In unserer Zeit der kurzen Texte, der minimalen Aufmerksamkeitsspannen und der für schnellen Verbrauch aufbereiteten Medieninhalte ist dieses Buch ein Statement. Eine Zumutung. Eine Herausforderung. Ein Sprachwunder. Ein Roman, auf den man sich tage-, wochenlang einlassen muss – und der einen belohnt mit einer einzigartigen Geschichte, mit einem intensiven Leseerlebnis, mit einer Reise quer durch eine bis ins feinste Detail ausgearbeiteten, phantastischen Welt. Kurz gesagt: »Die Horde im Gegenwind« von Alain Damasio ist eines dieser Bücher, auf die man nicht allzu oft trifft in seinem Leserleben.
Um was geht es, was verbirgt sich hinter diesem prägnanten Titel? Das Buch nimmt uns mit auf einen langen Weg. Einen Weg durch eine riesige, leere Welt, die zu großen Teilen nicht bewohnbar ist. Zwar gibt es Städte, Siedlungen und Dörfer, doch zwischen diesen liegen tausende von Kilometern unwirtlicher Natur. Der Wind ist das alles prägende Element in dieser Welt. Er ist immer da, es gibt keine Windstille, nie. Er bestimmt das Leben der Menschen, er treibt Maschinen an, Fortbewegungsmittel und Waffen. Und er zerstört, verwüstet, tötet. Von neun Formen des Windes sprechen die Gelehrten und seit hunderten von Jahren werden sie erforscht. Die ersten sechs Formen heißen Zefirine, Slamino, Stesch, Choon, Blizzard und Grimmwind. Der Grimmwind ist tödlich, wenn man ungeschützt von ihm überrascht wird; die Haut reißt, Menschen werden zerfetzt, die Überreste verschwinden im Wirbel. Aber auch Häuser, ganze Dörfer gehen in den Grimmwind-Stürmen unter. Und darüber hinaus gibt es noch mehr: Die in der Aufzählung fehlenden drei Formen des Windes sind unbekannt, die siebte, achte und die neunte – sie zu entdecken, zu erforschen ist Aufgabe der Horden.
Seit hunderten von Jahren werden die Horden als Expeditionen losgeschickt, dem Wind entgegen, immer weiter, um irgendwann das mythische Fernstromauf zu erreichen – dort, so sagt man, hat der Wind seinen Ursprung, dort findet man die Antworten auf alles. Eine Horde besteht aus den unterschiedlichsten Mitgliedern, alle mit verschiedenen, hoch spezialisierten Fähigkeiten und Funktionen. Und einer klar definierten Stellung innerhalb der Gemeinschaft. Als Kinder werden sie ausgewählt und erhalten in Aberlaas, der großen Stadt in Fernstromab, ein brutales Training – so gnadenlos wie der Wind, dem sie entgegengehen sollen. Und als Jugendliche machen sie sich auf den Weg, jahrzehntelang werden sie unterwegs sein, eine eingeschworene Gemeinschaft, für die es keinen anderen Sinn im Leben gibt als der lange Weg, der vor ihnen liegt. Die Suche ist das Leben und die Horde ihre Familie. Sie kennen nichts anderes. Teil der Horde zu sein ist Privileg und Schicksal zugleich.
) »Vor mittlerweile siebenundzwanzig Jahren sind wir in Aberlaas, Fernstromab, aufgebrochen. Wir waren elf Jahre alt. Und wir haben keinen Blick zurückgeworfen.«
Im Roman treffen wir auf die vierunddreißigste Horde, deren dreiundzwanzig Mitglieder seit fast drei Jahrzehnten gemeinsam unterwegs sind. Und wir werden sie begleiten – auf ihrem Weg ans Ende der Welt. Die dreiunddreißig Horden vor ihnen sind gescheitert, sind verschollen, umgekommen, verschwunden. Manche der Überlebenden haben irgendwann aufgegeben, sich in Dörfern niedergelassen, viele Jahre Fußmarsch entfernt.
Die vierunddreißigste Horde kämpft sich voran, mühsam, Meter um Meter, in festen Formationen, optimal der jeweiligen Windstärke angepasst. Da gibt es Golgoth, den Spurter, der an der Spitze steht. Pietro della Rocca, der sein adliges Leben aufgegeben hat, um Teil der Horde zu sein. Sov Strochnis, der als Schreiber alles dokumentiert. Caracole, der Troubadour, dessen Sinne vieles erfassen, was anderen verborgen bleibt. Oroshi Melicerte, die Aeoromeisterin, die das Wissen der Alten in sich trägt. Alma Capys, die Heilerin. Erg Machaon, der als Schutzkämpfer die Verteidigung bei Angriffen übernimmt. Aoi Nan, Sammlerin und Wünschelrutengängerin. Callirhoë, die als Zünderin immer und bei jedem Wetter ein Lagerfeuer entfachen kann. Darbon, der Falkner und Bicht, der Habichtler sind zusammen mit Larco Scarsa, dem Luftwilderer, für die Jagd und die Versorgung der Horde verantwortlich. Dies ist keine vollständige Auflistung der Horde, aber schon diese paar Namen und Funktionen vermitteln einen ersten Eindruck des Textes.
) »Als Nomaden fühlten wir uns in jeder Stadt und jeder Siedlung, in einer trockenen Höhle ebenso wie in einer Talsenke, mit Dach über dem Kopf oder im Freien gleichermaßen zu Hause und fremd, da wir seit unserer Kindheit nur eine abstrakte und entfernte Vorstellung von dem Begriff Heimat hatten, eine vage Sehnsucht, die von der Vertrautheit unserer altbekannten Lagerstatt heraufbeschworen wurde – unser tragbares Heim aus zusammengeschobenen Schlitten, zurechtgeschnittenen Teppichen, dem Lagerfeuer in der Mitte.«
Wir lernen die einzelnen Mitglieder der Horde nach und nach kennen, denn sie alle sind Ich-Erzähler. In jedem Absatz des Textes wechselt die Perspektive und damit man nicht den Überblick verliert, ist jedes Hordenmitglied mit einem Zeichen ausgestattet. Und jedem Textabschnitt ist das jeweilige Zeichen der Person vorangestellt, die gerade erzählt (ja, es gibt ein Verzeichnis). Am häufigsten kommen ) Sov, der Schreiber, π Pietro , der Fürst, Ω Golgoth, der Spurter, x Oroshi, die Aeromeisterin und ¿‘ Caracole, der Troubadour zu Wort. Doch auch fast alle anderen hören wir mehr oder weniger regelmäßig sprechen und in einer Mischung aus inneren Monologen, vielen Rückblicken und Beobachtungen der Geschehnisse entsteht das Bild der Welt, durch die sich die Horde ihren Weg sucht. Einer Welt, geprägt von einer Gesellschaft zwischen archaischen Strukturen, unüberwindbaren Klassenschranken, modernster mechanischer Technik und schwelenden politischen Differenzen hinter den Kulissen. Gleichzeitig bricht diese Erzähltechnik die Geschlossenheit der Horde auf; aus einer Schicksalsgemeinschaft werden dreiundzwanzig Menschen mit eigenen Gedanken, Wünschen und Träumen. Es entsteht dadurch eine Dynamik innerhalb der Gruppe mit Sympathien und Antipathien, mit Liebschaften und enttäuschten Hoffnungen. Aber genauso wird klar, dass nur die Geschlossenheit der Horde das Überleben sichert. Und so geht es weiter, immer weiter, durch leere Ebenen, endlose Sumpflandschaften, durch Schluchten, über kaum bezwingbare Gebirge, aber auch durch trostlose Siedlungen und pulsierende Städte, immer weiter bis zum Ende der Welt. Was werden sie dort finden? Und werden sie Fernstromauf jemals erreichen? Diese Frage stellt sich von Seite zu Seite drängender, denn – so viel kann verraten werden – zum Schluss wird die Horde eine andere sein.
Ein gestalterischer Kniff untermalt dabei den Weg zurück zum Ursprung, zum Anfang von allem: Die Seitenzahlen laufen rückwärts. Das Buch beginnt auf Seite 713 und je weiter man liest, desto drängender wird die Frage, was wohl auf Seite 1 stehen mag. Was am Anfang von allem am Ende wartet.
Auf ihrem Weg wird die Horde bewundert, gefeiert, aber zuweilen auch belächelt und manchmal angefeindet. Denn der technische Fortschritt hat sie längst überholt. Und in einer Zeit, in der Luftschiffe und Aerogleiter die Strecke, für die sie Jahrzehnte brauchen, in wenigen Jahren zurücklegen können, wirkt die Horde wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten, wie etwas Übriggebliebenes, ein Relikt. Doch das schert die Horde nicht, denn ihr Kodex besagt, dass jeder Meter des Weges zu Fuß zurückgelegt werden muss, denn nur so lässt sich der Wind endgültig bezwingen – und Fernstromauf ist aufgrund seiner Abgeschiedenheit hinter riesigen Gebirgszügen ohnehin nicht über die Luft zu erreichen.
) »Unmöglich, ein Transportmittel zu verwenden, um aufzuströmen, das wisst ihr ganz genau. Kodex der Horde. Der Körper allein soll kontern. Auf Händen, auf Füßen, kriechend, schwimmend, ganz egal. Aber der Körper allein.«
Daher geht es weiter und weiter und weiter, allen Unwägbarkeiten und Selbstzweifeln zum Trotz. Die Horde als Glaubensgemeinschaft, die an die erhabene Sinnlosigkeit von Religionen erinnert. Und tatsächlich wird die lange, harte Reise zunehmend spiritueller und auch dabei spielt der ewige Wind die entscheidende Rolle.
π »Nur eine authentische Horde, die zu Fuß kontert, kann die neun Formen des Windes antreffen. Spirituelle Naivität? … In Aberlaas verblasste unsere Aura. Immer weniger Kinder träumen davon, Spurter, Schreiber oder Aeromeister zu werden. Das behaupten unsere Quellen. Sicherlich, weil man ihnen unser Schicksal nicht wie einst schilderte. Als alltägliches Heldentum. Reines Abenteuer. Was nun zählte, schien das Was zu sein, nicht das Wie. Das Was an erreichter Geschwindigkeit, zurückgelegter Distanz, während der Reise gebrochener Rekorde. Und nicht das Wie körperlichen Mutes, feinfühliger Konter, der Erfindung einer Spur.«
Was ist das nun für ein Buch? Mit meinem Text nähere ich mich nur grob diesem Roman an, es gibt so viele Aspekte und Handlungsstränge, die hier keine Erwähnung finden – das würde den Rahmen einer Buchvorstellung komplett sprengen. Wie kann man dieses Werk mit wenigen Worten beschreiben? Vielleicht so: Eine Mischung aus »Der Herr der Ringe« und »Der Wüstenplanet«, mit einer winzigen Prise »Mad Max« und das alles garniert mit einem brillant komponierten, phantastisch-spirituellen Überbau? Trifft es nicht ganz. Man kann dieses Buch nicht vergleichen und man kann es keinem Genre zuordnen, aber wozu auch? Es ist ein Solitär, das seinesgleichen sucht.
Für seinen Roman verwendet Alain Domasio eine ganz eigene Sprache mit vielen erfundenen Worten. Dass die Fortbewegung gegen den Wind »kontern« heißt, der Weg zum Ursprung des Windes ein einziges langes »aufströmen« ist, wird schnell klar. Schlüsselworte der Handlung wie »Chrone« oder die »Schift« spielen von Beginn an eine wichtige Rolle, doch erst zum Ende hin werden sie genauer erläutert. Bis dahin akzeptiert man sie als Leser als etwas Unbekanntes, sie gehören zu der Welt, in die man schon längst mit allen Sinnen eingetreten ist. So manches Mal ist der Text anstrengend, abschweifend und voll überbordender Details, die nicht näher erklärt werden – doch trotzdem bin ich durch die Seiten geflogen, konnte nicht aufhören zu lesen. Und werde noch lange Zeit an sie zurückdenken, an die Horde im Gegenwind. Was für ein Buch! Was für eine brillante Übersetzung von Milena Adam!
Und ohne die Besprechung des Romans im Blog Bookster HRO wäre dieses epische Meisterwerk an mir vorbeigegangen. Danke dafür.
Buchinformation
Alain Damasio, Die Horde im Gegenwind
Aus dem Französischen von Milena Adam
Verlag Matthes & Seitz
ISBN 978-3-7518-0078-5
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Lieber Uwe,
danke für diese Empfehlung.
Ich habe es gerade zugeklappt und bin und war beim Lesen begeistert. Von ein, zwei Passagen mal abgesehen, ist es auch stilistisch sehr gut.
Die Geschichte hat mich mitgezogen und irgendwann wollte ich alle Formen des Windes kennenlernen.
Eigentlich ist es eine sehr zeitgemäße Geschichte, die unter dem Deckmantel des Genres „Fantasy“ daherkommt!
Liebe Grüße aus Berlin,
Matthias
ist diese Art der Geschichte ein Trend? ich hab vor 2 Monaten das Spiel“Clair Obscur: Expedition 33″ durchgespielt und (wie im Namen beschrieben) ging es da auch um Expeditionen die aus Gründen losgeschickt wurden.
(fantastisches Spiel btw 😄)
In der Literatur kenne ich nichts Vergleichbares.
Eine super Bucheempfehlung. Bin gespannt.
Hatte wohl dasselbe mit Leslie Marman Silkos „Ceremony“ bzw. in dt. „Indianische Beschwörung“ (später unter „Angst fressen Seele auf“ veröffentlicht).
Und dann kam das „Almanach der Toten“ ebenfalls von Leslie Marmon Silko: ein Buch, welches – einmal gelesen – einen nicht mehr loslässt; dessen Gedanke und Schlußfolgerungen immer wieder auftauchen, zu Gelegenheiten und Zeiten, an denen man überhaupt nicht damit rechnet.
Zur Einstimmung in das Denken vielleicht als Empfehlung N° 0 „Richard Erdoes/John Fire Lame Deer „Tahca Ushte – Medizinmann der Sioux“ (die ja eigentlich Lakota heißen).
Wenn das geschafft ist, die Marmon Silko-Bücher – erst dann ist man dann bereit für Tom Brown “ Das Vermächtnis der Wildnis – Visionen und Prophezeiungen zur Rettung unserer gefährdeten Welt ; die Geschichte eines spirituellen Kriegers“ – der härteste Tobak, den ich in 61+x Jahren jemals gelesen habe. Aber es lohnt.
Ich glaube, daran komme ich nicht vorbei. Nun bin ich angefixt. Ein großer Dank für diesen speziellen Tipp. Dicke Bücher haben mir zuletzt einen schönen Leseflow beschert. Viele Grüße
Freut mich, wenn ich Stefans Begeisterung aufnehmen und an Dich weitergeben konnte. Bin gespannt, was Du dazu sagst.
Schön, dass es dir auch so gut gefallen hat. Ich musste mich damals ganz schön durchbeißen, war am Ende aber total überwältigt. DIE FLÜCHTIGEN ist von Damasio ist auch sehr gut.
LG aus HRO
Ja, das ist ein ziemlicher Brocken, der mich fast vier Wochen lang beschäftigt hat. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich würde durch die Seiten rasen – was gar nicht stimmte. Wirklich ein einzigartiges Buch.
Liebe Grüße aus Köln an die Ostsee