Kommt dieser Blogbeitrag zu spät? Man möchte es meinen: Schließlich liegt das Erscheinen des Buches schon eineinhalb Jahre zurück. Und der Abend, an dem ich den Autor im Literaturhaus Köln live erlebt habe, ist ebenfalls schon fast ein Jahr her. Und ja, ich würde mir wünschen, dass es diese Buchvorstellung gar nicht gäbe, dass dieses Buch gar nicht notwendig gewesen wäre. Aber leider ist dies nicht der Fall. Im Gegenteil: »Deutsche Lebenslügen« von Philipp Peyman Engel ist angesichts des schockierenden Zustands unserer Gesellschaft eine hochaktuelle und dringliche Lektüre. Es trägt den Untertitel »Der Antisemitismus, wieder und immer noch«. Und es ist ein hundertdreiundachtzig Seiten langer Brandbrief.
Philipp Peyman Engel stammt aus einer jüdischen deutsch-iranischen Familie, wuchs im Ruhrgebiet auf, lebt in Berlin und ist der Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeine«. Als deutscher Jude schreibt er über die Situation in der Zeit nach dem 7. Oktober 2023 – und diese sehr persönliche Analyse der dramatischen Entwicklungen in unserem Land ist ein Text, der einen beim Lesen schockiert, traurig macht und wütend zugleich.
Das Buch erschien im März 2024, also fünf Monate nach dem barbarischen, genozidalen Massaker des 7. Oktober. Und es beginnt mit der Schilderung der Geschehnisse: »Sie kamen am frühen Morgen und hatten nur ein Ziel: möglichst viele Juden zu töten. Mit Tausenden Raketen überzogen die Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 Israel, sie infiltrierten den jüdischen Staat zu Land, zur See und zur Luft, schlachteten erbarmungslos Zivilisten ab, vergewaltigten und verschleppten Frauen und schnitten in mehreren Kibbuzim – beim Schreiben dieser Worte überfällt mich grenzenlose Trauer und unbändige Wut – Kindern die Kehle durch. Mehr als 1.200 Israelis ermordete die palästinensische Hamas im Süden Israels. Unter den Toten waren Babys, Jugendliche, Frauen, Eltern, Behinderte, Greise und Holocaust-Überlebende. Die Terroristen filmten ihre Taten. Sie machten sich einen Spaß daraus, Kinder zu quälen, sie misshandelten deren Mütter, trennten Familienvätern vor den Augen ihrer Familie Gliedmaßen ab und schossen ihnen anschließend in den Kopf.«
Dies zu lesen ist schwer erträglich, zumal es nur einen kleinen Ausschnitt der unfassbaren Grausamkeiten darstellt, die an jenem Tag durch die mörderischen Hamas-Horden begangen wurden. Und die Reaktionen bei uns darauf? Betroffenheitsfloskeln, aber vor allem: Empathielosigkeit und Gleichgültigkeit auf links-liberaler Seite, insbesondere im Kulturbetrieb, bis hin klammheimlicher Freude und offenem Jubel, vor allem in migrantisch geprägten Vierteln wie Berlin-Neukölln.
In Deutschland (und überall in der westlichen Welt) gibt es drei große antisemitische Strömungen: Rechtsradikales und faschistisches Gedankengut, bei dem Judenhass zur DNA gehört. Linker Antisemitismus in den Gehirnen fanatisierter postkolonialer Linker, deren simples Schwarz-Weiß-Denken an Unterkomplexität kaum zu überbieten ist; es sind engagierte Menschen, die glauben, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und dabei schon gar nicht mehr merken, wie weit nach rechts sie abgebogen sind. Und der muslimische Judenhass, der insbesondere in der Türkei und den arabischen Ländern stark in der Gesellschaft verankert ist, von Generation zu Generation weitergegeben und von Hasspredigern immer neu angefacht wird. Insbesondere die beiden zuletzt genannten, der Antisemitismus von links und von islamistischer Seite, sind seit dem 7. Oktober aus ihren Schatten herausgetreten und tragen Hass und Gewalt auf unsere Straßen. Darum geht es in diesem Buch. Und noch um viel mehr.
Philipp Peyman Engel berichtet, wie nach dem 7. Oktober Kontakte abbrechen, wie sich langjährige Freundschaften auflösen – als seien die Geschehnisse »ein Elefant, der zwischen uns steht«, wie er im Literaturhaus sagte.
Er berichtet über die postkoloniale Linke, deren Anliegen auf der einen Seite von dem Wunsch für eine gerechte Welt geprägt ist, die aber gleichzeitig versucht, die komplexe Situation in Israel und Palästina in ihr Weltbild einzuordnen – und damit komplett scheitert. So sehr scheitert, dass sie bei dem Thema einen riesigen blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung hat und dabei klingt wie ein Björn Höcke von jener Neonazi-Partei, deren Namen ich nicht nenne. Im Literaturhaus Köln sagte er: »Es ist ein militantes Milieu, es gibt viel Gebrüll, es wird nicht diskutiert: Eine junge Generation, die im Namen des Guten sich letztendlich nicht von ihren Großeltern unterscheidet und mit ihrem Free-Palestine-Geschrei eine ›Linke Endlösung‹ propagiert. Viele haben keine Ahnung davon, in welcher unseligen Tradition sie sich bewegen.« Es sind Menschen, die nicht zu bemerken scheinen, dass sie in ihrem Weltverbesserungs-Furor den Schulterschluss mit dem Islamofaschismus suchen.
Er berichtet, wie er als Beobachter unerkannt bei Pro-Palästinensischen Demonstrationen in Berlin mitläuft, wie er Zeuge wird von übelsten, antisemitischen Hetzparolen, von Terrorverherrlichung, von Gewalt und Zerstörungswut. Wie Hassbriefe von rechts in der Redaktion ankommen: »Haut ab aus Deutschland«. Und von links: »Haut ab aus Palästina«.
Er berichtet, wie seit Jahren in der Kulturszene der Boden für antisemitischen Hass bereitet wird, der als »Israelkritik« daherkommt und dadurch salonfähig wird. Über das Totalversagen der Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der unsäglichen documenta 15, über die Gleichgültigkeit des linksliberalen Establishments gegenüber Judenhass, sofern er nicht von rechts kommt.
Er berichtet über die Rückgratlosigkeit deutscher Politiker am Beispiel des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der alljährlich am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz, mantraartig sein »Nie wieder!« von sich gibt, aber gleichzeitig den Mullahs in Teheran zum Jahrestag der Staatsgründung der Islamischen Republik Iran gratuliert – einem Terrorstaat, der die eigenen Bevölkerung brutal unterdrückt und sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben hat. Er schreibt aber auch über eine Reise mit Steinmeier in die zerstörten Dörfer des 7. Oktober – und die Konfrontation mit den unbeschreiblichen Grausamkeiten der Hamas-Schlächter. Und findet dazu diese Worte: »Ich habe auf dieser Reise einen neuen Frank-Walter Steinmeier erlebt. Einen Steinmeier, der einmal in seinem Leben Klartext gesprochen hat. Dier dieses ›Nie wieder‹ mit Haltung gefüllt hat und seines Amtes würdig war.«
Er berichtet über die antisemitische Hetze des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der von seinem Religionsministerium gesteuerten Ditib, die in Moscheen in Deutschland türkische Hassprediger auftreten lässt – nennt Zitate, Namen und statistische Zahlen, die die Radikalisierung belegen. Der laxe Umgang der deutschen Behörden mit der Ditib rächt sich und es wird höchste Zeit, diese Institution in ihre Schranken zu weisen. Im Literaturhaus betonte er, dass der übergroße Teil der in Deutschland lebenden Muslime bürgerlich und demokratisch durch und durch ist – und dass es traurig sei, dies immer wieder betonen zu müssen. Umso politisch fahrlässiger ist es, den Islamisten die Straßen zu überlassen, sich ihnen nicht in den Weg zu stellen – denn sie wissen genau, wo sie hinmöchten.
Er berichtet über das journalistische Versagen vieler deutscher Medien nach dem 7. Oktober. Über das Schweigen. Über die Bezeichnung gewalttätiger islamistischer Aufmärsche als »Pro-Palästinensische Demonstrationen«. Fragt sich, warum es erst eine Nachricht wert ist, wenn Israel sich wehrt? Warum nicht über die 80.000 israelischen Binnenflüchtlinge berichtet wurde, die aufgrund der Raketenangriffe im Norden Israels ihr Zuhause verlassen mussten (das wäre prozentual so, als seien 800.000 Menschen in Deutschland auf der Flucht).
Und er berichtet darüber, wie der alte, faschistische Antisemitismus zur Geburt des bis heute anhaltenden Judenhasses in Nahen Osten beigetragen hat: Engel erinnert an die Freundschaft zwischen Mohammed Amin al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, mit Hitler, die in ihren fanatischen Auslöschungsphantasien zusammenarbeiteten. Während des »Dritten Reiches« beschallte ein nationalsozialistischer Radiosender über Kurzwelle die arabische Welt mit antisemitischen Botschaften, die auf krude Weise mit dem Koran begründet wurden – dies ist eine der Wurzeln des Antisemitismus in der heutigen arabischen Welt (was sich mit statistischen Zahlen im Vergleich zu islamischen Ländern belegen lässt, die nicht im Sendebereich lagen) und zeigt wieder einmal, dass Geschichte nie vergeht. Und dass Antisemitismus keine verstaubte Denkweise aus der Vergangenheit ist, sondern etwas Gegenwärtiges; etwas, das nicht nur jüdische Mitbürger bedroht, sondern unsere gesamte Demokratie.
Und die Situation ist ernst. Philipp Peyman Engel prognostiziert in seinem Buch, dass wir uns auf ein unsichtbares Judentum in Deutschland zubewegen. Die Veranstaltung im Kölner Literaturhaus fand acht Monate später statt, da hatte sich die Prognose bereits bestätigt.
Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus war nach 1945 nie wirklich weg, nur von der Erinnerungskultur übertüncht. Jetzt ist er mit neuem Antlitz und voller Wucht zurückgekehrt.
Trotz des langen Blogbeitrags habe ich längst nicht alle Facetten des Buches hier angesprochen. Es ist – wie gesagt – im März 2024 erschienen und seitdem hat sich die Situation noch einmal weiter zugespitzt. Benjamin Netanjahu und sein rechtskonservatives Kabinett führen einen Vernichtungskrieg in Gaza, gegen den Millionen von Menschen in Israel demonstrieren. Doch gleichzeitig richten sich die weltweiten Proteste nicht gegen die Regierung Netanjahu, nicht gegen die Hamas, an deren Händen jeder Tropfen des vergossenen Blutes klebt, sondern gegen Israel im Ganzen, gegen »die Juden«. Weltweit. Und jede Großdemonstration, bei der Israels Kriegsführung, nicht aber die Hamas-Verbrechen angeprangert werden, jede Forderung, jüdische Künstler nicht auftreten oder jüdische Sportler nicht antreten zu lassen, jede Palästina-Flagge, die an einer Fassade hängt, jeder »Free Palestine«-Sticker, der an Straßenschildern klebt, bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen dem Wunsch nach Frieden und antisemitischen Auslöschungsphantasien. Und nur allzu oft kippt es in Richtung der Letzteren.
Wie wird es weitergehen? Und wohin soll das alles führen? Ich weiß es nicht. Und hoffe, dass der Hass endet. Irgendwann.
Daher möchte ich den Text mit einem Verweis auf ein sehr lesenswertes Interview beenden. Tal Shoham war einer der Geiseln in der Gefangenschaft der Hamas, 505 Tage dauerte sein Martyrium. Doch auch wenn die traumatischen Erlebnisse ihn wohl sein ganzes Leben begleiten werden, blickt er nach vorne: »Ich hoffe, es gibt eine bessere Zukunft, nicht nur für uns, sondern auch für die Palästinenser. Erst müssen wir diesen Krieg beenden, dann darf die Hamas nicht mehr in Gaza herrschen, den Gazanern zuliebe und uns zuliebe. Das Leben der Menschen in Gaza ist so schlecht, sie leiden. Und das liegt vor allem daran, dass sie von einer Terrororganisation gekidnappt wurden.«
Ein demokratischer palästinensischer Staat neben Israel – was für eine Vorstellung. Zwei Länder, die miteinander kooperieren, die allen Hass, alle Gewalt und den Fanatismus, der auf beiden Seiten existiert, hinter sich lassen,. Es könnte ein Paradies werden. Und vielleicht verschwindet dann auch der Antisemitismus aus den Köpfen. Irgendwann.
Klingt das nach naivem Glauben an Fortschritt, an das Gute im Menschen? Ja, natürlich. Aber wie ließe sich die Welt sonst ertragen?
Buchinformation
Philipp Peyman Engel, Deutsche Lebenslügen – Der Antisemitismus, wieder und immer noch
DTV
ISBN 978-3-42328414-1
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Lieber Uwe, herzlichen Dank für deinen engagierten, anrührenden und (für mich) aufrüttelnden Kommentar. Aus meiner Sicht ist dieser neue (alte, aufgewärmte) Antisemitismus eingebettet in einen neuen Faschismus. Wieder mal. Die Gründe dafür versuche ich mir gerade zu erlesen. Rainer Mühlhoff hat bei Reclam einen interessanten Essay „Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus“ veröffentlicht, Eva von Redecker hat ein Buch, ebenfalls zum Thema neuer Faschismus geschrieben, das in den nächsten Tagen bei S. Fischer erscheinen wird. Als „medizinisches“ Gegenmittel kann ich dir einen Essay von Theresa Schouwink im aktuellen Heft des Philosophie Magazins empfehlen. Sie beschreibt „Freundlich sein“ als Haltung von Widerstand. Fand ich Klasse. Soweit erstmal . Nochmals Danke und herzlich-herbstliche Grüße aus dem Saarland, Peter
„Klingt das nach naivem Glauben an Fortschritt, an das Gute im Menschen? Ja, natürlich. Aber wie ließe sich die Welt sonst ertragen?“
Ich weiss es auch nicht, wie wir die Welt ohne die Hoffnung auf den menschlichen Fortschritt ertragen können und doch erscheint es mir die einzige Möglichkeit, die wir haben, neben der eigene Haltung, die wir auch nach aussen leben.
Das Buch kommt auf meine Leseliste, auch wenn ich die Beschreibungen der Gräuel rasch überlesen werde, weil ich das nicht mehr vertrage, was Menschen anderen Menschen grausames antun können…