Made in Germany

Gerhard Seyfried: Verdammte Deutsche

Was es bedeutet, nicht in einer bestimmten Phase seines Lebens hängenzubleiben, das zeigt beeindruckend der Cartoonist und Schriftsteller Gerhard Seyfried. Erschienen in den Achtzigern seine wunderbar schrägen Comics rund um die linksalternative Berliner Hausbesetzerszene, hat er sich in den letzten elf Jahren einen Namen als Autor beeindruckend recherchierter historischer Romane gemacht. »Verdammte Deutsche« thematisiert wie die Vorgänger-Romane »Herero« und »Gelber Wind« die Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs und nimmt uns mit in ein Europa kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Der größte Teil der Geschichte spielt in London. 1911 kommt der junge Marineoffizier Adrian Seiler in diese Stadt, um seinen Dienst bei der deutschen Botschaft aufzunehmen. Als er auf der Suche nach nautischer Fachliteratur die darauf spezialisierte Buchhandlung Petermann betritt, lernt er dort Vivian kennen, Tochter des Buchhändlers Julius Petermann. Die Petermanns sind Deutsche, die wie viele andere ihrer Landsleute in London und England leben, um dort ihren Geschäften nachzugehen. Freizügigkeit in der Auswahl des Arbeitsorts ist keine Erfindung der EU, sie gab es damals genauso wie heute. Zumindest in bestimmten sozialen Schichten oder bestimmten Berufsgruppen. Genau diese Freizügigkeit ist dem englischen Geheimdienst ein Dorn im Auge, und die vielen Deutschen, die in England leben sind für den Secret Service unzählige potentielle Spione.

So ist es kein Wunder, dass auch Adrian Seiler als deutscher Offizier in England beschattet wird. Dabei ist er zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Spion. Aber er wird einer werden. Ein ziemlicher guter sogar. Anfänglich recherchiert er lediglich in öffentlich zugänglich Quellen über die englische Marine. Macht hier eine Beobachtung, schaut sich dort ein wenig um. Doch die Stimmung auf beiden Seiten der Nordsee wird hysterischer, die Kriegsgefahr mit der Zeit immer drohender. Inzwischen schreiben wir das Jahr 1914 und Seilers Vorgesetzte benötigen dringend detailliertere Informationen über die Einsatzbereitschaft der englischen Schlachtschiffe. Seiler riskiert mehr und mehr, ohne zu ahnen, dass ihm der Secret Service von Beginn an auf den Fersen ist. Dadurch bringt er Vivian Petermann und ihren Vater in höchste Gefahr. Denn Vivian und Adrian sind ein Paar geworden, für beide ist es die große Liebe. Und für den Secret Service ist es hochgradig verdächtig.

Seilers Überwacher nehmen ihren Job nicht nur ernst, einer von ihnen ist ein fanatischer Deutschenhasser, er steigert sich mehr und mehr in den Fall hinein, sieht diesen als persönliches Duell zwischen Seiler und ihm und wird irgendwann von seiner Waffe Gebrauch machen. Seiler merkt nicht, in welcher Gefahr er und die Familie Petermann schweben, doch eines Tages, kurz bevor in Europa die Lichter ausgehen, stehen er und sein Gegner sich gegenüber.

Gerhard Seyfried erzählt eine spannende Geschichte, geradlinig, wie ein klassischer Abenteuerroman mit der Aura des Konspirativen. Reizvoll daran ist, dass ein Großteil der Protagonisten tatsächlich gelebt hat und besonders lesenswert wird sie durch das profunde Detailwissen, das darin eingeflossen ist. Die Stimmung in London und England kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird so plastisch geschildert, als wäre man selbst dabei gewesen. Die durch die Presse und einschlägige Groschenromane geschürte Angst vor deutschen Spionen und Sabotagetrupps, geheimen Waffenlagern und Attentatsplänen vergifteten das Miteinander und der Leser erlebt hautnah mit, zu welchen Auswüchsen dieses paranoide Klima führen konnte. Der Begriff »Made in Germany« war ursprünglich nicht als Qualitätsmerkmal gedacht, sondern wurde in England seit dem Ende des 19. Jahrhunderts benutzt, um englische Waren vor der ausländischen Konkurrenz  zu schützen. Im Sommer 1914 kam der Ausdruck einem Stigma gleich.

Auf eine charmante Art altmodisch wirken auf uns die geschilderten Geheimdienstmethoden. Falsche Ausweise, falsche Bärte, Verkleidungen, heimliches Absetzen eines Agenten mit Hilfe eines U-Boots, Improvisation ist alles. Von Spionagesatelliten und Aufklärungsdrohnen konnten die damaligen Akteure nur träumen. Doch eines hat sich auch mit den hochtechnisierten Geheimdiensten des 21. Jahrhunderts nicht geändert: Wenn Fanatismus ins Spiel kommt, spielen Bürgerrechte keine Rolle mehr. Heute mehr denn je.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformation
Gerhard Seyfried, Verdammte Deutsche!
Knaus Verlag
ISBN 978-3-8135-0427-9

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