»Du wirst geboren und vierzig Jahre später humpelst du aufgeschreckt von deinen Wehwehchen aus einer Bar. Niemand kennt dich. Du fährst über nachtschwarze Highways und erfindest ein Ziel, denn es kommt darauf an, in Bewegung zu bleiben. Deshalb steuerst du auf das Letzte zu, was du zu verlieren hast, ohne eine Ahnung, was du damit anfangen sollst.« Klingt ziemlich düster. Ist es auch. So wie es eben sein muss, denn Nic Pizzolatto hat mit »Galveston« einen ganz und gar großartigen Noir-Krimi geschrieben.
In Bewegung bleiben – das ist das Credo von Roy Cady, denn er ist auf der Flucht. Eigentlich ist er ein Eintreiber, ein Killer im Dienste des Gangsterbosses Stan Pitko in New Orleans. Stan wollte ihn loswerden und hatte Roy in einen Hinterhalt geschickt. Doch Cady schaffte es, sich den Weg freizuschießen und fährt nun um sein Leben. Möglichst weit weg von New Orleans, nach Westen, nach Texas. So weit, so unüberraschend. Er ist allerdings nicht alleine, sondern hat auch einer jungen Prostituierten bei seinem Entkommen das Leben gerettet, Raquel, die Rocky genannt werden will, fast noch ein Teenager. Dieses ungleiche Paar ist unterwegs durch die Nacht, immer in Bewegung bleibend.
Roy Cady hat ein Leben hinter sich, in dem es kaum Platz für Schönes gab. Nachdem der Vater tödlich verunglückt war und die Mutter sich von einer Brücke gestürzt hatte, wuchs er in einem Waisenhaus auf, wo die Kinder als erzieherische Maßnahme auf den endlosen Baumwollfeldern des Südens schuften mussten. Mit 17 ergatterte er einen Job in einer Bar, der Besitzer war in zahlreiche illegale Aktivitäten verwickelt und so rutschte Cady in das Milieu, wurde von Gangsterboss zu Gangsterboss weitergereicht, die alle seine knallharte Art, Aussenstände einzutreiben zu schätzen wussten.
Ein Leben voller Trostlosigkeit, »zwischen den kalten Wänden des Zimmers geisterte wabernd ein gebrochenes Versprechen umher. Verflossene Hoffnungen schlugen wie Geisterhunde in meiner Brust an, die alten Enttäuschungen, die alte Missgunst, es kotzte mich an, dass sie mir an diesem Morgen wieder im Nacken hingen, sie mich durch die Jahre immer wieder aufspürten.«
Irgendwo auf halber Strecke wird Cady von Rocky zu dem baufälligen Bretterschuppen gelotst, in dem ihr versoffener, gewalttätiger Vater lebt, vor dem sie nach New Orleans abgehauen war. Sie holt dort Tiffany ab, ein vierjähriges Mädchen, ihre Schwester, und so sind sie nun zu dritt auf der Flucht. Cady passt das alles gar nicht, er will die Mädchen loswerden, fühlt sich aber mehr und mehr verantwortlich für die beiden. Sie landen in Galveston, einem Ort auf einer Insel vor der texanischen Golfküste und quartieren sich in einem heruntergekommenen Motel ein. Roy möchte, dass Rocky sich einen vernünftigen Job sucht, damit er ohne Gewissensbisse alleine seine Flucht fortsetzen kann. Inmitten der schwülen Hitze des Golfs von Mexiko, unter einem stahlblauen Himmel mit einer Luft, in der man als Leser das Salz zu schmecken meint, nimmt dann das Drama seinen Lauf. Denn natürlich kommt alles ganz anders.
Ein Mal, ein einziges Mal war Roy in seinem Leben verliebt gewesen, in Loraine, ein Mädchen aus bürgerlichem Hause, das ihn verlassen hat, als er wegen Körperverletzung in Gefängnis musste. Dies liegt 20 Jahre zurück, er verklärt diese Zeit, träumt davon, sie eines Tages wiederzusehen, doch »jetzt wusste ich, dass die Vergangenheit nicht existierte. Sie war bloß eine eine Einbildung, und das, was ich berühren, spüren, woran ich mich anlehnen wollte, existierte ebenso wenig. Auch das war nur eine Einbildung. Ich glaube, man muss ziemlich vorsichtig sein, wie man mit seinen Erinnerungen umgeht.«
Die Jahre kamen und gingen, all die Gewalt und Trostlosigkeit seines Lebens machten aus Cady einen Zyniker, fatalistisch und einsam. »Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, war es so still, dass das Ticken des Weckers nachzuhallen schien. Das leise Geräusch sagte mir, dass es spät war, später wurde und noch später. Zeit war vergangen. Ich war alt.«
Das Gefühl, für die beiden Mädchen so etwas wie Verantwortung zu übernehmen, kommt schleichend, es ist überraschend für ihn, er wehrt sich zuerst dagegen, will der einsame Wolf bleiben, der er nun einmal ist. Doch die Fassade beginnt zu bröckeln. Und die behutsame Beschreibung, wie der abgebrühte Killer menschliche Regungen in sich zu spüren beginnt, in Verbindung mit einer dramatischen Fluchtgeschichte – das macht den Reiz dieses Romans aus. Und die Story zu etwas Besonderem.
Aufmerksam geworden bin ich auf das Buch durch die Besprechung im Blog Literaturen. Als ich dann kurz darauf bei einem Besuch in Berlin die fantastisch sortierte Buchhandlung Hundt Hammer Stein betrat, lächelte mir »Galveston« vom Krimiregal herunter zu. Ein Zeichen. Also kaufte ich das Buch und habe es auf der Rückfahrt nach Köln in einem Rutsch durchgelesen. Und bin begeistert. Von der Geschichte mit einigen unerwarteten Wendungen, von der Schilderung der texanischen Meeresküste, von der ich noch nie etwas gehört oder gelesen hatte und natürlich von der Sprache. Lakonisch, hart, poetisch.
An der Menge der Zitate merkt man vielleicht, wie sehr mich diese Sprache beeindruckt hat. Auf jeden Fall ist »Galveston« ein Buch, dass mir in Erinnerung bleiben wird. Vielleicht einen letzten Satz noch, der ein Gefühl beschreibt, das so manch anderer auch kennen mag: »Vierzig Jahre lief ich jetzt mit demselben Gesicht herum, und trotzdem erwartete ein Teil von mir immer noch, einen anderen Kerl im Spiegel zu sehen.«
Es braucht heute keine Beweise mehr, dass ein Kriminalroman auch große Literatur sein kann. Aber dieses Buch liefert trotzdem einen.
Wer sich mehr mit dem Noir-Genre beschäftigen möchte: Peter Huber geht auf seinem Blog crimenoir der Frage nach Was ist noir? und der Polar-Verlag ist hat mit Polar-Noir eine verlagsübergreifende Plattform zum Noir-Genre geschaffen.
Buchinformation
Nic Pizzolatto, Galveston
Aus dem Amerikanischen von Gunter Blank
Metrolit Verlag
ISBN 978-3-8493-0097-5
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Über den Autor ist auch noch interessant zu wissen, dass er der Erfinder und Drehbuchautor der erfolgreichen TV-Serie „True Detective“ ist.
Ja, nachdem er mit „Galveston“ den schriftstellerischen Durchbruch hatte, wurde er als Drehbuchautor tätig und hat uns diese großartige HBO-Serie beschert…
Ja, das ging schon manchem so mit Hundt Hammer Stein – das ist kein Zufall, das ist Fügung.
Und mein Exemplar kommt hoffentlich auch bald an … hätte ich es nicht schon „geordert“ – jetzt wäre es soweit gewesen. Hundt Hammer Stein ist übrigens immer sehr „gefährlich“ ;) Danke für die wie immer fundierte Rezension.
Bri
Danke dir. Das Buch ist fürwahr „feiner reiner Buchstoff“. Bei Hundt Hammer Stein bin ich eher durch Zufall vorbeigekommen und war sehr begeistert von der Auswahl dort.
Ich danke dir für diese spannende Besprechung, ich habe mir das Buch vor kurzem gekauft und freue mich nun noch mehr auf die Lektüre! Besonders die von dir ausgewählten Zitate haben mich beeindruckt und machen mich sehr neugierig darauf, das Buch zu lesen!
Bin sehr gespannt, wie es dir gefällt und freue mich schon, bei buzzaldrins.de darüber zu lesen.
Derzeit regnet es ja (ganz gewiss nicht zufällig) Galveston-Rezis. Dein Zugang gefällt mir.
Dankeschön. Ja, das Buch macht gerade die Runde. Verdient, wie ich finde.