Europas vergessene Ur-Katastrophe

Orlando Figes: Krimkrieg - Der letzte Kreuzzug

Das Buch »Krimkrieg – Der letzte Kreuzzug« von Orlando Figes war eine echte Horizonterweiterung für mich. Ich hatte es schon ein paar Jahre im Regal stehen, es mehrmals angefangen, dann wieder zurückgestellt. Für jedes Buch gibt es den richtigen Zeitpunkt, aber um den herauszufinden muss man es erst einmal haben. Der richtige Zeitpunkt für dieses Buch war jetzt.

Sachbücher zu geschichtlichen Themen des 19. und 20. Jahrhunderts sind eine große Leidenschaft von mir. Meistens erfahre ich neue Details zu einer mir bereits bekannten Epoche oder einem Ereignis. Diesmal war es ein regelrechter Schub an völlig neuem Wissen. Der Krimkrieg, in dem das Osmanische Reich, Frankreich und England gegen Russland kämpften, fand von 1853 bis 1856 statt. Er ist in unserer Wahrnehmung fast verschwunden und das Wissen um ihn, wenn überhaupt, nur noch anekdotenhaft vorhanden. Wie etwa die Geschichte von Florence Nightingale, die sich aufopferungsvoll um verwundete Soldaten kümmerte. Oder die Geschichte vom selbstmörderischen Angriff der Leichten Brigade in der Schlacht von Balaklava. Oder die Saga um die zähe Verteidigung der Malakoff-Schanze von Sevastopol, die damals solch einen Eindruck auf die öffentliche Wahrnehmung gemacht hatte, dass vielerorts in europäischen Festungsstädten ein Bollwerk danach benannt wurde. In Köln steht heute noch der Malakoffturm am Rheinauhafen.

Aber der Krimkrieg war kein Heldenepos. Es war der erste modern geführte Krieg. Mit Schützengräben, Bollwerken, Trommelfeuer, blutig, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Und seine Auswirkungen waren bis weit ins 20. Jahrhundert spürbar, haben den Gang der Geschichte weit mehr beeinflusst, als es gemeinhin bekannt ist. Doch wie kam es überhaupt zu dieser Auseinandersetzung? Orlando Figes, einer der renommiertesten Forscher zur russischen Geschichte, nennt sein Buch im Untertitel »Der letzte Kreuzzug«. Das trifft es genau. Er beschreibt die religiösen, ideologischen und wirtschaftlichen Gründe des Krieges, die zusammen eine explosive Mischung ergaben.

Auf der einen Seite der russische Zar, der sich als Schutzherr und Befreier aller orthodoxen Christen sah – insbesondere derer, die unter osmanisch-türkischer Herrschaft in Palästina, dem Heiligen Land, und auf dem Balkan lebten. Dazu die starke panslawistische Fraktion am russischen Zarenhof, die für eine Befreiung der Balkanländer und ihrer slawischen Bevölkerung von der osmanischen Herrschaft eintrat – und damit eine russischen Expansion auf Kosten des osmanischen Reiches begründete. Jenes riesige osmanische Reich befand sich im Umbruch, alleine kaum noch überlebensfähig, es befand sich seit vielen Jahren in einem Dauerkonflikt mit Russland, gleichzeitig gab es dort starke konservative Kräfte, die eine Modernisierung der Gesellschaft ablehnten. Weiter Frankreich, auch knapp 30 Jahre nach Napoleons endgültiger Niederlage immer noch misstrauisch von allen anderen europäischen Mächten beäugt und auf der Suche nach außenpolitischen Erfolgen, um sich im Spiel der Mächte neu zu etablieren.

Und England, das seine Handelsinteressen in Gefahr sah und auf keinen Fall die Dardanellen sowie den Unterlauf der Donau in russischer Hand wissen wollte. Führende englische Politiker betrachteten es zudem als ihre Mission, Russland aus Europa hinauszudrängen. Es entstand dabei ein antirussisches Vokabular, das bis in die Zeiten des kalten Krieges im 20. Jahrhundert Bestand hatte. »Die Briten waren überzeugt vom Wert politischer Reformen und glaubten, ihre liberalen Prinzipien mit Hilfe ihrer Kanonenboote über den ganzen Globus hinweg exportieren zu können.« Ein gutes Beispiel, wie sich Geschichte immer wiederholt. Nur die Akteure ändern sich.

Dazu kam ein Novum: Die Macht der Medien. Besonders in England waren die Zeitungen als damalige Form der Massenmedien auf Kriegskurs eingeschwenkt. Dies setzte den Premierminister und sein Kabinett so dermaßen unter Druck, dass für Friedensgespräche kein Handlungsspielraum mehr blieb. Zum ersten Mal in der Geschichte erfuhren die Zeitungsleser durch telegrafierte Berichte  dann auch unmittelbar vom Kriegsgeschehen. Die berühmten Reportagen des Times-Korrespondenten Howard Russell gelten als Meilenstein des Journalismus und sind übrigens im Band 186 »Meine sieben Kriege« der Anderen Bibliothek enthalten. So las die englische und französische Bevölkerung von immer größeren Verlusten, von ausbleibenden Erfolgen, katastrophal ausgerüsteten Soldaten und unfähigen Generalen. Als endlich in einer letzten großen Anstrengung Sevastopol nach langwieriger Belagerung doch noch erobert werden konnte, waren alle Seiten erschöpft. Etwa eine Million Soldaten und unzählige Zivilisten waren tot. Im Jahr 1856 eine unvorstellbare Zahl.

Mit dem Friedensvertrag wurde das russische Reich gedemütigt, es musste seine Schwarzmeerflotte abrüsten und hatte Gebietsverluste zu beklagen. Der Krimkrieg hatte die Machtverhältnisse in Europa bis ins Mark erschüttert und irreparabel beschädigt. Russland fühlte sich vom Westen, der mit dem Osmanischen Reich gemeinsame Sache gemacht hatte, verraten und wandte sich enttäuscht ab. (Nachtrag, 2022: Es war der Beginn einer Entfremdung, die Russland erst zum Gegner, dann zum Feind Europas werden ließ.) 

Nach dem Krimkrieg erstarkte der Panslawismus, die schwelenden Konflikte auf dem Balkan blieben ungelöst. 58 Jahre später mündeten sie in einen anderen Krieg, der dann das Gesicht Europas radikal verändern sollte. Bis heute.

Orlando Figes hat mit seinem Buch das Wissen um den Krimkrieg zurück in unsere Zeit geholt. Dabei geht es vor allem um die Hintergründe und Auswirkungen. Und um die politischen, aber auch die gesellschaftlichen Veränderungen, die dort ihren Ausgang nahmen. Absolut lesenswert.

Buchinformation
Orlando Figes, Krimkrieg – Der letzte Kreuzzug
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter 

Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-1028-5

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4 Antworten auf „Europas vergessene Ur-Katastrophe“

  1. Eine gute, dem Buch und seinem Gegenstand sehr angemessene Besprechung! Ich fand es ebenfalls sehr lehrreich und auch mentalitätsgeschichtlich hochinteressant. Du hast vollkommen Recht, während der jubiläumsbedingten Fokussierung auf 1914 an diese Weichenstellung zu erinnern.

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