Im Niemandsland

Davide Longo: Der Fall Bramard

Espresso wird gerne getrunken in Davide Longos »Der Fall Bramard«. Er schmiert die Gespräche. Das heißt, eigentlich unterstützt er eher das gemeinsame Schweigen. Denn geschwiegen wird viel in diesem Buch. Besonders zwischen Corso Bramard und Cesare, zwei wortkargen Männern in einer wortkargen Gegend. Beide leben in einem Dorf am Rand der piemontesischen Alpen, der alte Cesare betreibt die einzige Bar weit und breit. Es geschieht nicht viel hier, etwas abseits vom Leben in der Ebene. »Der Gesamteindruck war der von einem Ort, wo das Leben Zwischenstopp gemacht hatte, um sich dann anderswohin zu wenden. Corso lebte seit fünfzehn Jahren hier«. Denn in Bramards Vergangenheit ist bereits viel zu viel geschehen. Wenn er nicht schweigt und grübelt, dann besteigt er die umliegenden Gipfel, ohne auf Gefahren durch Wetter oder Steinschlag zu achten. Was kann einem Mann noch passieren, der bereits alles verloren hat, was ihm im Leben wichtig war?

Ich habe das Buch unter etwas falschen Voraussetzungen gekauft. Auf dem Klappentext wird besonders das abgelegene Dorf, in dem Bramard lebt, in den Vordergrund gerückt und erwähnt, dass es am GTA liegt – dem Grande Traversata della Alpi, einem Fernwanderweg, der in über 50 Tagesetappen am gesamten italienischen Alpenbogen entlangführt, durch menschenleere Gegenden und leerstehende Orte. Es ist seit Jahren ein großer Traum von mir, diesen Weg einmal zu laufen und so dachte ich, dass ich durch das Buch einen zumindest romanhaften Eindruck dieser Gegend erhalten würde. Das stimmt nur bedingt, die Landschaft spielt eine wichtige Rolle, aber die Handlung führt uns zu weiten Teilen ins nahe Turin oder in die zersiedelte Gegend rund um diese Stadt. Denn in Turin war Corso Bramard Kriminalkommissar – bevor er zum Opfer seines letzten Falles und zum schweigsamen Außenseiter wurde.

Und auch wenn der GTA nur auf dem Klappentext existiert und mit der Handlung absolut nichts zu tun hat, ohne diesen Hinweis hätte ich das Buch nicht gekauft und so die eindrucksvolle Sprache eines großartigen Schriftstellers nicht kennengelernt.

Turin also. »Er hatte diese Stadt geliebt, vom ersten Tag an, als er seinen Fuß in sie setzte, bis zu jener Nacht, da er eben auf einer dieser Bänke sitzend auf den praktischsten Weg sann, sich aus der Welt zu schaffen. Zwischen diesem Tag und jener Nacht lag fast sein ganzes Leben, oder zumindest der Teil davon, der zählte.«

Was war geschehen? Vor vielen Jahren war Bramard als Kommissar auf der Spur eines Serienmörders. Er kam im nahe, sehr nahe. Dann wurde seine Frau das letzte Opfer des Mörders; gleichzeitig ließ er Bramards kleine Tochter verschwinden. Seitdem hadert Corso mit seinem Schicksal, wird von Reue gequält und von Sehnsucht zerfressen. Nachdem er vom Ermittler selbst zum Fall Bramard wurde, quittierte er den Polizeidienst und verschwand in der Abgeschiedenheit des Bergdorfes. Über Wasser hält er sich mit einem Teilzeitjob als Lehrer in einem der gesichtslosen Orte zwischen Turin und den Ausläufern der Alpen.

Der Mörder wurde nie gefunden, doch die Jagd ist noch nicht vorbei. Der Täter spielt mit ihm, denn Corso erhält anonyme Briefe, die irgendwann seinen Panzer aufbrechen, mit dem er seine Gefühle in Schach hält. Er macht sich auf die Suche, noch einmal, ein letztes Mal. Und diesmal führt sie ihn zu einem Ende, dass er niemals hätte vorausahnen können.

Im Wesentlichen ist damit die Handlung des Romans beschrieben. Zumindest das grobe Gerüst, das natürlich angereichert ist mit kurzen Rückblenden, mit parallelen Handlungssträngen und mit Fährten, die den Ex-Polizisten Bramard von einer psychiatrischen Anstalt über die Kunsthandels-Szene bis an die Türschwellen der gehobenen Gesellschaft führen, wo Geld und Einfluss schon immer eine unselige Allianz eingegangen sind.

Doch das alles ist viel mehr als ein solider Krimi, die Sprache Davide Longos macht das Buch zu etwas Besonderem. Die Sprache, mit der die Verlorenheit Bramards dem Leser schmerzhaft bewusst wird. Auf der einen Seite die Bergwelt, eine unnahbare Schönheit, gleichgültig gegenüber allem Menschlichen. Auf der anderen Seite die quirlige Großstadt mit ihrem zerfaserten Umland, voller Leben, doch Corso gehört nicht dazu. Er stolpert durch das Niemandsland seines Schicksals, riskiert bei seinen waghalsigen Bergtouren gleichgültig Kopf und Kragen. »Er beugte sich über den Abgrund und stellte sich seinen Körper auf dem Geröllfeld unter ihm vor, den Arm auf unnatürliche Weise auf den Rücken  verdreht. Er hielt dieses Bild fest und hoffte, dass etwas in ihm aufbegehren möchte, aber das Herz beschleunigte seinen Schlag nicht im Geringsten, und die Augen schauten weiterhin unverwandt. Da begriff er, dass auch der letzte Rest Leben in ihm, dieser warme Klumpen aus Hass und Stolz, der ihm das Atmen ermöglichte, dabei war zu verlöschen und dass, war dieser Kern erst erkaltet, von ihm nicht mehr übrig bleiben würde als ein regloser Abguss; nur ganz von ferne an das Leben erinnernd, das ihn hervorgebracht hatte. Da dachte er zum ersten Mal an den Wahnsinn als möglichen Ort. Nur einen Schritt weiter.« 

Starke Worte. Und eine Stelle im Text, die uns einen tiefen Einblick in die Seele dieses geschundenen Mannes gibt. Wird der Wahnsinn sein Schicksal sein? Wird er als Zombie durch die Welt der Lebenden, Lachenden, Liebenden streichen? Der weitere Verlauf der Geschichte hält noch einiges für ihn bereit. Vor allem eine dramatische Wendung der Ereignisse, mit der weder er noch der Leser gerechnet hätte.

Ein Buch, das mich sehr begeistert hat. Nicht trotz, sondern gerade wegen der tragischen Figur des Corso Bramard, seinem Rückzug aus dem Leben in die Abgeschiedenheit. Und irgendwann werde ich ihn gehen, den Grande Traversata della Alpi.

Buchinformation
Davide Longo, Der Fall Bramard
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-03938-7 

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6 Antworten auf „Im Niemandsland“

  1. Vielleicht sind es ja Eulen nach Athen, aber im Roman „Der Steingänger“ vom selben Autor ist der Berg- und Bergdorf-Aspekt zentral, wunderbares Buch !!! (Und auch noch bei Wagenbach erschienen…)
    BG
    Matthias Bückle

    1. Vielen Dank für den Buchtipp. Ich habe »Der Steingänger« tatsächlich schon gelesen und es hat mir ausnehmend gut gefallen. Ein Beitrag hier steht allerdings noch aus.
      Viele Grüße
      Uwe Kalkowski

  2. Das Buch hatte ich schon auf meiner Urlaubsleseliste, es ist wieder heruntergerutscht, obwohl es sich gerade hier – fast – authentisch lesen lassen würde (die Berge sind zwar auch hoch und karg, dafür aber stark bewandert, gerne von italienischen Großfamilien, die alle munter durcheinanderplaudern, was der Einsamkeit nicht zuträglich ist). Ich werde es mir einfach für zuhause merken.
    Viele Grüße, Claudia

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