Entwurzelt in Hamburgs Obstgarten

Dörte Hansen: Altes Land

Vor einigen Monaten hatte ich vollmundig verkündet, das Leseprojekt Herkunft und Heimat zu starten; ein Thema, das mich schon seit sehr vielen Jahren gedanklich beschäftigt. Es ist auch eine beachtliche Bücherliste zusammengekommen, allein, mir fehlte der Einstieg. Den habe ich mit dem Roman »Altes Land« von Dörte Hansen jetzt gefunden.

Altes Land. So heißt die Region südlich von Hamburg, jenseits der Elbe. Eine landwirtschaftlich geprägte Gegend, äußerst ertragreich, voller Obstfelder mit Kirschen, Äpfeln, Birnen, nahe der Großstadt und doch eine völlig andere Welt. Bevölkert von wettergegerbten, schweigsamen, pragmatischen Bauern und ihren Familien, für die Landwirtschaft kein romantisches Gewerbe, sondern das tägliche Brot ist. Die sich nicht für schöne Streuobstwiesen mit seltenen Apfelsorten interessieren, sondern für effektiv zu bewirtschaftende Obstplantagen. Andere wiederum reiten auf der Biowelle und haben ihre Höfe zu Eventparks mit Streichelzoo und Hofladen umgebaut. Und dazwischen gut betuchte, zivilisationsmüde Städter, die sich inmitten der alten Kulturlandschaft selbst verwirklichen wollen und mit Werkzeugen von Manufactum ein bisschen Landwirtschaft spielen.

Geprägt wird die Gegend von den uralten Höfen, aus Fachwerk gebaut, reetgedeckt, mächtig, fest verwurzelt stehen sie unter dem weiten Horizont, als wären sie schon immer da gewesen. Und einer dieser Höfe spielt eine Hauptrolle in Dörte Hansens Roman. »Dit Huus is mien und doch nich mien, de no mi mummt, nennt’t ook noch sien« steht auf plattdeutsch auf dem Giebel des Hauses. Der Hof hat schon viele Besitzer kommen und gehen sehen. Jetzt wohnt dort Vera Eckhoff, schon seit vielen Jahren; seit sie dort als kleines Mädchen mit ihrer Mutter gestrandet ist. 1945 war das, sie kamen als Vertriebene aus Ostpreußen, Vera mit Ihrer Mutter Hildegard von Kamcke. Hochgradig traumatisiert, froh, nach der Hölle aus Flucht und Vertreibung gerade so mit dem Leben davongekommen zu sein, wollte keiner sie haben, niemand hieß sie willkommen und nur widerwillig überließ die damalige Besitzerin des Hofes, Ida Eckhoff, ihnen ein notdürftiges Dach über dem Kopf. Doch es blieb nicht lange dabei: Hildegard von Kamcke heiratete bald darauf den kriegsversehrten Sohn des Hauses, Karl Eckhoff. Allerdings währte die Verschnaufpause für Vera nicht lange, denn bald danach verließ ihre Mutter den Hof wieder, zog zu einem anderen Mann nach Hamburg, gründete eine neue Familie, wurde noch einmal Mutter. Vera und ihr Stiefvater blieben zurück.

Viele Jahrzehnte später ist Vera eine alte Frau; aber sie ist immer noch da, alleine auf dem Hof. Sie hatte Medizin studiert, war Ärztin im Alten Land gewesen, kannte alle und jeden und war doch ihr Leben lang ein Fremdkörper in der Gegend geblieben. »Sie war auf Ida Eckhoffs Hof gespült worden wie ein Ertrinkender auf eine Insel. Um sie herum, war immer noch das Meer, und Vera hatte Angst vor diesem Wasser. Sie musste bleiben auf ihrer Insel, auf diesem Hof, wo sie zwar keine Wurzeln schlagen konnte, aber doch festwachsen an den Steinen, wie eine Flechte oder Moos. Nicht gedeihen, nicht blühen, nur bleiben.«

Es ist das Schicksal der Entwurzelten, das alte Haus, der alte Hof und Vera gehören untrennbar zusammen; eine Hassliebe verbindet sie: »Sie traute diesem Haus noch immer nicht, aber sie würde sich nicht von ihm herauswürgen und ausspucken lassen, nicht abstoßen lassen wie ein fremdes Organ.« Sie kämpft mit sich, ihrem einsamen Leben und dem Haus, das zwar ein Zuhause ist, aber keine Heimat. Rastlosigkeit prägt ihre Tage, Schlaflosigkeit ihre Nächte.

Eines Tages ändert sich Veras Leben, als plötzlich ihre Nichte, die Tochter ihrer Halbschwester aus der anderen Familie ihrer Mutter, vor ihrem Hof steht. Es ist Anne mit ihrem kleinen Sohn Leon, auch sie ein Flüchtling. Nicht vor einer äußeren Bedrohung ist sie geflohen, sondern vor den Scherben ihres Lebens in Hamburg. Vor den Trümmern einer Beziehung, die sie als alleinerziehende Mutter zurückließ, vor der Lieblosigkeit, mit der sie aufgewachsen ist und die ihr ganzes Leben geprägt hat. Und vor der Überforderung, den vermeintlichen Ansprüchen zu genügen, die an eine moderne Großstadtmutter mit überförderten Kindern gestellt werden.

Vera quartiert die beiden Flüchtlinge bei sich ein, auf unbestimmte Zeit. Und es dauert nicht lange, bis es gehörig knirscht. Wie sich die beiden so unterschiedlichen und doch so ähnlichen Frauen zusammenraufen, wie sie sich streiten, ihre Macken zu erdulden lernen, wie der kleine Leon eine neues Zuhause findet, wie Kontakte zu den Bauernfamilien in der Umgebung langsam entstehen, das alles erzählt Dörte Hansen in einer wunderbaren Art und Weise. Pointiert, manchmal ironisch zugespitzt, manchmal nachdenklich und mit viel Achtsamkeit für ihre Figuren. Das Entwurzelte, das Heimatlose spielt eine zentrale Rolle in dem Roman. Angesiedelt in einer Umgebung, die seit unzähligen Generationen von denselben Familien bewohnt wird, wirkt das als Gegensatz besonders brutal. »Man kannte seinen Platz und seinen Rang in dieser Landschaft, es ging immer nach dem Alter: Erst kam der Fluss, dann kam das Land, dann kamen Backsteine und Eichenbalken und dann die Menschen mit den alten Namen, denen das Land gehörte und die alten Häuser. Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum. Fahrendes Volk, das auf den Wegen bleiben musste.«

Die Gefühlskälte von Veras Mutter, die ihre Tochter einfach zurückgelassen hat, bekam auch ihre andere Tochter Marlene zu spüren, die diese Lieblosigkeit wiederum an ihre Tochter Anne weitergegeben hat. Weil sie gar nicht anders konnte. Weil die Schrecken des Krieges, die Schrecken der Vertreibung, die Todesangst, die furchtbaren Erlebnisse bis heute nachhallen. In den Kindern und Enkeln der Überlebenden. Als Anne und Vera zusammenfinden und eine Schicksalsgemeinschaft bilden, kommt viel davon in beiden hoch, tief im Innern brechen Wunden auf, aber die Autorin versteht es, dies nicht plakativ zu schildern, sondern leise und behutsam. Aber deutlich. Und dem Leser wird klar, dass die Geschichte nie einfach so endet, sondern immer weitergeht. Von Generation zu Generation.

An einer Stelle beschreibt Dörte Hansen, wie einer der alten Bauern seine Prinz-Heinrich-Mütze trägt. Eine Prinz-Heinrich-Mütze. Sofort hatte ich meinen Vater vor Augen, der bei allem, was er am Haus oder im Garten machte, auch immer solch eine Mütze trug. Und auch er war ein Vertriebener, der 1945 mit zehn Jahren gewaltsam entwurzelt wurde und irgendwo gestrandet war. 1.500 Kilometer von dem ostpreußischen Ort entfernt, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Auch er hatte vieles erlebt, von dem er nur andeutungsweise redete und das ihn sein ganzes Leben lang nicht losgelassen hat, bis er viel zu früh gestorben war. Als ich vor Kurzem bei einem der seltenen Besuche in meinem Elternhaus war, suchte ich nach dieser Mütze. Er hatte sie 1989 im Keller Jahren an einen Haken gehängt. Sie hing immer noch dort.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Herkunft und Heimat.

Buchinformation
Dörte Hansen, Altes Land
Knaus Verlag
ISBN 978-3-8135-0647-1

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8 Antworten auf „Entwurzelt in Hamburgs Obstgarten“

  1. Ich habe mich bisher erfolgreich um das Buch „gedrückt“, weil ich meist eher auf der Suche nach Bücher bin, die nicht so einen großen Zuspruch erfahren … das irritiert mich immer. Ist merkwürdig, aber ich kann es nicht ändern ;) Aber nun … muss ich wohl doch … lesen. Danke für den Schubs … LG, Bri

  2. Ein besonderes Leseprojekt mit einem wunderbaren Auftakt. Die Geschichte der beiden Frauen, jede auf ihre Art ein Flüchtling, jede auf ihre Art besonders und unangepasst, hat mir auch sehr gut gefallen.
    Ich bin gespannt, wie das Projekt ‚Herkunft und Heimat‘ weiter geht.

  3. Ach Uwe,

    lange her das ich mal wieder ein Buch gelesen habe und dann war es dieses hier. Du hast so gut darüber geschrieben. Meine Mutter kommt ja aus dem Alten Land und ich hatte beim Lesen das Gefühl „die kenne ich alle“. Mit meinem Schwiegervater waren wir vor einiger Zeit in seiner alten Heimat Ostpreußen. Warst Du mal dort, wo Dein Vater herkommt? Bei meiner neuen Arbeit begegnet mir das Thema immer wieder. Dein neues Leseprojekt wird sehr gut!
    Herzlich
    Jule

    1. Liebe Jule,
      wie schön, von Dir zu lesen. Und ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass Dir die alle bekannt vorkamen…
      In dem Ort, aus dem mein Vater stammt, war ich noch nie. Er liegt nördlich von Königsberg und es ist alles noch da. Das Städtchen, die Straße, das Haus. Irgendwann werde ich mich auf die Reise machen, das würde mich schon sehr stark interessieren. Vielleicht im Zuge des Leseprojekts?! Mal sehen.
      Bis bald
      Uwe

  4. Ich werde diesen Roman sicherlich auch bald lesen, man kommt irgendwie nicht drumherum. Ich habe so viele positive Stimmen gehört. Doch in diesem Zusammenhang würde ich sehr gern auf den ebenso wunderbaren Roman „Das letzte Land“ von Svenja Leiber verweisen, der sich ebenfalls den Themen Lebensgeschichte, Landleben und Heimat widmet und eine für mich ganz besondere Geschichte erzählt.

    1. Ich danke für diesen schönen Lesetipp, der Klappentext klingt schon sehr vielversprechend. Schaue ich mir auf jeden Fall einmal näher an.

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