Die Geschichten im Kopf

Die Geschichten, die im Kopf entstehen: Gespraech mit einem Fensterputzer

Auf dem Photo dieses Beitrags sind eine Menge Fenster zu sehen. Es handelt sich um eine Teilansicht des Verlagsgebäudes von Bastei Lübbe, inmitten des Carlswerks, einem ehemaligen Industrieareal im Kölner Stadtteil Mülheim. Das 1961 errichtete heutige Verlagshaus war früher das Verwaltungsgebäude des Fabrikgeländes, bis es 2010 für die Bedürfnisse eines modernen Medienunternehmens umgebaut wurde. Hinter einem der Fenster links oben befindet sich das Büro, in dem ich für den Eichborn Verlag arbeite, der zur Lübbe-Gruppe gehört. Zwei große Bücherregale prägen das Büro, sie sind gut gefüllt mit Exemplaren für die Presse, für Blogs oder Buchhandlungen und mit einem Archiv der Eichborn-Bücher aus den letzten Jahren. Ein Arbeitsplatz, umgeben von Büchern.

Zwei Mal im Jahr geht ein Trupp Fensterputzer durch das ganze Gebäude, das sechs Stockwerke hoch ist und wohl gute 150 Meter lang – es gibt für sie eine Menge zu tun. Und da Fensterputzen nicht unbedingt zu meinen Kernkompetenzen im Haushalt gehört, bin ich jedes Mal tief beeindruckt, mit was für einer Geschwindigkeit man eine große Scheibe reinigen kann. Üblicherweise betritt einer der Jungs das Büro, erledigt seinen Job in wenigen Minuten und ist wieder weg. Einmal aber sind wir ins Gespräch gekommen und das möchte ich hier aufschreiben.


Der Fensterputzer – junger Typ, Jeans, T-Shirt, Tattoos – betritt das Büro und beginnt sofort mit seiner Arbeit. Als er fertig ist, schaut er sich um, wirft einen Blick auf die Bücherregale. 

»Haben Sie die alle gelesen?«

»Nein, nicht alle. Aber viele davon. Ich muss ja wissen, um was es in unseren Büchern geht. «

»Und lesen Sie sonst auch viel?«

»Ja, jeden Tag. Sonst fehlt mir was.«

»Ich lese auch gerne. Andere Sachen eben. Kennen Sie die Lassiter-Hefte? Bestimmt nicht, oder? Das mag ich. Westerngeschichten und so.«

»Klar kenne ich die. Die Hefte gibt es ja auch schon ziemlich lange. Sind die gut?«

»Das ist einfaches Zeug. Aber ich mag es, wenn ich mir beim Lesen die Geschichten im Kopf vorstelle. Das ist für mich viel entspannender als Fernsehschauen. Meine Kumpels verstehen das nicht, von denen liest keiner.«

»Ja, wenn die Geschichten im Kopf entstehen – das ist das Größte am Lesen. Finde ich auch.«

»Ja. Ganz genau. Ich muss dann weiter. Tschüss.«

»Tschüss.«


Das kurze Gespräch ist jetzt schon über ein Jahr her, aber es ist mir im Kopf geblieben und ich hoffe, ich habe es einigermaßen wortgetreu aufgezeichnet. Sinngemäß auf jeden Fall. Es hat mir Stoff zum Nachdenken gegeben, da ich in meinem Umfeld nie mit Leuten zu tun habe, die Groschenromane lesen – gibt es diesen Ausdruck eigentlich noch? Es ist ja vielmehr so, dass man gerne verächtlich die Nase darüber rümpft – und nicht nur darüber. Viele Leserinnen und Leser gehen mit einer gewissen Arroganz durch das Leben, wenn von Büchern und Lesevorlieben die Rede ist. Und ich habe mich bisher davon keineswegs ausgenommen, egal, ob es um ein süffisantes Lächeln über Romance-Romane mit rosa Farbschnitt geht oder um das neueste gehypte Buch für den »Massengeschmack« oder eben um Romanhefte. Doch dieses Gespräch hat meiner Herablassung einen Spiegel vorgehalten.

Denn was soll das eigentlich? In der unendlichen Welt des geschriebenen Wortes ist genug Platz jeden Geschmack. Und als ich mit dem Fensterputzer darüber gesprochen habe, wie großartig es ist, dass beim Lesen die Geschichten im Kopf entstehen – da haben sich zwei Leser miteinander unterhalten und es hat keine Rolle gespielt, was sie lesen. Oder wie viel.

Geschichten, die im Kopf entstehen: Diese wunderbare Erfahrung ist es, die alle Leserinnen und Leser vereint. Egal, ob diese Geschichten durch anspruchsvolle Literatur zustandekommen, für die man volle Konzentration benötigt, oder durch pure Unterhaltung. Überhaupt ist im deutschen Sprachraum die strikte Trennung zwischen E und U, zwischen »ernsthafter Literatur« und »Unterhaltungsliteratur« ein Ärgernis und das Ergebnis jener arroganten Haltung, mit der andere Lesegewohnheiten herabgewürdigt werden sollen. Anderswo sieht man das deutlich entspannter: Romane, die in der New York Times, in der Washington Post oder im Guardian bejubelt werden, finden im hiesigen Feuilleton oft keinerlei Beachtung. Kriminalromane oder Phantastik gelten bei uns im akademischen Umfeld als nicht satisfaktionsfähig – dabei gibt es in beiden Genres zahllose Beispiele von herausragenden Werken. Und um noch einmal auf die bereits erwähnten Romance-Romane mit rosa Farbschnitt zurückzukommen oder auf jene gehypten Bücher à la »Alchemised« oder eben jene Romanhefte: Ich gehöre nicht zur Leserschaft dieser Titel und solange ich mich nicht mit den Inhalten beschäftigt habe, sollte ich mir auch nicht anmaßen, dazu öffentlich etwas zu sagen. Wozu auch? Um mich aufzuspielen oder wichtig zu machen? Stattdessen wünsche ich jedem anderen Menschen möglichst viele Geschichten, die beim Lesen im Kopf entstehen. Gleichgültig, welche es sind.

Denn das ist eines der Erlebnisse, die unser Leben prägen, immer wieder. Und immer wieder aufs Neue. 

2 Antworten auf „Die Geschichten im Kopf“

  1. Lieber Uwe, das ist in der Musik nicht anders. Viele Jahre habe ich die Jazzredaktion des Saarländischen Rundfunks geleitet. Jazz ist in den Radiokästchen irgendwas zwischen E- und U-Musik. Wenn du mal zwischen den Stühlen, bzw. Den Rubriken Platz genommen hast, wird dir endgültig der Unsinn solcher Grenzziehungen klar. Mir ging es immer um das gemeinsame Erleben von Musik. Live, im Konzert kann das wunderschön sein. Und dann ist es egal, ob ein Schlagerstar singt, ob eine Hardrock-Truppe tönt, oder eine Jazzband improvisiert. Es geht um das gemeinsame Erleben. In der Musik und für mich. Herzliche Grüße, Peter

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