Ein Blues-Song als Botschaft

Hari Kunzru: White Tears

Der Roman »White Tears« von Hari Kunzru ist für mich eines der bemerkenswertesten, spannendsten und vielschichtigsten Bücher des Jahres. Im September hatte ich außerdem das große Vergnügen, den charismatischen Autor im Kölner Literaturhaus live zu erleben. Es war ein gelungener Abend und seine Erläuterungen haben noch einmal die zentralen Aussagen der Erzählung unterstrichen.

Worum geht es? Auf den ersten Blick um die Geschichte der beiden Freunde Seth und Carter, die in New York ein Tonstudio betreiben. Auf den zweiten Blick aber um viel, viel mehr. Aber der Reihe nach. „Ein Blues-Song als Botschaft“ weiterlesen

»Unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten«

Mit Volker Kutscher durch Köln-Klettenberg

Durch Köln-Klettenberg mit Volker Kutscher – ein Autorenspaziergang

Hier auf Kaffeehaussitzer habe ich mich schon mehrmals mit der Krimireihe rund um den Ermittler Gereon Rath beschäftigt. Die Reihe ist ein spannendes und faszinierendes Projekt, denn der Autor Volker Kutscher schafft es damit, die verhängnisvollsten Jahre in der deutschen Geschichte am Beispiel seiner Protagonisten zu erzählen. Gemeinsam mit Gereon Rath erleben wir das Ende der Weimarer Republik und den Weg in die Dunkelheit der Nazi-Diktatur. Und das alles verpackt als spannende Kriminalfälle mit akribisch recherchiertem historischen Hintergrund.

Im Herbst 2016 fragte mich Philipp Achilles vom Verlag Kiepenheuer & Witsch ob ich Interesse hätte, mich einmal mit Volker Kutscher zu treffen und aus dem Gespräch einen Beitrag zu verfassen. Klar, dass ich sofort zugesagt habe und herausgekommen ist dabei ein Text über das Schreiben, über Zeitgeschichte und den Bezug zum Heute, über Köln und Berlin. Und natürlich über Gereon Rath.  „»Unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten«“ weiterlesen

Europas offene Wunde

Zwei Bücher: Yuri Dojc und Katya Krausova, Last Folio und Alter Kacyzne, Poyln

Gerne wird momentan von der abendländischen Kultur Europas geredet, um unsere Identität gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen abzugrenzen. Und gerne wird dabei auf den christlich-jüdischen Hintergrund unserer kulturellen Entwicklung hingewiesen. Dabei drücken diese Wörter eine Symbiose aus, die es so nie gab; die vor dem Hintergrund eines jahrtausendealten europäischen Antisemitismus wie blanker Hohn wirkt. Es ist eher so, dass in Europa trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen eine lebendige jüdische Kultur existierte, die erst durch den industrialisierten Massenmord des Holocaust so dezimiert wurde, dass sie heute nur noch vage wahrnehmbar und in vielen Gegenden – insbesondere Osteuropas – vollkommen verschwunden ist. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, eines, das auf eindrucksvoll photographierte Art und Weise letzte Spuren dieser Welt zeigt, Zeugnisse des Verfalls und des endgültigen Verschwindens. Und eines, das uns an jene verschwundene Welt in seltenen Photographien erinnert. „Europas offene Wunde“ weiterlesen

Im Lawinenwinter

Das Buch "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod" von Gerhard Jäger erzählt vom Lawinenwinter 1951

Das Buch »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« von Gerhard Jäger ist der Roman, der mich von allen Büchern in den letzten Monaten am meisten begeistert hat. Dabei wäre er beinahe an mir vorbeigegangen, wenn nicht Bloggerkollegin Mareike Fallwickl ihn auf Facebook als ihre nächste Lektüre angekündigt hätte, ich neugierig nachfragte, worauf Buchhändlerin Nina Merks meinte, ich würde das Buch lieben. Wir haben uns im realen Leben noch nie gesehen, trotzdem kennen wir unsere Lesevorlieben gegenseitig so gut, dass ich umgehend in eine der Buchhandlungen meines Vertrauens spaziert bin und das Buch gekauft habe. Und was soll ich sagen, sie hatte recht. Und wie. „Im Lawinenwinter“ weiterlesen

Auf der Suche

Sandro Veronesi: Fluchtwege

Ein absoluter Zufallstreffer: Ich kannte den Autorennamen nicht, mir sagte der Titel nichts, der Klappentext gab wenig Informationen preis und eigentlich sprach mich das Buchcover nicht besonders an. Aber ich habe das Buch »Fluchtwege« des italienischen Autors Sandro Veronesi trotzdem gekauft. Einfach so. Wahrscheinlich, weil ich in letzter Zeit mit Büchern aus dem Klett-Cotta-Verlag immer Glück hatte. Und diesmal auch, ein Spontankauf, der sich gelohnt hat. Veronesi schreibt über eine rumänisch-italienische Autoschieberbande, über Diebstähle im großen Maßstab, über organisiertes Verbrechen und Korruption. Eigentlich. Aber in Wahrheit ist es die Geschichte Pietro Paladinis, der von alldem nichts weiß. Die Geschichte einer Flucht, die zu einer Reise zu sich selbst wird. Eine Familiengeschichte, die sich wie eine Zwiebel Schicht für Schicht dem Leser enthüllt. Und nicht nur dem Leser, sondern auch Pietro selbst, obwohl es seine eigene ist. „Auf der Suche“ weiterlesen

Jahr-Bücher

Jahr-Bücher: Nur eine Jahreszahl als Titel. Eine Liste.

In letzter Zeit tauchen sie vermehrt auf, die Bücher, die lediglich eine Jahreszahl als Titel tragen. Mit welchem hat es angefangen? Bewusst wahrgenommen habe ich es zum ersten Mal bei »1913« von Florian Illies. Seitdem hat es etliche weitere Jahre gegeben, die zum Anlass genommen wurden, sie im Bezug auf den Verlauf der Geschichte darzustellen. Das Konzept finde ich reizvoll, denn es waren tatsächlich immer wieder besonders ereignisreiche Zeiten, die den Lauf der Dinge maßgeblich beeinflusst haben. Berühmte Vertreter sind 1968 oder 1989, keine Frage. Aber darüber hinaus gab und gibt es immer wieder Jahre, in denen sich entscheidende Ereignisse kumulierten oder die einfach repräsentativ für eine ganze Epoche stehen. Momentaufnahmen in Buchform.

Ich habe einmal einen Blick ins heimische Bücherregal geworfen und hier zusammengestellt, welche Jahr-Bücher sich bei mir angesammelt haben; Sachbücher vor allem, aber auch Romane: Eine kleine Rundreise durch die Geschichte. „Jahr-Bücher“ weiterlesen

Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*

Eine Zeitreise als Utopie: Aus der Rubrik Textbausteine

Die Welt ist aus den Fugen, so scheint es. An manchen Tagen möchte man sie schon nach dem ersten, morgendlichen Blick auf die Nachrichtenlage gerne eintauschen gegen eine andere. Oder zumindest gegen eine andere Zeit. Denn gleichzeitig habe ich seit vielen Jahren das Gefühl, im falschen Zeitalter zu leben, so als wäre ich nur durch Zufall im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geboren. Habe ich schon einmal gelebt? Der Glaube an Reinkarnation ist für mich esoterischer Unsinn, aber darum geht es nicht. Es ist eher ein diffuses Gefühl, das sich manchmal seinen Weg bahnt; vielleicht erklärt sich auch so mein Gruseln vor moderner Stadtplanung, mein völliges Desinteresse an Sportveranstaltungen oder auch meine Begeisterung für die einsamen Landschaften Caspar David Friedrichs, in die ich mich stundenlang vertiefen könnte. Die große Retrospektive dieses Meisters 2006 im Museum Folkwang war für mich der Höhepunkt eines Vierteljahrhunderts Ausstellungsbesuche.

Irgendwann hatte ich einmal einen Text entdeckt, der das alles viel besser in Worte zu fassen vermag, als ich es jemals könnte. Hier ist er. „Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Die Liste der Neun. Ein Ausblick

Neue Buchvorstellungen auf Kaffeehaussitzer: Viel Zeitgeschichte und neun Bücher, die mich beeindruckt haben.

In den letzten Wochen war es etwas ruhig auf Kaffeehaussitzer. Zwischen Weihnachten, Jahreswechsel, beruflichen und privaten Verpflichtungen gab es keine richtige Muße, um einen Blogbeitrag zu schreiben. Was aber nicht heißen soll, dass die Zeit auch zum Lesen nicht gereicht hat, ganz im Gegenteil. Mittlerweile warten neun Bücher darauf, hier vorgestellt zu werden und als kleinen Zwischenbericht möchte ich einen Ausblick geben, was in nächster Zeit auf Kaffeehaussitzer geplant ist. Das hilft mir auch dabei, eine Gliederung zu schaffen, um mich nicht zu verzetteln.

Es ist nicht so, dass ich jedes Buch bespreche, das ich gelesen habe. Manche hinterlassen zu wenig Eindruck, als das es sich lohnen würde, sich näher damit zu beschäftigen. Allerdings hatte ich Glück bei der Auswahl der letzten Lektüren und so sind neun ganz und gar unterschiedliche Bücher zusammengekommen, um die es hier in den nächsten Beiträgen gehen wird. „Die Liste der Neun. Ein Ausblick“ weiterlesen

Weg.Gegangen

Olivier Adam: An den Rändern der Welt

Das Buch »An den Rändern der Welt« von Olivier Adam habe ich vor über fünf Monaten gelesen und es hat mich seit Jahren kein Roman so berührt und getroffen wie dieser. Seither überlege ich, wie ich diese Begeisterung in Worte fassen kann. Es fällt mir diesmal nicht leicht und auch jetzt sitze ich schon seit geraumer Zeit vor dem Bildschirm und versuche es wieder einmal aufs Neue. Denn es geht um nichts weniger als alles, was mich in den letzten Jahrzehnten meines Lebens bewegt hat. Und bis heute bewegt. „Weg.Gegangen“ weiterlesen

Gespenster der Vergangenheit

Antonin Varenne: Die sieben Leben des Arthur Bowman

Zwischen 1852 und 1864 spielt Antonin Varennes Roman »Die sieben Leben des Arthur Bowman«. Das Schicksal führt den Helden der Geschichte – eben jenen Arthur Bowman – einmal um den halben Globus, von den triefenden Sumpfwäldern an der Küste Birmas über die Straßen Londons bis zu den Weiten des amerikanischen Westens. Auf eine irrwitzige Jagd nach einem Mörder und auf eine Reise zu sich selbst. „Gespenster der Vergangenheit“ weiterlesen

Chiles 11. September

Roberto Ampuero: Der letzte Tango des Salvador Allende

Das Datum 11. September ist heute untrennbar mit den Ereignissen im Jahr 2001 verknüpft, durch die sich die Welt veränderte und die USA hochgradig traumatisiert wurden. Aber 28 Jahre zuvor gab es schon einmal einen 11. September, und damals waren die USA nicht Opfer, sondern Täter oder zumindest Anstifter und Unterstützer. Es war im Jahr 1973, als der Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte Augusto Pinochet durch einen Staatsstreich die Macht an sich riss und den Präsidenten Salvador Allende gewaltsam aus dem Amt putschte. Allende kam dabei ums Leben, eine Schreckensherrschaft Pinochets und seiner Militärjunta folgte, bei der Tausende von Menschen ermordet wurden. Die Aufarbeitung dieser Ereignisse dauert an. Bis heute.

Der Roman »Der letzte Tango des Salvador Allende« des chilenischen Schriftstellers Roberto Ampuero führt uns hinein in diese dramatische Zeit, es ist ein bewegendes Buch über ein Land im Umbruch. „Chiles 11. September“ weiterlesen

Romanhelden in der Matrix

Håkan Nesser: Himmel über London

»Himmel über London« von Håkan Nesser ist eines der irritierendsten Bücher, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Und eines der faszinierendsten. Eigentlich hatte ich Lust auf einen Krimi und gedacht, dass ich da mit dem neuen Nesser nichts falsch machen kann. Nur dass »Himmel über London« gar kein Krimi ist. Aber allein die Sprache hat mich gleich in ihren Bann gezogen, die Handlung versprach konfliktreich und spannend zu werden, es ging um ein Geheimnis, eine Reise in die Vergangenheit. Und dann wurde alles ganz anders. So richtig anders. „Romanhelden in der Matrix“ weiterlesen

Es kommt alles anders

Stephen Fry: Geschichte machen

Im August 2013 sorgte der Kurzfilm eines Filmakademie-Absolventen für Kontroversen. Zwei Dinge irritieren gleich in den ersten Sekunden des Films: Der nagelneue Mercedes passt nicht in die sepiafarben gehaltene Landschaft mit einem Dorf und Menschen aus dem 19. Jahrhundert. Und es ist kein Fahrer in dem schnell fahrenden Auto zu erkennen. Dafür reagiert der fahrerlose Wagen zuverlässig und intelligent: Zwei Mädchen spielen auf der Straße, das Fahrzeug bremst. Kurz darauf springt ein Junge auf die Fahrbahn. Der Mercedes beschleunigt und überfährt das Kind. Die Mutter schreit mit schreckgeweiteten Augen »Adolf!«, das Auto fährt weiter, passiert das Ortsschild »Braunau am Inn«, in der mercedeseigenen Schrift wird eingeblendet »Erkennt Gefahren, bevor sie entstehen«. „Es kommt alles anders“ weiterlesen

Im Reich der Finsternis

Robert Harris: Vaterland

Das Buch »Vaterland« von Robert Harris ist mir während meiner Buchhändlerlehre in den Neunzigern in die Hände gefallen und es hat mich bis heute nicht losgelassen. Es fängt an wie ein Krimi-Klischee: An einem trostlosen, verregneten Morgen wird die Leiche eines älteren Mannes in der Berliner Havel gefunden. Der Kripo-Ermittler Xaver März – was für ein Name! – untersucht den Tatort. März scheint wie aus einem Noir-Krimi entsprungen, desillusioniert, geschieden, zynisch, die Whiskyflasche im Schreibtisch, eine gescheiterte Existenz. „Im Reich der Finsternis“ weiterlesen