Tod eines Jägers

Roberto Saviano: Falcone

Der 23. Mai 1992 war ein Samstag. Giovanni Falcone und seine Ehefrau Francesca Morvillo fuhren – vom Flughafen in Palermo kommend – zu ihrem Wochenendhaus, als eine gewaltige Explosion ihr Auto zerstörte. In einer Abwasserröhre unter der Autobahn war eine halbe Tonne Sprengstoff deponiert gewesen; der Mafia-Jäger Falcone, seine Frau und drei Leibwächter starben in den rauchenden Trümmern. Das liegt nun schon lange zurück, aber ich kann mich gut an die Nachrichten erinnern, die über diesen Anschlag berichteten – denn die Meldung ging damals um die Welt. Doch welche Bedeutung Giovanni Falcone hatte, wie unermüdlich er den Kampf gegen das organisierte Verbrechen führte und welchen Mut es brauchte, niemals aufzugeben oder sich einschüchtern zu lassen – das hat mir erst dieses Buch klar vor Augen geführt: »Falcone« von Roberto Saviano. Ein Roman.

Der Autor Roberto Saviano kennt diesen Mut – und die damit verbundene permanente Angst – nur zu gut: Seit vielen Jahren schreibt er gegen die Mafiastrukturen, gegen das organisierte Verbrechen an. Nennt Namen, Verflechtungen, Geldströme und wählt dabei die Form des Sachbuchs ebenso wie die des Romans. 2006 erschien sein großes Werk »Gomorrha«, in dem er die mafiösen Strukturen seiner Heimatstadt Neapel ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zerrte. Mit all ihrer Gnadenlosigkeit und primitiven Brutalität. Seitdem erhält er Morddrohungen, steht unter Personenschutz, wechselt permanent seine Wohnungen und weiß, dass ihn die kleinste Unachtsamkeit töten würde. Die Ermordung des Schriftstellers Guiseppe Fava zeigte schon in den Achtzigern, wie ernst die Lage für Autoren werden kann.  

In seinem Roman »Falcone« erzählt Roberto Saviano die Lebens- und Wirkungsgeschichte des berühmten Mafiajägers; beides ist dabei aufs Engste miteinander verzahnt. Der Jurist war als Anwalt und als Untersuchungsrichter tätig und hatte der sizilianischen Mafia, der »Cosa Nostra«, den Kampf angesagt. Immer wieder sticht er hinein in ein Geflecht aus Lügen und Vertuschungen, in ein komplexes System aus Gefälligkeiten und Abhängigkeiten, aus Bestechung, Korruption und Erpressung. Permanent liegt Gewalt in Luft, Zeugen verstummen oder verschwinden, Kollegen und Weggefährten werden ermordet, geben auf oder lassen sich versetzen. Doch Falcone und ein kleiner Kreis Getreuer machen weiter; es ist ein Kampf, der vom Schreibtisch aus geführt wird. Ein Kampf, der Jahre dauert. Und der nach zahlreichen Rückschlägen und auszuräumenden Hindernissen die Mafia bis ins Mark trifft. 

»Falcone kreist mit dem Bleistift auf den Papieren, die über seinen Schreibtisch verteilt sind, Namen ein. Namen von Mafiosi, Bankangestellten und Unternehmern. Bis vor einiger Zeit hätte niemand gedacht, dass man sie miteinander in Verbindung bringen könnte. Noch heute erscheint es vielen unmöglich. Doch obwohl das Gewebe insgesamt verworren ist, gibt es einen Faden, der sie verbindet, immer derselbe. Er macht viele Windungen, zugegeben, manchmal wird er auch so dünn, dass er nicht zu existieren scheint, er verschwindet, dann wieder wickelt er sich um sich selbst, verknotet sich, verknäult, aber er bleibt doch ein Faden. Ein einziger, verfluchter Faden. Und er besteht aus Geld.«

Und jener Faden, die Geldspur, führt ihn und sein Team immer weiter hinein in ein System, das sich wie ein Krebsgeschwür tief in die italienische Gesellschaft und Politik hineingefressen hat – und man kann sich vorstellen, wie viele Feinde er sich im Laufe seiner Ermittlungen macht. 

Es ist »das Gefühl, zu einem Organismus zu gehören, in dem die schädlichen Zellen alles tun, um die gesunden zu zerstören, wie bei den schlimmsten Krankheiten.«

Diese Geschichte, die Geschichte eines Mannes, der nicht aufgibt, als Roman zu erzählen, ist große Kunst. Denn das Ende steht fest, wir Leser wissen, wie es für Giovanni Falcone und Francesca Morvillo ausgehen wird, an jenem 23. Mai 1992. Doch Roberto Saviano schafft es, mit seiner wuchtig-poetischen Sprache, die sich ab und zu einen Hauch Pathos gönnt, einen Spannungsbogen zu erzeugen, der nie abreißt. Dazu trägt die Erzählweise bei, denn durch die gewählte Form des Präsens wirkt alles Erlebte unmittelbar, so, als seien wir unsichtbare Beobachter eines Dramas in den Straßen Palermos.

Dazu trägt bei, wie empathisch es der Autor schafft, sich in den Menschen Falcone hineinzuversetzen, dessen Sorgen, dessen Ängste zum Ausdruck zu bringen. Aber auch Falcones Wut, seine Freude über den Ausgang des legendären Mammutprozesses (bei dem 346 schuldig gesprochene Mafiosi insgesamt 2.665 Jahre Gefängnisstrafe erhalten), seine Enttäuschung darüber, anschließend von der Politik ausgebremst, von der Presse als geltungssüchtig diffamiert zu werden. Und seine große Liebe zu seiner Frau, sein unbedingtes Vertrauen gegenüber einem kleinen Kreis engster Freunde.  

Und dazu trägt ein gelegentlicher Perspektivwechsel bei, bei dem wir immer wieder einen Blick ins Mafia-Umfeld werfen. Zeugen von Morden werden, von Gesprächen in den Hinterzimmern der Restaurants oder in abgelegenen Bauernhöfen. Erleben, wie die Bosse nervös werden, wie das Todesurteil über Falcone gesprochen wird. Auch bei der minutiösen Vorbereitung des Bombenattentats fiebern wir mit – in der irrationalen Hoffnung, dass es scheitern könnte. Aber natürlich ist dies nicht der Fall. Und nein, es gibt keine Mafia-Romantik, die uns in Filmen und Serien vorgegaukelt wird, von »Der Pate« bis zu »Die Sopranos«. Das organisierte Verbrechen, egal in welcher Form oder unter welchem Namen ist – ich muss den Vergleich noch einmal bemühen, aber es gibt keinen treffenderen – das Krebsgeschwür einer Gesellschaft. Ein Krebsgeschwür, das nie verschwinden wird, aber das man trotzdem nie aufhören darf, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Und dieser Roman macht das deutlich, immer und immer wieder. 

Das Titelbild des Buches zeigt ein Bild von Giovanni Falcone als Gemälde. Unauffällig wirkt er auf den ersten Blick, mit seinem Schnauzbart und seinem etwas schütteren Haar. Doch dies täuscht. Das Bild zeigt einen Menschen, der sein Leben dem Kampf gegen das Verbrechen geweiht hat, der niemals aufgab und keinen Schritt zurückwich, auch wenn er geahnt hat, dass es tödlich enden würde. Das Bild zeigt einen Helden. Er wurde 53 Jahre alt. 

Und mit einer letzten Textstelle beende ich die Vorstellung dieses grandiosen Buches. Bitte lest es. 

»Giovanni ist kein Mann für alle Zeiten. Vielleicht redet er sich immer noch ein, er könnte die Zeiten ändern. 
Da draußen gibt es Leute, die das als einen Anspruch auf Göttlichkeit sehen. Aber es ist nur eine Sisyphos-Arbeit. Die naive, ewig unbelehrbare Illusion, ein Gewicht auf dem Menschenrücken tragen zu können, das nichts Menschliches hat. 
Giovanni geht allein ins Gericht zurück. Der Himmel ist grau. Es wird bald regnen. 
Wenn jemand den Mut hat, sage er Sisyphos, dass er privilegiert ist. Dass er Karriere machen will. Dass er geltungssüchtig ist. 
Sisyphos wird niemals am Gipfel des Berges ankommen. Das weiß er genau. Und trotzdem geht er weiter, immer weiter, klettert an der Bergflanke empor, mit hängenden Schultern, den Rücken gekrümmt unter dem Gewicht des Felsbrockens. 
Das macht keinen Gott aus ihm, bewahre. Es macht ihn zu einem großen Mann.«

Buchinformation
Roberto Saviano, Falcone
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-27950-6

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4 Antworten auf „Tod eines Jägers“

  1. Hallo Uwe,
    ich habe das Buch im Frühjahr/Sommer ebenfalls gelesen, aber auch ein bisschen durchgekämpft, ob der Fülle an Namen und Ereignissen. Es war mir schon wie bei Savianos Erstling ein wenig zu viel der Information. Dennoch ist das ein großartiges Werk, dass einem Mann gewidmet ist, der sich niemals hat vereinnahmen lassen und der auch seiner Linie trotz aller Gegenwinde treu geblieben ist – bis zum bitteren Ende. War es unvermeidlich? Das sicher nicht, aber da hätten andere Mitspieler aus Wirtschaft und Politik genau dieselbe Treue und ehrliche Linie fahren müssen, was leider nicht passiert ist.

    Auf jeden Fall sehr schön zu sehen, das wir wieder einmal eine Überschneidung beim Lesen hatten und das sogar relativ gleichzeitig,

    Viele Grüße
    Marc

    1. Hallo Marc,
      ja, viele der Namen und Zusammenhänge haben sich erst im Laufe der Lektüre erschlossen, aber ich finde, dass dies auch zum Spannungsbogen beiträgt, der das Buch prägt. Dazwischen habe ich immer wieder Wikepedia etc. bemüht und dadurch noch mehr Hintergrundinformationen erhalten.
      Und ja, wir haben das recht gleichzeitig gelesen, ich im April/Mai 2025.
      Immer schön, von Dir zu hören.
      Viele Grüße
      Uwe

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