Wer nichts weiß, muss alles glauben

Kant: Was ist Aufklärung?

1989 hatte man das Gefühl, ab nun würden Europa und die Welt friedlichere Orte werden. Plötzlich standen sich nicht mehr zwei Großmächte waffenstarrend gegenüber, die Gefahr eines versehentlich ausgelösten Atomschlags schien gebannt, Grenzen öffneten sich und fast ganz ohne Blutvergießen stürzten die Regime der Unterdrücker in Osteuropa.

Doch die Illusion währte nur kurz, so als hätte die Geschichte lediglich für einen Moment den Atem angehalten. Dieser Moment war schnell vorbei. Erster Irakkrieg, Balkankriege, die zerstörerische Verbindung des kapitalistischen Denkens mit den Möglichkeiten der aufkommenden Globalisierung und Technisierung, der 11. September, Afghanistan, zweiter Irakkrieg, Weltwirtschaftskrise, Hungersnöte, Seuchen, Überbevölkerung, Klimawandel, ein Planet vor dem Kollaps.

Kein Wunder, dass für all die komplexen Probleme viele Menschen einfache Lösungen suchen. Und so haben religiöser Fanatismus, wiedererstarkender Nationalismus und dumpfe Ressentiments momentan Hochkonjunktur.

Für mich ein Grund, hier einen der wichtigsten Texte zu zitieren, der jemals geschrieben wurde. Er ist 230 Jahre alt und stammt von Immanuel Kant. Es ist der Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung« und wurde von dem großen Denker 1784 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht. Und obwohl ich mich bisher weder mit Kant noch mit anderen Philosophen ausführlich beschäftigt habe, sind diese Worte zu einem meiner Textbausteine* geworden. Sie lauten:

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Und weiter:

»Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleibt; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.«

Viel gibt es dazu nicht zu sagen. Vielleicht sollte diesen Text jeder einmal gelesen und verinnerlicht haben und vielleicht wäre die Welt dann tatsächlich ein besserer Ort. So wie wir es schon einmal gehofft hatten.

tl;dr
Wer nichts weiß, muss alles glauben.

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

11 Antworten auf „Wer nichts weiß, muss alles glauben“

  1. Ein interessanter Artikel, der nun schon eine Weile sträflich vernachlässigt in meinem Browser herum liegt.
    Ich kann ihnen Kant tatsächlich nur ans Herz legen und jedem anderen auch – selbst wenn ich mit ihm selten einer Meinung bin, ist seine Wirkung und Achtbarkeit nicht zu bestreiten. Insbesondere die von Hr.Brasch angesprochene „Schrift zum ewigen Frieden“.

    Das Problem bei Kant – Achtung, wir betreten philosophische Untiefen – ist allerdings der Vernunftbegriff. Ich denke genau dies ist auch das Problem der modernen Linken und Intellektuellen – wieder einmal – und der Grund, warum diese Zeiten uns so schwierig erscheinen: Weil wir versuchen, sie vernünftig zu erklären.
    Der Mensch ist aber nicht vernünftig. Er ist zur Vernunft fähig – und dieser kleine, feine Unterschied lässt Kantens Anspruch und den der Moderne in die Leere laufen. Dieser Anspruch an den Menschen, dass er vernünftig handeln solle, ist der Mythos der Aufklärung.
    Das soll nicht heißen, dass nicht jeder einmal Kant lesen sollte. Nur, dass Vernunft allein eben zu kurz greift.

    Übrigens versteht sich aus diesem Blickwinkel der Kritik am Vernunftbegriff auch Habermas und die gesamte Frankfurter Schule, die darin noch weiter radikaler als hier skizziert vorgehen.

  2. „Vielleicht sollte diesen Text jeder einmal gelesen und verinnerlicht haben und vielleicht wäre die Welt dann tatsächlich ein besserer Ort.“ Und JEDER kann ihn, so er elektronisch lesen mag, völlig kostenfrei lesen und sogar herunter laden. http://gutenberg.spiegel.de/buch/beantwortung-der-frage-was-ist-aufklarung-3505/1. Bleibt die Frage, warum es so wenige tun.

    Möchte mich bei dieser Gelegenheit mal für den tollen Blog und die vielen Anregungen bedanken. :-)

  3. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Es gilt, die Augen nicht zu verschließen. Die täglichen News lassen nichts anderes zu, als sich zu erheben, gegen Fremdenhass und Intoleranz.

    PS: auch wenn es nicht so recht passt. Jedenfalls nicht so ganz. Ich glaube du hattest vor nicht all zu langer Zeit mit deiner Besprechung zum letzten Roman von Dave Eggers u.a. auf „Blackout“ verwiesen. Ein Volltreffer! Oliver lässt grüßen u. dankt für den Tipp. Und ich? Ich muss ihn zwingen die Leseabende nicht zu lang werden zu lassen.

  4. Und was ist, wenn der Mensch gar nicht aufgeklärt werden soll und nicht einmal will? Faulheit und Feigheit – ich führe Dummheit hinzu -, was soll man da machen? Je älter ich werde, desto entmutigter werde ich, auch wenn ich noch nicht aufhöre, den Mund aufzumachen. Danke für deinen Text. „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Wie wahr.

    1. Tja, das ist das große Problem. Bild-„Zeitung“, Dschungelcamp und ähnlicher Müll – vielen genügt das leider, um nicht über die wahren Probleme unserer Gesellschaft und unserer Welt nachdenken zu müssen…

  5. Ja, wie ich schon in FB dazu geschrieben hatte, ist Kant sicher einer der Geistesgrößen, die es lohnen würde, in die Köpfe „einzuhämmern.“ Ich gestehe selbst, wie schwer ich mich häufig mit seinen Originaltexten tue, dennoch mühe ich mich ab und an damit und bin danach geschlaucht, aber eben auch zum Nachdenken gefordert. So habe ich mich mal mit dem Essay „Zum Ewigen Frieden“ befasst und fand einiges sehr Bedenkenswertes: http://thomasbrasch.wordpress.com/2014/03/20/zum-ewigen-frieden/.

    Zum Einstieg in die Philosophie seit Kants Aufklärung verhalfen mir die herausragenden Biografien von Rüdiger Safranski zu verschiedenen Philosophen. Besonders beeindruckte mich „Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie“ sowie seine „Nietzsche“ Biografie. Hier ist auch viel von Kant die Rede. Und nebenbei: Auf erstere bezieht sich auch Irvin D. Yalom in seinem sehr lesenswerten Roman „Die Schopenhauer-Kur.“ Auch er ist ein guter Einstieg in die Philosophie. Nur Kant spielt bei ihm keine Rolle.

    1. Danke für den ausführlichen Kommentar und die Buchtipps. Mit der Schopenhauer-Biographie liebäugele ich schon lange, Safranski ist eigentlich immer lesenswert….

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