Am Anfang war das Wort

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz

Nicht selten verbringt man zwischen Weihnachten und Neujahr ein oder zwei Tage an dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, den man aber schon lange verlassen hat. So war es Ende 2013 auch bei mir. Von nostalgischen Gefühlen getrieben habe ich den Keller meines Elternhauses durchstöbert und es tatsächlich gefunden: Das Buch »Der Räuber Hotzenplotz« von Otfried Preußler. Und zwar genau das Exemplar, aus dem mir meine Oma vor nun über vierzig Jahren vorgelesen hatte. Stockfleckig, von Feuchtigkeit beschädigt, aber immer noch da.

Mit diesem Buch verbinde ich eine meiner frühesten Erinnerungen überhaupt. Denn meine Oma war eine begnadete Vorleserin, jeder Person, die in der Geschichte vorkam, gab sie eine eigene Stimme. Und noch heute bilde ich mir ein, sie im Ohr zu haben: Den dröhnenden, tiefen und furchterregenden Baß des Räubers Hotzenplotz, die hohe Fistelstimme der Großmutter, das fiese Lachen des großen und bösen Zauberers Petrosilius Zwackelmann oder den barschen Kommandoton des Wachtmeisters Dimpfelmoser – als 1899 Geborene war ihr besonders dieser wohl nur zu gut vertraut.

Ich war damals fünf Jahre alt und lauschte andächtig. Das Lesen erschien mir wie Magie und ich war der festen Überzeugung, dass sich dabei irgendwie automatisch die Stimme verändern würde. Als würde das Buch die Macht über den Vorlesenden übernehmen. Und ich kann mich gut daran erinnern, dass ich mich damals darauf freute, bald in die Schule zu kommen und Lesen zu lernen. Weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, wenn ohne mein Zutun die eigene Stimme anders klingt. Damit dies auch mit meiner Stimme geschehen würde und ich dann plötzlich ebenfalls so tief reden könnte wie der Räuber Hotzenplotz. Als es dann endlich so weit war und ich die ersten Texte lesen konnte, war ich enttäuscht, dass gar nichts passierte. Auch daran erinnere ich mich noch gut. Aber das war schnell vergessen, denn zwischen zwei Buchdeckeln gab es fortan unzählige Welten zu entdecken. Einige Zeit später habe ich in der Stadtbücherei alles gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Und dann kam eines Tages die Erfahrung dazu, dass man in Buchhandlungen das gesparte Taschengeld auch für Bücher ausgeben konnte. Die einem dann so richtig selbst gehörten. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Die Erinnerung an den Räuber Hotzenplotz mit seiner tiefen Stimme mag jetzt ein paar Jahrzehnte her sein. Doch eigentlich hat sich hat sich in dieser Zeit nichts geändert: Auch heute lieben es Kinder, Geschichten vorgelesen zu bekommen. Perfekter kann man seinem Kind nicht die Welt der Sprache nahebringen und es an die viel gepriesene Medienkompetenz heranführen. Man benötigt dazu kein Tablet, keine Apps, keinen eReader und keine bewegten Bilder. Nein, alles was man dazu braucht ist ein schlichtes Buch. Aus Papier. Und Zeit. Die muss man sich nehmen.

Buchinformation
Otfried Preußler, Der Räuber Hotzenplotz
Thienemann Verlag
ISBN 978-3-522-10590-3

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20 Antworten auf „Am Anfang war das Wort“

  1. Danke für diesen Beitrag!
    Heute fast überfordernd: der Räuber war kein »reiner« Bösewicht, sondern hatte auch eine gute Seite. Diese Art der Ambivalenz findet man heute kaum noch.

  2. Das hast du so toll geschrieben. Meine Begleiterin war die kleine Hexe. Zwar nicht so wunderbar vorgetragen, wie es deine Großmutter tat. Aber geliebt habe ich es trotzdem.
    Meinen Monstern habe ich später ebenfalls vorgelesen. So wie deine Oma erhielt jede Figur seine eigene Stimme. Das Monstermädchen wurde infiziert, der -junge blieb immun. Für ihn sind Bücher kein Geheimnis, eher eine Last. Erklären, kann ich es mir nicht. Denn wir haben stundenlang gelesen und er war völlig gebannt.
    Vielleicht habe ich mehr Erfolg, wenn es irgendwann Enkel gibt.
    Liebe Grüße
    Andrea

    1. Man muss aber auch sagen: Nicht jedem Kind macht Lesen Spaß. Ich habe auch schon Kinder erlebt – in der Regel Jungs – die keine Freude an Büchern hatten, die lieber draußen rumgestromert sind oder Fußball gespielt haben oder sich anderweitig körperlich austoben mussten. Das ist dann eben so. Und manche entdecken erst später im Leben die Liebe zur Literatur. Auch das habe ich erlebt.
      Liebe Grüße
      Uwe

  3. Lieber Uwe,

    mit genau diesem Buch sind wir gerade dabei, ähnliche Erfahrungen bei umseren eigenen Kindern zu schaffen. Selbst das Vorlesen mit unterschiedlichen Stimmen kenne ich zu gut. Und es stimmt tatsächlich: Man nimmt ein Buch anders wahr, wenn man es vorliest. Freue mich schon auf weitere spannende Buchklassiker, die ich meinen Kindern näher bringen kann.

    Liebe Grüße
    Marc

  4. Vorlesen – das gehört für mich auch zu den schönsten Kindheitserinnerungen! Meine Mama hat mir auch immer mit unterschiedlichen Stimmen vorgelesen. Damit hat sie mir schon mit vier Jahren sogar Goethe- und Schiller-Balladen schmackhaft machen können. Preußler liebe ich bis heute, bin da aber vor allem mit den Hörspielen aufgewachsen. Besonders gefreut habe ich mich daher, als ich Preußlers Büchern auch in Japan begegnet bin. Dort hat er nämlich auch eine große Gemeinde kleiner (und großer) Fans. Hab dazu auch was auf meinem Blog geschrieben :-) https://suleiband.com/2016/02/22/arigato-otfried-preussler-san/

  5. Ich wollte, ich könnte das auch über meine Kindheit schreiben. Doch da erinnere ich mich kaum ans Vorlesen und Lesen. Kinder- und Jugendbücher waren mir fern. Einzig einige Hörschallplatten haben mich mit Klassikern bekannt gemacht. Und natürlich das Fernsehen. Das man denn doch noch irgendwann die Liebe zur Literatur entdecken kann, durfte ich zumindest bei mir feststellen. Und heute, da ich als Vorleser viele Kinderbücher mit meinem siebenjährigen Sohn nachhole, bin ich mal gespannt, ob er diese Liebe später denn teilen wird. Vielleicht ist es ja bei ihm dann umgekehrt.

    1. Viele Bücher gab es bei uns zuhause damals nicht, aber Vorlesen hat jeden Abend dazu gehört. Und später kam die Stadtbibliothek dazu, durch die sich mir als Kind zahllose neue Welten erschlossen haben.

  6. Eine ganz und gar bezaubernde Erzählung. Bei mir ist es „Der kleine Wassermann“, der noch heute in Originalausgabe und ähnlich verlebt im Regal steht und mich an eine wundervolle Vorlesezeit erinnert. Das waren noch Bücher, die dich durch ihre bloße Anwesenheit in fremde Welten versetzten. Ich finde kaum noch derart tolle Bücher in den heutigen Kinderbuchregalen, wenn ich nach Schätzen für meine Patenkinder suche. Irgendwie besitzen sie für mich nicht mehr die Magie von früher. Welche Bücher von heute können es schon mit den liebevoll illustrierten Büchern von Astrid Lindgren, Ottfried Preußler, Michael Ende, Janosch & Co aufnehmen. Natürlich ist mir auch der Räuber Hotzenplotz ein Begriff. Die dürfen einfach nie aus den Regalen verschwinden. =)

    1. Preußler, Ende, Lindgren und wie sie alle hießen waren schon sehr geniale Autoren. Aber auch heute gibt es tolle Kinderbücher, spontan würde mir da z.B. „Der kleine Ritter Trenck“ von Kirsten Boie einfallen – ganz großartig.

  7. Ein schöner Beitrag! Den Räuber Hotzenplotz lernte ich als Kind zunächst übers Kasperltheater kennen. Das Theater als Zugang zur Literatur, könnte ich jetzt hochtrabend behaupten :-). Tatsächlich bekam ich ihn nie vorgelesen und hatte ihn auch nie selbstgelesen bis zum hohen Alter von 46 Jahren. Und: Es war ein spätkindlicher Genuss.
    (Ich hoffe, da wird aber jetzt nicht das nächste Stöckchen drauß: Was war Dein erstes Buch – ernsthaft, Stöckchenpause…)

    1. Danke für Dein Feedback. Der Räuber Hotzenplotz ist einfach ein zeitloser Text, an dem man auch als Erwachsener viel Lesefreude haben kann.

    1. So ist es. Und Kinder genießen nicht nur das Vorlesen sondern auch die Zeit, die sie mit Eltern oder Großeltern verbringen. Dazu ist es auch unschlagbar günstig: In der Regel kosten die Bibliotheksausweise für Kinder nichts. Man muss nur hingehen…

  8. Wieder ein ganz wunderbarer Erinnerungstext. Das mit der Erwartung, mit dem Lesen würde sich die Stimme jeweils anpassen, finde ich ja sehr spannend. Ein Indiz, dass deine Oma wirklich großartig vorgelesen hat.

    1. Das hat sie, obwohl die Erinnerung natürlich vieles verklärt und man sich nicht immer sicher sein kann, ob es tatsächlich so war oder ob man nur denkt, es sei so gewesen. Wie auch immer, so begann eine lebenslange Liebe zu Büchern und zu aufgeschriebenen Geschichten.

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