72 Stunden im Literaturrausch

Zürich liest 2016: 72 Stunden im Literaturrausch

»Zürich liest« ist das größte Lesefestival der Schweiz, das 2016 vom 27. bis zum 30. Oktober stattgefunden hat. Der Kaffeehaussitzer war einer von fünf Literaturblogs, die als offizielle Kooperationspartner das Lesefest begleitet haben – auf ihren Blogs, auf Facebook und unter dem Hashtag #Zl16 auf Twitter und Instagram. So hatte ich das große Vergnügen, zusammen mit Sarah Reul (Pinkfisch), Friederike Kipar (Die Buchbloggerin), Linus Giese (Buzzaldrins Bücher) und Janine Rumrich (Frau Hemingway) mehrere Tage lang durch Zürich zu streifen, an vielen Lesungen und anderen Veranstaltungen teilzunehmen und 72 Stunden lang mich intensiv mit Literatur in all ihren Facetten zu beschäftigen. Denn soviel sei vorweg gesagt: Das Programm war großartig zusammengestellt. Und da wir häufig bei unterschiedlichen Lesungen oder anderen Veranstaltungen unterwegs waren, decken unsere Festivalberichte ein breites Spektrum von »Zürich liest 2016« ab.

Dabei begann alles mit einem Schock in früher Stunde: Am Anreise-Donnerstag holte ich morgens um sechs die Zeitung aus dem Briefkasten, um bei einem ersten Kaffee gedankenverloren darin zu blättern. Plötzlich stieß ich auf die Mitteilung, dass aufgrund eines Streiks an diesem Tag fast alle Eurowings-Flüge ausfallen würden. So schnell war ich schon lange nicht mehr wach gewesen, denn auch derjenige Flug, mit dem ich am Nachmittag entspannt von Köln nach Zürich reisen wollte, war davon betroffen. Eine Planänderung, ein etwas überstürzter Aufbruch und etliche Zugstunden später kam ich dann aber trotzdem in Zürich an, gerade rechtzeitig für ein erstes Highlight. An diesem Abend diskutierten im Zürcher Literaturhaus Tim Parks und Peter Stamm über die Frage, worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen – nach dem Titel von Tim Parks kürzlich erschienenen Essay-Band. Es war ein großes Vergnügen, diese beiden charmanten, witzigen und brillanten Autoren live zu erleben. Von die Kindheit prägenden Leseerlebnissen über die Zusammensetzung des Literaturnobelpreis-Komittees bis zum zwangsweisen Vertrauen in die Qualität von Übersetzungen ging es um zahlreiche Fragen rund um das Lesen von Büchern. Tim Parks Aussage »We are all American citizens«, mit der er den von der US-amerikanischen Literatur dominierten internationalen Literaturmarkt charakterisierte, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.

Zürich liest 2016: Tim Parks und Peter Stamm diskutieren über die Frage, worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen.

Der Freitag von »Zürich liest« war geprägt von unterschiedlichsten Eindrücken. Bei einem Foodtasting in the Bookshop wurden in der englischsprachigen Abteilung von Orell Füssli unzählige Leckereien gereicht, die aus Kochbüchern der dortigen Auswahl nachgekocht waren. Ein echter Gaumenschmauß. Oder, um Friederike Kipar – Die Buchbloggerin – zu zitieren: »Es gab das beste Millionaires Shortbread, welches ich je gegessen habe.« Word! Es ging nicht nur uns so, die zahlreichen Gäste griffen beherzt zu, und während ich mich mit einer Buchhändlerin über das perfekte Hummus-Rezept unterhielt, wurden immer wieder neue Platten mit internationalen Spezialitäten aufgetischt.

Zürich liest 2016: Foodtasting in the Bookshop

Nach physischer Nahrung vermittelte die Ausstellung Gomringer & Gomringer im Strauhof geistige Genüsse. Dort wurde die Lyrik von Vater Eugen und Tochter Nora Gomringer auf beeindruckende Weise audiovisuell präsentiert. Sprachkunst in graphischer Gestaltung, Sprachkunst zum Hören, Sprachkunst als Video-Performance. Dazu viele Bilder aus dem Alltag der beiden Lyriker. Spannend und ein absolut lohnenswerter Besuch. 

Zürich liest 2016: Ausstellung Gomringer und Gomringer

Gegen Abend konnte ich mal wieder Uni-Luft schnuppern. Und zwar bei einer Podiumsdiskussion im Zuge des Peter-Weiss-Symposiums, das dort gerade stattfindet und das sich mit diesem Vortrag an »Zürich liest« beteiligt hat. Sehr theoretisch, aber sehr interessant. »Die Ästhetik des Widerstands« werde ich jetzt endlich einmal lesen, das ist fest vorgenommen – zumal gerade die wunderschöne Ausgabe der Büchergilde Gutenberg ins heimische Bücherregal gewandert ist. Und dann ging es zur Nachtlesung in die Krypta des Zürcher Grossmünsters. Bei Kerzenschein saßen die Zuhörer in diesem uralten Raum, der 1107 geweiht wurde, und lauschten den Gedichten Nadja Küchenmeisters und dem Gitarrenspiel Nadja Zelas. Anschließend wurde in dem Hauptschiff des Münsters noch ein Glas Wein ausgeschenkt. Die ganze Kirche lag im Dunkeln, nur an der Stelle, an der wir uns versammelten, gab es eine einzige Lichtquelle. Teelichter wiesen den Weg zum Ausgang, über uns der riesige dunkle Raum. Was für eine Atmosphäre.

Zürich liest 2016: Nadja Küchenmeisters Nachtlesung in der Krypta des Zürcher Grossmünsters

Der Samstag von »Zürich liest« war ein Tag voller Abwechslung. Er begann mit einer Führung durch die Bibliothek, den Lesesaal und das Buchlager der Museumsgesellschaft, einer 1834 gegründeten und bis heute bestehenden Lesegesellschaft mit solch illustren Mitgliedern wie Gottfried Keller, Kurt Tucholsky, James Joyce oder Lenin. Faszinierend: Das Bucharchiv wurde bei der Renovierung des Gebäudes in den sechziger Jahren gleichzeitig als Luftschutzkeller konzipiert. Die Anleitungen, wie durch schnelle Handgriffe die Buchregale zu Notbetten umfunktioniert werden konnten, hängen immer noch dort. Nur die Frage, wohin im Ernstfall mit dem Büchern, war bei der Planung nicht berücksichtigt worden.

Zürich liest 2016: Führung durch die Bibliothek der Museumsgesellschaft

Danach war Zeit, mit dem Tram (in der Schweiz heißt es »das Tram«, wie ich gelernt habe) weit den Berg hinauf zu fahren, mitten hinein in die tiefhängenden Wolken zum Grab von James Joyce auf dem Friedhof Fluntern. Dort oben war es neblig, der Tau tropfte von den Bäumen, Krähen saßen auf dem brachliegenden Acker neben der Tramhaltestelle, kein Mensch weit und breit auf dem Friedhof. Eine wahrhaft magische Stimmung.

Zürich: Das Grab von James Joyce auf dem Friedhof Fluntern

Dann ging es wieder hinab, mitten hinein in die lebendige Innenstadt Zürichs. Und zwar direkt zu einem Gespräch zwischen Raoul Schrott und Michael Fehr über die Grenzenlosigkeit der Literatur, gerade in einer Welt voller Regeln, einer Welt der Systeme, die kollabieren. Sehr gelungen moderiert wurde die Diskussion von der Literaturkritikerin und Bachmann-Preis-Jurorin Hildegard Elisabeth Keller. Es ging um die Rolle des Autors, der seinen eigenen Weg gehen muss, um Literatur, die nicht zur egozentrischen Nabelschau verkommen darf. Das Weltbild, das uns die Wissenschaft vermittelt, wird wertfrei präsentiert. Es mit Sinn zu füllen, war früher ausschließlich Aufgabe der Religion; heute ist die Literatur und insbesondere die Poesie gefragt, dies zu übernehmen. Im Kopf geblieben sind mir einige der letzten Sätze Raoul Schrotts in diesem Gespräch: »Literatur ist wie eine Photographie durch Sprache, nur reicht sie viel tiefer.« Oder: »Eitelkeit ist für einen Schriftsteller wie Arterienverkalkung, irgendwann kommt da nichts mehr durch.« Ich habe daraus mitgenommen: Höchste Zeit, sich mit diesem Autor einmal näher zu beschäftigen.

Zürich liest 2016: Raoul Schrott im Gespräch mit Hildegard Elisabeth Keller

Ein Zwischenkaffee im Kaffeehaus Odeon überbrückte die Zeit bis zum Ablegen des Literaturschiffs. Bei einer Fahrt weit hinaus auf den Zürichsee bewies Alex Capus, dass er nicht nur ein lesenswerter Autor, sondern auch ein begnadeter Entertainer ist. Diese Fahrt war für mich einer der Höhepunkte von »Zürich liest 2016«, mehr dazu in einem eigenen Beitrag.

Zürich liest 2016: Mit Alex Capus auf dem Literaturschiff

Am Abend dann die Lesung mit Christian Kracht, auf die ich schon sehr gespannt war, da ich diesen Autor schon seit 20 Jahren immer einmal erleben wollte. Sein aktuelles Buch »Die Toten« hatte mich etwas ratlos zurückgelassen – ob seine Lesung daran etwas ändern würde? Sie begann mit einer Einführung durch einen Moderator, der zwar einen Überblick über die aktuelle Debatte zu Krachts Buch gab, dabei meinen Eindruck bestätigte, dass es eine Meta-Ebene geben könnte – oder auch nicht. Kracht selbst, so betonte er, würde sich nie über seine Bücher oder zu den Diskussionen darüber äußern. Und das tat er auch an diesem Abend nicht. Stattdessen las er 90 Minuten lang aus »Die Toten« und nahm sich anschließend alle Zeit der Welt um ausgiebig zu signieren. Ein schon fast schüchtern wirkender Mensch, sehr sympathisch, der nichts von der Schnöseligkeit an sich hatte, die ihm manchmal unterstellt wird. Photographiert werden durfte nicht, so dass es davon keine Bilder gibt. Als ich gerade dabei war, das Photographieren-verboten-Schild am Eingang abzulichten, huschte ein Schatten an mir vorbei, geduckt, um nicht ins Bild zu laufen. Es war der Autor höchstpersönlich.

Der Tag klang aus bei einem wohlverdienten Bier im »Karl der Grosse« – und mit einer Mitternachtslesung von Tim Krohn. Irgendwann blieb dann nur noch, mit müden Füßen und voll unzähliger Eindrücke ins Bett zu sinken.

Zürich: Quaibrücke im Morgennebel

Der letzte Tag von »Zürich liest 2016« begann neblig und kühl. Am späten Vormittag besuchte ich eine Veranstaltung im Festivalzentrum »Karl der Grosse«, in der die Neuübersetzung von Cesare Paveses »Der Mond und die Feuer« vorgestellt wurde. Ein Volltreffer; dieser moderne Klassiker beschäftigt sich mit der Suche nach den eigenen Wurzeln und der Herkunft, nach dem Ort, an den man gehört – und sei es nur, um von dort wegzugehen. Ein Roman ganz nach meinem Geschmack, sind es doch Themen, die mich auch ständig intensiv beschäftigenDas Buch habe ich vor Ort sofort gekauft und muss es dringend lesen.

Zürich liest 2016: Buchvorstellung Cesare Pavese, Der Mond und die Feuer

Danach war etwas Zeit für einen Bummel durch die inzwischen sonnenbeschienene Stadt; zusammen mit vielen, vielen anderen Menschen am endlos wirkenden Seeufer. Ein herrlicher Herbsttag. Passend dazu die letzte Veranstaltung, an der ich teilgenommen habe: »Weggehen – ein Spaziergang der Abschiede«, durchgeführt von der Agentur für Gehkultur; als begeisterter Fußgänger fand ich diesen Namen sofort ansprechend. Wir liefen in einer Gruppe durch Zürich, in regelmäßigen Abständen rezitierte die Veranstalterin Marie-Anne Lerjan Gedichte zum Thema Abschied. Eine besinnliche Tour, die immer an der Limmat entlang führte, bis zu einer Stelle, an der sie sich mit der Sihl vereinigt und das Wasser des breiten Flusses im nachmittäglichen, leicht diesigen Herbstlicht weiter in die Ferne floss. Übrigens der Lieblingsort von James Joyce in Zürich, wie wir durch eine angebrachte Plakette erfuhren.

Und danach hieß es tatsächlich Abschied nehmen. Abschied von netten Menschen, von in kürzester Zeit entstandenen Ritualen – wie unserem täglichen gemeinsamen Bloggerfrühstück im Hotel, bevor wir in die verschiedendsten Richtungen ausschwärmten und uns am späten Abend zu einem Absacker wieder trafen. Abschied von einem ganz und gar großartigen Lesefestival. Es war ein großes Vergnügen, ein Fest, ein Rausch. Ein Literaturrausch. 

Und Abschied von einer wunderbaren Stadt, denn ziemlich schnell hatte ich Zürich ins Herz geschlossen. Tausend Momentaufnahmen prägten die paar Tage an diesem Ort: Das quirlige Leben, die kleinen Altstadtgassen, die mondänen Gebäude, die ahnen lassen, wie lange dies schon ein bedeutender Handelsplatz ist. Dazu der See. Als selbst an einem großen See – gar nicht einmal so weit entfernt – Aufgewachsener lösen der Geruch von brackigem Wasser, das Gekreisch der Möwen und der Blick über die sanft gekräuselte Seeoberfläche an einem sonnigen Herbsttag immer vage Erinnerungen an eine Zeit in mir aus, die mir manchmal wie ein anderes Leben vorkommt. Ein Heimatgefühl, ohne sich einer Heimat zugehörig zu fühlen? Aber das ist ein anderes Thema … Womit wir wieder bei dem oben erwähnten Buch von Pavese wären, das ich wirklich dringend lesen muss.

Schön war es bei »Zürich liest 2016«. Ich möchte mich ganz herzlich bedanken bei Monika Schubarth, die mit ihrer Agentur Adibuma das Lesefestival online begleitet hat und der wir die Einladung verdankt haben. Bei den beiden Festivalleiterinnen Violanta von Sales und Nathalie Widmer, die ein großartiges Programm auf die Beine gestellt haben, bei Zürich Tourismus, dessen ZVV-Tickets uns kostenlos durch Zürich fahren ließen, und beim Team des Hotels Rothaus, in dem wir uns sehr willkommen fühlten. Danke. Und bis bald. Ich komme wieder. Und wer noch ein wenig hinter die Kulissen schauen möchte: Nathalie Widmer hat mir im Interview einen schönen Einblick in ihre Arbeit als Festival-Macherin gegeben.

Zürich liest

Als eine der vielen Reaktionen aus dem Netz erhielten wir diesen schönen Tweet:

Würde sagen: Mission erfüllt.

So. Und als Bonustrack gibt es jetzt noch ein Photoalbum.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Hier geht es zu den Zürich-liest-Berichten von
Die Buchbloggerin
Frau Hemingway
Pinkfisch
Buzzaldrins Bücher

10 Antworten auf „72 Stunden im Literaturrausch“

  1. Lieber Uwe, vielen Dank für den tollen Beitrag! Schön, dass es Dir gefallen hat! Und unbedingt vormerken: „Zürich liest’17“ findet statt vom 25.-29.10.17. Herzliche Grüsse Violanta

  2. Lieber Uwe

    Schön hat es dir am Literaturfestival in meiner Heimatstadt so gut gefallen. Auch deine Fotos sind toll, denn ein Aussenstehender sieht viele Details anders, als wenn man täglich durch die eigene Stadt geht. Auf deinen Bericht von Capus Lesung bin ich gespannt, denn ich sass am gleichen Tisch wie du und fand den Nachmittag einfach nur genial!

    Herzliche Grüsse
    buechermaniac

    1. Am gleichen Tisch? Das ist ja ein netter Zufall. Haben wir zusammen Wein getrunken?
      Auch ich fand den Nachmittag einfach nur großartig, es hat alles gepasst.
      Und da ich fast direkt an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen bin, konnte ich Herrn Capus auch verstehen, wenn er nicht Hochdeutsch geredet hat… ;-)

      Beste Grüße
      Uwe

  3. Lieber Uwe,
    mit Deinem schönen Bericht hast Du mich sehr anschaulich an den Literaturtagen – und auch an den Besonderheiten Zürichs – teilnehmen lassen. Ein Satz ist mir besonders aufgefallen, weil ja gerade im Zusammenhang mit Melles „Welt im Rücken“ immer wieder die Diskussion um die Bewertung von autobiografischer Literatur entbrennt: „Es ging um die Rolle des Autors, der seinen eigenen Weg gehen muss, um Literatur, die nicht zur egozentrischen Nabelschau verkommen darf.“ Kannst Du dazu noch ein paar Anmerkungen machen, was genau in dem Kontext besprochen oder diskutiert wrde?
    Viele Grüße, Claudia

    1. Liebe Claudia,
      es ging um das Spannungsverhältnis, in dem sich ein Autor befindet: Zum einen muss er der Öffentlichkeit „gefallen“, damit er seine Bücher verkaufen kann, zum anderen muss er im Namen seiner Kunst auch Grenzen überschreiten, um vor sich selbst glaubwürdig zu bleiben. Der ewige Spagat zwischen Kunst und Kommerz. Und sich eben nicht den gegebenen Konventionen anpassen – sonst würde es wahrscheinlich solche Bücher wie „Anna Karenina“ nicht geben. Raoul Schrott hat erzählt, dass dies mit ein Grund war, wieso er promoviert und sich habilitiert hat – um als Dozent einen „Brotjob“ zu haben, damit er als Künstler unabhängig sein kann.
      Viele Grüße
      Uwe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert