Man stelle sich folgende Situation vor: Im Ruhebereich eines ICE sitzt ein Typ, der alle paar Minuten laut auflacht und ab und zu vor sich hin kichert. Klingt nervig, oder? Mich jedenfalls hätte das gehörig auf die Palme gebracht, da ich in Ruheabteilen sehr empfindlich auf laute Geräusche reagiere. In diesem Fall allerdings, na ja, was soll ich sagen – dieser Typ war ich und ich möchte mich bei allen unbekannten Mitreisenden entschuldigen. Der Grund für dieses seltsame Verhalten liegt gerade neben mir, es ist der Roman »Geht so« von Beatriz Serrano. Und eigentlich ist er gar nicht lustig, und genau das ist das Grandiose daran.
Das Buch erzählt die Geschichte von Marisa, einer jungen Frau um die Dreißig, die in einer Werbeagentur in Madrid arbeitet und die dort mit der Konzeption sinnloser Werbekampagnen für sinnlose Produkte beschäftigt ist, für Wimpernzangen etwa. Sie hasst alles daran: Sie hasst ihren Job, sie hasst ihr Team, sie hasst ihre Kolleginnen, sie hasst ihre Chefs, sie hasst ihre Firma. Sie hasst ihr Leben. Denn außerhalb dieses Bullshit-Jobs, in dem sie durch Zufall gelandet ist, gibt es kaum etwas anderes. Ihr Nachbar Pablo ist der einzige Mensch, mit dem sie so etwas wie Freundschaft verbindet. Freundschaft Plus, um genau zu sein, denn wenn es gerade passt, schlafen sie miteinander. Oder auch nicht, alles bleibt unverbindlich und an der Oberfläche.
Gleich die ersten zwei, drei Kapitel erzählen so drastisch von Marisas Verlorenheit, dass man ihr zurufen möchte: Ändere etwas an deinem Leben! Doch wie so oft ist ein gut gemeinter Ratschlag dieser Art nicht leicht umsetzbar, denn der Bullshit-Job ist zwar öde, aber ziemlich gut bezahlt, was in einer teuren Stadt wie Madrid nicht ganz unwichtig ist. Ich-Erzählerin Marisa bewegt sich in der Agentur im mittleren Management und delegiert so viel Arbeit wie möglich an Arbeitsgruppen, Mitarbeiterinnen oder Praktikanten, damit sie ihre Zeit auf YouTube vertrödeln kann. Um sich selbst zu belohnen, wenn sie wieder einen dieser unendlich langweiligen Tage herumgebracht hat, kauft sie großzügig in der Feinkost-Abteilung von Carrefour ein und speist fürstlich zu Abend – vor dem Bildschirm mit YouTube-Begleitung. Ihre Situation ist wie ein goldener Käfig, aus dem es keinen Weg hinaus gibt und ohne Tabletten, Alkohol und Beruhigungsmittel würde sie kaum einen weiteren Tag durchstehen. Marisa steht vor einer großen, dunklen und einsamen Leere, die Drogen und die permanente Berieselung mit hohlen YouTube-Videos helfen ihr dabei, nicht hineinschauen zu müssen. Aber natürlich geht das auf Dauer nicht gut. Ganz und gar nicht. Wir erleben, wie ihr mühsam durch sinnlose Routinen zusammengehaltener Alltag Risse bekommt und wie ihre Angststörung bedrohliche Formen annimmt. Und Seite um Seite fiebern wir mit ihr mit und fragen uns, ob es aus dieser Situation einen Ausweg geben könnte. Und ob sie ihn finden wird. Am Ende – keine Angst, ich spoilere nicht – tut sich möglicherweise eine Lücke zwischen den Stäben jenes goldenen Käfigs auf. Aber wenn, dann auf eine vollkommen andere Weise, als wir Leser es erwarten würden. Und bis dahin wird eine Menge geschehen.
Man mag sich nun fragen, warum um alles in der Welt ich bei diesem Inhalt lachend in der Bahn saß? Das ist die große Kunst dieses Romans: Er führt tief hinein in die Sinnlosigkeitshölle der modernen Arbeitswelt – dies aber auf eine so bissige, böse und sarkastische Weise, dass man bei vielen Sätzen nicht weiß, ob man darüber lachen oder sie unterstreichen möchte. Etwa wenn es heißt: »Ich lade eine der PowerPoint-Präsentationen herunter. Als ich sie öffne, verliere ich sofort jeden Lebenswillen.« Oder an einer anderen Stelle: »Ich frage mich, in welcher Phase unserer Evolution wir beschlossen haben, bestimmte englische Begriffe in unser Vokabular aufzunehmen, um Dinge auszudrücken, die wir genauso gut in unserer Muttersprache sagen könnten, bloß weil wir irgendwie meinen, so intelligenter und kosmopolitischer zu sein.«
Was mache ich hier eigentlich?
Man muss nicht in einem Bullshit-Job gestrandet sein, um etliche der beschriebenen Situationen zumindest am Rande kennengelernt zu haben. Bei mir etwa lösen PowerPoint-Präsentationen ähnliche Empfindungen aus, aber davon einmal abgesehen, habe ich den besten Job, den ich mir vorstellen kann: ich bin für den Eichborn Verlag tätig, in dem »Geht so« in der deutschen Übersetzung von Christiane Quandt erschienen ist und liebe die Arbeit mit Büchern und Inhalten sehr. Vor ein paar Monaten war Beatriz Serrano bei uns zu Gast und im Gespräch erzählte sie, dass sie das Mittel des Humors wie ein trojanisches Pferd nutzen würde, um eine ernste Geschichte zu erzählen. Ein schönes Bild und das gelingt ihr in meinen Augen hervorragend – und dies schreibe ich (wie diesen ganzen Blogbeitrag) als Leser, nicht als Verlagsmitarbeiter. »Geht so« hatte ich als Vorab-Exemplar schon vor einem halben Jahr auf jener Zugfahrt gelesen, doch wie mit kleinen Widerhaken hat sich dieses Buch in meinen Gedanken festgesetzt. Es sind Stellen wie diese, die man so schnell nicht mehr vergisst:
»Weder der Arzt noch meine spätere Therapeutin verstanden je, dass mein Stress nicht durch die Arbeit an sich ausgelöst wurde, sondern durch die Tatsache, überhaupt zur Arbeit gehen zu müssen. Acht Stunden täglich von Montag bis Freitag mit entfremdenden und unbefriedigenden Aufgaben verbringen zu müssen, und das umgeben von Leuten, mit denen ich unsinnige und langweilige Gespräche voller Gemeinplätze über Hypotheken, Garagenplätze, von ihren Kindern falsch ausgesprochenen Wörtern oder die neue Netflix-Serie führen musste. All diese Zeit verschenkte ich an andere, statt zu Hause zu lesen oder zu zeichnen oder einfach nur halbnackt an die Decke zu starren und die Risse im Putz zu betrachten. Ich konnte es nicht ertragen, diese Pflicht-Pantomime im Büro tagtäglich und für immer leben zu müssen, um Dinge wie Miete und Essen und ein Buch oder ein Wochenende am Strand bezahlen zu können. Ich brach jeden Morgen zusammen, wenn der Wecker klingelte, weil das Leben, so wie ich es lebte, einer schlecht geschriebenen Tragödie gleichkam: langweilig, steril, ohne jeden Witz und, was am schlimmsten war, ohne Handlung.«
Diese Textstelle, in der Marisa über ihr feststeckendes Leben nachdenkt, fängt die Entfremdung perfekt ein, unter der viel zu viele Menschen in unserer Arbeitswelt leiden. Kurz nachdem ich das Buch gelesen hatte, hörte ich eine Frau telefonieren, die in der Straßenbahn zwei Reihen hinter mir saß: »Heute ist erst der zweite Tag nach meinem Urlaub und ich frage mich schon wieder, was ich hier eigentlich mache.« Und ja, das alles mögen First-World-Probleme sein, aber für die unter der Sinnlosigkeit ihres Tuns leidenden Menschen ist das ein schwacher Trost.
Eine der wichtigsten Fragen des Lebens
Die für mich wichtigste Szene im Buch findet sich gleich zu Beginn, im zweiten Kapitel. Marisa besucht den Prado in Madrid – das ist regelmäßig ihre Flucht aus dem Alltag, sie hat eine Dauerkarte. Umgeben von den alten Meistern läuft sie durch die Gänge zu ihrem Lieblingswerk: »Der Garten der Lüste« von Hieronymus Bosch; ein Bild, das sie immer wieder aufs Neue überwältigt. Und wir erfahren, wie sie nach Abschluss ihres Kunstgeschichtsstudiums davon geträumt hat, im Prado zu arbeiten, tagein, tagaus mit Kunst und dem Schönen zu tun zu haben – und wie dann alles ganz anders gekommen ist. Und jedes Mal, wenn sie vor diesem Bild steht und in dessen Betrachtung versunken ist, schwingt dabei die Frage mit: Wo sind eigentlich meine Träume geblieben?
Auch wenn das vor allem zwischen den Zeilen zu lesen ist, steht diese Frage für mich im Mittelpunkt des gesamten Romans. Denn eigentlich ist sie eine der wichtigsten unseres Lebens und darüber nachzudenken lohnt sich sehr. Man darf nur keine Angst vor der Antwort haben.
Buchinformation
Beatriz Serrano, Geht so
Aus dem Spanischen von Christiane Quandt
Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0212-6
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