Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*

Eine Zeitreise als Utopie: Aus der Rubrik Textbausteine

Die Welt ist aus den Fugen, so scheint es. An manchen Tagen möchte man sie schon nach dem ersten, morgendlichen Blick auf die Nachrichtenlage gerne eintauschen gegen eine andere. Oder zumindest gegen eine andere Zeit. Denn gleichzeitig habe ich seit vielen Jahren das Gefühl, im falschen Zeitalter zu leben, so als wäre ich nur durch Zufall im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geboren. Habe ich schon einmal gelebt? Der Glaube an Reinkarnation ist für mich esoterischer Unsinn, aber darum geht es nicht. Es ist eher ein diffuses Gefühl, das sich manchmal seinen Weg bahnt; vielleicht erklärt sich auch so mein Gruseln vor moderner Stadtplanung, mein völliges Desinteresse an Sportveranstaltungen oder auch meine Begeisterung für die einsamen Landschaften Caspar David Friedrichs, in die ich mich stundenlang vertiefen könnte. Die große Retrospektive dieses Meisters 2006 im Museum Folkwang war für mich der Höhepunkt eines Vierteljahrhunderts Ausstellungsbesuche.

Irgendwann hatte ich einmal einen Text entdeckt, der das alles viel besser in Worte zu fassen vermag, als ich es jemals könnte. Hier ist er.

»Auf die gelegentlich gestellte Frage, in welcher Zeit ich lieber lebte als in der meinen, fällt mir unfehlbar das ausgehende 18. Jahrhundert, der Anfang des 19. Jahrhunderts ein. Die Welt war damals sicher nicht heil, aber ihr Unheil hatte menschliche Dimensionen; sie war nicht so lieblich-pausbäckig wie auf Ludwig Richters Bildern, aber für Dich und mich klar begrenzt, mit unserer Wahrnehmung zu fassen, in die Natur eingebunden: sie musste nicht in allem verantwortet werden; sie war nicht frei und schon gar nicht gerecht, und nicht nur als Tagelöhner wäre ich damals oft der blanken Not ausgesetzt, auch als Mitglied eines städtischen Kleinadels hätte ich meinen Buckel unter manch entbehrungsreichen Dienst, unter manch harten königlichen Befehl beugen müssen; man war in vieler Hinsicht noch unaufgeklärt, aber man wollte Klarheit und versuchte sein Leben in gemeinsamer bürgerlicher Vernunft einzurichten; die Menschen konnten mit der Welt fertigwerden – sie hatten sich ja nicht vorgenommen, den Turm zu Babel neu zu bauen, wie immer der heißt: Manhattan oder Skylab, Kernkraft oder IBM, Weltbank oder UNO, NY-Times oder IG-Farben. Wir können nicht dorthin zurück, aber wem das bewusst ist, dem schadet ein wenig Sehnsucht danach nicht: Es ist die bessere der mir vorstellbaren Utopien.«

Das ist ein Auszug aus dem von Fritz J. Raddatz 1980 herausgegebenen Suhrkamp-Sammelband »ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher«, einem Literatur-Kanon der Weltliteratur, mit Buchbesprechungen aus den Federn solch bekannter Namen wie Golo Mann, Manès Sperber, Rainer Werner Fassbinder, Siegfried Lenz, Luise Rinser, Heinrich Böll, Walter Kempowski und vielen mehr. Jeder von ihnen stellt eines der 100 Bücher vor, die ihrer Meinung nach in einem solchen Kanon einen Platz verdient haben. Der Verfasser des zitierten Textes, der Wissenschaftler und Publizist Hartmut von Hentig, hätte sich damals sicherlich nicht vorstellen können, wie sehr sich unsere Welt in den nächsten 35 Jahren noch verändern würde.

Manche mögen sagen, der Gedanke an eine heile Welt in der guten alten Zeit sei purer Eskapismus. Aber eine heile Welt gab es damals so wenig wie heute und so wenig, wie es sie in Zukunft geben wird. Sicher, unser Leben – zumindest das in Mitteleuropa – ist von vielen, manchmal vielleicht zu vielen Bequemlichkeiten geprägt. Doch ein Satz aus diesem Text bringt den entscheidenden Unterschied auf den Punkt: »Die Welt war damals sicher nicht heil, aber ihr Unheil hatte menschliche Dimensionen.«

Natürlich lebe ich im Hier und Jetzt. In einer überbevölkerten, umweltzerstörten Welt auf dem Weg in den Kollaps. Versuche, mit den gesammelten Katastrophen, die durch die Medien täglich in unser abgestumpftes Empfinden gespült werden, klarzukommen und durch Kleinigkeiten wie Einkaufsverhalten oder die Wahl der Fortbewegungsmittel dazu beizutragen, dass alles nicht noch schlimmer wird. Tropfen auf den heißen Stein. Aber wir können uns die Zeit nicht aussuchen, in der wir leben; es kommt stets darauf an, das Beste daraus zu machen und mit erhobenem Kopf immer weiterzugehen. Viele Tropfen lassen den heißen Stein vielleicht tatsächlich abkühlen. Und natürlich gibt es Errungenschaften in unserer Zeit, auf die man auf keinen Fall verzichten möchte, etwa die über Jahrhunderte erkämpfte Freiheit des Wortes. Eine fragile Freiheit, die in vielen Ländern dieser Welt nicht existiert und selbst in Mitteleuropa wieder bedroht ist, wie die Entwicklungen in Polen und Ungarn zeigen.

Doch manchmal, nur selten, erlaube ich mir eben ein wenig Eskapismus; ich brauche das, um mich wieder im Hier und Jetzt zu verorten. Zumal das Gedankenspiel, wie es wohl gewesen wäre, vor 200 Jahren gelebt zu haben, ein äußerst reizvolles ist. Wir werden es wohl nie erfahren. »Wir können nicht dorthin zurück, aber wem das bewusst ist, dem schadet ein wenig Sehnsucht danach nicht: Es ist die bessere der mir vorstellbaren Utopien.« 

Falls eines Tages tatsächlich Zeitreisen erfunden werden sollten: Ich bin dabei.

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

Jochen Kienbaum hat sich in seinem Blog lustauflesen.de ausführlich über diesen Suhrkamp-Band und das Wesen eines Literaturkanons Gedanken gemacht. Lesenswert.

Buchinformation
Fritz J. Raddatz (Hrsg.), ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher
Suhrkamp Taschenbuch
ISBN 978-3-518-37145-9
Das Buch ist leider nur noch antiquarisch erhältlich

15 Antworten auf „Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*“

  1. Es gab keine „heile“ Welt, und es tobte kalter Krieg, Pershing Stationierung und von Kohl war noch keine Rede. Ich ging nach Berlin, der Bundeswehr wegen und wurde zum jüngsten Verleger Deutschlands (West), eröffnete eine Galerie, gründete eine Literaturzeitschrift. Da war so viel „No Future“, schmerzhaft viel, aber da gab es viele, die sich gegen den Zeitgeist stemmten, die wie ich mit Camus’schem Trotz gegen die Umstände arbeiteten. Ich bildete mir nicht ein zu siegen, aber bis ans Ende trotzig und rebellisch zu bleiben. Aber dann kam Kohl und 85 der Frost nach Berlin, das Klima von Toleranz, Berliner Liebenswürdigkeit und Paradiesvögeltum wich einer harten, reaktionären Linie unter Diepgen, alternative Projekte verloren ihre Förderung oder wurden von Investoren platt gemacht. Man könnte meinen, die bereiteten schon zwei Jahre vorher die Wende vor. Ich wollte nur noch weg. Und dann machte mir das Finanzgericht den Laden dicht, „Liebhaberei“ sagten sie, Aberkennung des Gewerbestatus …. der Rest ist Geschichte. Aber besagtes blaues Suhrkampbändchen, mit diesem wunderbaren Manifest, habe ich mir aufbewahrt aus jener Zeit mit ein paar anderen Devotionalien. Dazu vielleicht ein anderes Mal …

  2. Ein Wissenschaftler (Name habe ich vergessen) erklärte sehr nüchtern, dass das Zeitreisen theoretisch nicht erfunden werden kann. Es müssten sonst überall in der Vergangenheit und der Gegenwart Menschen aufgetaucht sein oder auftauchen, die aus der Zukunft kommen. Tausende Menschen, hunderttausende, die wahllos überall erscheinen und aus irgendwelchen Zukunftsepochen bei uns aufschlagen. Da wir noch nie jemanden kennengelernt haben, der aus der Zukunft kam, wird es leider nie erfunden werden. Schade! Klingt doch einleuchtend, oder?

    1. Klingt irgendwie logisch. Leider.
      Aber wer würde schon ernstgenommen werden, wenn er sagt, er käme aus der Zukunft?
      Insofern besteht noch Hoffnung…

  3. Die „Zeit-Bibliothek der 100 Bücher“ war damals ein schöner Schmöker, nicht nur aufgrund der ausgewählten Titel der europäischen Literatur einschließlich einiger klassischer und amerikanischer Werke, sondern auch mit der Vielfalt der eingeladenen Rezensenten. Mit der Ausgabe ließen sich die eigene, bescheidene Schullektüre einordnen und ein weiterer Horizont entdecken.
    Ergänzend dazu wurde die, ebenfalls von Fritz J. Raddatz herausgegebene „Zeit-Bibliothek der 100 Sachbücher“ zu einem anregenden Studienbegleiter. Beide Bände blieben für Jahre hilfreiche Nachschlage-Werke.
    Aus heutiger Sicht wünschte ich mir eine „Bibliothek 100 nicht-westlicher Bücher“. Wäre das ein Projekt für die ZEIT?
    „Die Welt war damals sicher nicht heil, aber ihr Unheil hatte menschliche Dimensionen.“ War das so? Das Erdbeben von Lissabon 1755 mit vielleicht 30.000 Opfern löste einen kontinentalen Schock aus – und gab Impulse für die europäische Aufklärung.
    Ja, Zeitreisen – mit Lesen …

    1. Das Erdbeben von Lissabon – ein sehr guter Hinweis. In der Tat eine riesige Katastrophe. Aber was haben die Menschen gemacht, die sie überlebt haben? Sie bauten ihre Stadt wieder auf. Und das ist der große Unterschied zu den Menschen in Tschernobyl oder Fukushima…

  4. Für mich bieten Utopien, dazu zähle ich auch Science-Fiction-Romane oder Dystopien, nicht nur die Möglichkeit, der aktuellen Wirklichkeit zu entfliehen. Ich denke, in großen Werken stecken sowohl Warnung als auch Hoffnung. Beides können wir sicherlich gebrauchen. Ich finde es zudem spannend zu sehen, wie Menschen in der Zukunft leben oder sie auf Katastrophen reagieren. Vielen Dank, dass Du auf dieses mir unbekannte Werk aufmerksam machst und zu einer Diskussion anregst.

    1. Es ist ein wunderbares Lesebuch – und an sich schon wieder Literatur. Seit vielen Jahren lese ich immer wieder darin und entdecke jedes Mal neue Details…

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