Eine Stadt, in der Zeit verschwunden

Carlos Ruiz Zafón: Die Barcelona-Romane

Die letzten Wochen habe ich in Barcelona verbracht, um alte Freunde und Bekannte zu treffen. In einem Barcelona allerdings, das so vielleicht nie existiert hat, das es zumindest schon lange nicht mehr gibt und von dem ich glaube, vor vielen Jahren die letzten Atemzüge noch vage miterlebt zu haben, doch dazu am Ende mehr. Es geht – natürlich – um die Romane von Carlos Ruiz Zafón. 2003, also vor genau zwanzig Jahren, ist »Der Schatten des Windes« erschienen; ich las dieses grandiose Buch damals und war restlos begeistert. Es folgte 2008 »Das Spiel des Engels«,  dann 2012 »Der Gefangene des Himmels« und schließlich 2017 »Das Labyrinth der Lichter« – drei weitere grandiose Barcelona-Romane; jeder von ihnen anders als die anderen und trotzdem wirken alle zusammen wie aus einem Guss, ergeben gemeinsam ein großes Bild. Nun habe ich alle vier Bücher noch einmal gelesen und zwar direkt hintereinander. Und das war ein ganz besonderes, ein einzigartiges Leseerlebnis. Denn zum einen traf ich all die Menschen wieder, die ich aus den einzelnen Büchern bereits kannte. Aber diesmal tauchte ich zweitausendfünfhundertachtzig Seiten lang tief hinein in die Welt Zafóns und habe mich wochenlang darin aufgehalten, mich durch die Straßen und Gassen, über die Plätze, durch die Cafés und Restaurants Barcelonas treiben lassen und die brillant komponierten Handlungsstränge genossen. Abends bin ich mit den Geschichten im Kopf eingeschlafen, morgens habe ich beim ersten Kaffee weitergelesen. Und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das noch für lange Zeit fortsetzen können – als dann die letzte Seite des vierten Buches umgeblättert war, umgab mich diese seltsame Leere, die jeder Leser kennt. Und leider wird es keinen weiteren Roman aus diesem Zyklus mehr geben, denn Carlos Ruiz Zafón ist 2020 fünfundfünfzigjährig gestorben, viel zu früh; das Barcelona seiner Romane ist sein Vermächtnis. Ein Vermächtnis, dass ihn noch lange überdauern wird. „Eine Stadt, in der Zeit verschwunden“ weiterlesen

Trostlosigkeit, in Worte gemeißelt

Laurie Lee: Ein Moment des Krieges

Der Roman »Ein Moment des Krieges« von Laurie Lee ist eines dieser Bücher, die vor vielen Jahren bei mir eingezogen sind und seitdem darauf warteten gelesen, oder vielmehr: entdeckt zu werden. Ich weiß nicht mehr, wo und wann ich es erworben habe; ich kann mich vage daran erinnern, dass ich die Inhaltsbeschreibung interessant fand und dass mir der erste Satz gefallen hat: »lm Dezember 1937 überquerte ich von Frankreich aus die Pyrenäen – zwei Tage zu Fuß durch den Schnee.« Vor einiger Zeit fand es Aufnahme in mein Leseprojekt zum Spanischen Bürgerkrieg und nun habe ich es endlich gelesen. Und entdeckt habe ich dadurch nicht nur einen faszinierenden Augenzeugenbericht aus jener unheilvollen Zeit, sondern einen Roman, dessen mitreißend-melancholische Sprache mich voll und ganz in ihren Bann gezogen hat. Zu verdanken habe ich dies der Übersetzung von Robin Cackett. „Trostlosigkeit, in Worte gemeißelt“ weiterlesen

Ein Echo aus der Vergangenheit

Leif Davidsen: Der Augenblick der Wahrheit

Es gibt mehrere Kriterien, nach denen ich entscheide, ob ein gelesener Roman dauerhaft im Bücherregal bleibt oder nicht. Eine wichtige Frage ist dabei: Hat mich das Buch so begeistert, dass ich mir vorstellen könnte, es noch einmal zu lesen? Denn das mache ich gerne und manchmal ist es sehr spannend, wie ganz anders das Erzählte auf einen wirken kann, wenn seit der ersten Lektüre viele Jahre vergangen sind. So geschehen bei »Der Augenblick der Wahrheit« von Leif Davidsen; ein Roman, den ich vor etwa zwanzig Jahren las – und in dem ich beim erneuten Lesen viele Textstellen fand, die mir damals kaum aufgefallen waren, die dieses Mal aber eine vollkommen andere Stimmung schufen. „Ein Echo aus der Vergangenheit“ weiterlesen

Schreibmaschine und Karabiner

Elsa Osorio: Die Capitana

»Die Capitana« von Elsa Osorio ist ein besonderes Buch; eines das heraussticht, eines, das einen beim Lesen nicht mehr loslässt und eines, das sich tief ins Gedächtnis eingräbt. Mit diesem biographischen Roman hat die Autorin nicht nur eine beeindruckende Frau dem Vergessen der Geschichte entrissen, sondern sie nimmt uns mit in jene Epoche des 20. Jahrhunderts, als der Traum von einer gerechten Welt beinahe mit Händen zu greifen war. Es sind Jahre der Umwälzungen, der revolutionären Ideen, der Diskussionen. Jahre des Kampfes. Und Micaela Feldman Etchebéhère, genannt Mika, war immer dabei, niemals am Rand, sondern stets im Zentrum des Geschehens. Rastlos und ruhelos und angetrieben von dem unbändigen Wunsch, die Welt zu verändern. „Schreibmaschine und Karabiner“ weiterlesen

Zeig doch mal die Bilder (Teil 1)

Graphic Novels: Eine Bestandsaufnahme

Erst in den letzten zwei, drei Jahren habe ich die literarische Gattung der Graphic Novels für mich entdeckt. Nicht unbeteiligt daran waren die Blogs Muromez, Literaturen, Analog-Lesen und Papiergeflüster, die mich darauf neugierig machten. Und schnell habe ich dadurch staunend den Zutritt in eine mir bis dahin unbekannte Welt gefunden, eine Welt voller Überraschungen, vielseitig, bunt und spannend.

Dieser Prozess ist mir gerade bewusst geworden, als ich vor meinem Bücherregal stand, auf der Suche nach der nächsten Lektüre. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich inzwischen ein ganzer Stapel Graphic Novels darin angesammelt hat, wenn auch noch in bescheidenem Ausmaß; thematisch und künstlerisch vollkommen unterschiedliche Werke. Irgendwie ein guter Anlass für eine Bestandsaufnahme und eine kurze Vorstellungsrunde. „Zeig doch mal die Bilder (Teil 1)“ weiterlesen

Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg

Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg

In diesen Tagen jährt sich der Beginn des Spanischen Bürgerkriegs zum achtzigsten Mal. Gleichzeitig ist mir schon länger bewusst, dass ich bis auf die rudimentären Eckdaten kaum etwas Genaueres über diesen Konflikt weiß. Der schließlich nicht nur Spanien veränderte – und dort bis heute nicht vollständig aufgearbeitet ist – sondern viel mehr als ein Bürgerkrieg war. Nämlich ein Kampf der Ideologien, ein blutiges Experimentierfeld für die nur wenige Jahre später stattfindenen Auseinandersetzungen, die vom Zweiten Weltkrieg über die Stellvertreterkriege in Südostasien bis hin zum kalten Krieg Europa und die Weltordnung prägen sollten. Bis zum heutigen Tag. „Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg“ weiterlesen

Stalins spanisches Gold

Leif Davidsen: Die Wahrheit stirbt zuletzt

Ein Mann ist auf der Suche nach seinem jüngeren Bruder, der irgendwo in Spanien unterwegs ist, wo genau weiß er nicht. Er gibt sich als Journalist aus, verliebt sich in eine russische Photographin und kommt per Zufall auf die Spur eines verschwundenen Goldschatzes. Klingt nach einer banalen Handlung, zudem ist das Buchcover nicht besonders ansprechend gestaltet und der Titel »Die Wahrheit stirbt zuletzt« des Romans von Leif Davidsen etwas aussagelos. Aber hinter all dem verbirgt sich eine großartige und lesenswerte Geschichte. „Stalins spanisches Gold“ weiterlesen