, dann für die serbische Armee im griechischen Feldlager. Einen österreichisch-ungarischen Kavalleristen, der zu Beginn hoch zu Ross in den Krieg reitet, dann aber mit der bitteren Realität moderner Waffentechnik konfrontiert wird. Eine Engländerin, schon lange als Haushälterin in Russland lebend, die sich freiwillig als Sanitäterin für das russische Heer meldet. Ein zwölfjähriges Mädchen aus einer deutschen Kleinstadt, die in Jahren voller Entbehrungen zu einer jungen Frau heranwächst. Einen französischen Beamten, der bedingt durch seine Tätigkeit im Ministerium nie eine Front auch nur von weitem sieht, aber die Kriegseuphorie ablehnt und sehr genau die Stimmung auf den Straßen von Paris dokumentiert. Einen südamerikanischen Lebemann und Abenteurer, der unbedingt bei diesem Krieg mitkämpfen möchte, egal wo, und schließlich als Freiwilliger in der türkischen Armee Augenzeuge des Völkermordes an den Armeniern wird. Einen australischen Ingenieur, der  als Pionieroffizier das katastrophal scheiternde Landungsunternehmen von Gallipoli mitmacht. Einen französischen Infanteristen, der irgendwie die Hölle von Verdun überlebt. Einen russischen Offizier, dessen Standes- und Wertvorstellungen von der Revolution davongespült werden. Einen englischen Soldaten im Dschungel Afrikas auf der Suche nach den deutschen Kolonialtruppen, dem die feindliche Natur mehr zu schaffen macht, als der eigentliche Krieg. Einen deutschen Matrosen, der sich die meiste Zeit auf seinem Schiff im Hafen langweilt und sieht, wie die Unzufriedenheit der Matrosen stetig zunimmt. Und noch mehr Personen, die uns im Laufe des Buches immer vertrauter werden. Nicht alle werden die vier Jahre überleben.

Durch die sehr unterschiedliche Herkunft und die sehr voneinander abweichenden Lebensläufe wird dem Leser die globale Dimension des Ersten Weltkriegs klar, weltweit waren Menschen davon betroffen. Englund berichtet streng chronologisch, so dass alle zwei, drei Seiten die Perspektive wechselt und wir immer wieder reihum die Protagonisten der Erzählung erleben. Nur dass es eben keine Erzählung ist, sondern das erzählerische Protokoll wahrer Biographien. Viel bewegender und mitreißender, als es ein Roman je sein kann. Wir haben Teil an den Gedanken der neunzehn Porträtierten, erleben mit, was mit ihnen geschieht, wie sich ihre Einstellungen und Meinungen ändern, leiden mit ihnen, hoffen mit ihnen und versuchen zu verstehen, was sie bewegt.

Viel näher kann man der Zeit zwischen 1914 und 1918 nicht kommen.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformation
Peter Englund, Schönheit und Schrecken
– Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in neunzehn Schicksalen
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-87134-670-5

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3 Antworten auf „Erster Weltkrieg privat“

  1. Wahnsinn – ein Gespräch mit einer Zeitzeugin! Da gibt es wirklich nicht mehr viele Menschen, mit denen man sich über Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges unterhalten kann. Mein erster und eigentlich auch letzter Austausch mit Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs war während meines Zivildienstes – natürlich in einem Altenheim -, das fand ich auch eindrücklich. Wenn man die papierene Hand einer Frau hält, die dann erzählt, wie sie am Vorabend des Ersten Weltkrieges als junge Frau dem Kaiser zugejubelt hat. Oder jene von mir sehr geschätzte Frau, die ihre Kindheit als Deutsche in Odessa (Odessa! Das war wie die Wiederauferstehung eines ganz und gar mythischen Zeitalters.), die wegen des Ersten Weltkrieges diese Stadt verlassen musste. (Nebenbei: Diese Frau vertiefte sich als bereits betagte Frau in die in den 70er-Jahren erscheinenden Bücher von Carlos Castaneda und vermachte sie mir zum Abschied. Ich empfinde jetzt noch Ehrfurcht, wenn ich die Bücher in den Händen halte, aber das ist jetzt eine andere Geschichte.) Aber diese Erfahrungen liegen auch schon rund 20 Jahre zurück. Bald ist niemand mehr da.

    1. Ich war auch Zivi in einem Altenheim. Ein älterer Herr erzählte mir, wie er als Kind vom Freiburger Münsterturm aus bei schönem Wetter die Granateinschläge auf dem umkämpften Hartmannsweilerkopf in den Vogesen sehen konnte. Eine 104jährige berichtete, wie sie den Kaiser zusammen mit dem sächsischen König bei einer Parade in Dresden gesehen hat. Da ging es mir wie Dir – man wird sehr, sehr ehrfürchtig, weil man da erst so richtig gemerkt hat, wie alt diese Menschen waren und was sie alles erlebt haben. Erleben mussten.

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