Geschichte vergeht nicht

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Es ist ja so: Von den hunderten oder eher tausenden Büchern, die man in einem Leserleben liest, bleiben viele nur bruchstückhaft im Gedächtnis und bei manchen kann man sich nach ein paar Jahren höchstens noch vage an den Inhalt erinnern – wenn überhaupt. Aber dann gibt es auch die ganz besonderen Werke, jene, auf die man ab und zu stößt, jedes von ihnen eine wertvolle Entdeckung. Jene, deren erzählerische Wucht eine Sogwirkung auslöst, die unbeschreiblich ist. Jene, die einem eine neue Welt eröffnen oder einen mit Haut und Haaren in eine andere Epoche schicken. Jene, die den eigenen Horizont ein Stück vergrößern. Jene, deren Sprache Bilder im Kopf entstehen lassen, die unvergesslich sind; Bilder voller Schönheit und Schrecken. Es gibt sie nicht allzu oft, jene Bücher, die all das in sich vereinen, und ich bin dankbar für jedes von ihnen, das seinen Weg in mein Bücherregal gefunden hat. Und eines davon ist »Alle, außer mir« von Francesca Melandri. „Geschichte vergeht nicht“ weiterlesen

Wem gehört die Stadt?

Eva Ladipo: Raeuber

Eine marode Sozialbausiedlung steht im Zentrum des Romans »Räuber« von Eva Ladipo. Aber natürlich geht es um viel mehr; die Überschrift, die ich mir von der Rückseite des Buches geliehen habe, sagt es schon: Die Frage, wie wir in den Städten leben wollen oder vielmehr können – sie ist für viele Menschen existenziell geworden. Und zwar nicht erst, seit Wohnungen zu reinen Spekulations- und Investitionsobjekten verkommen sind; diese Entwicklung hat schon viel früher eingesetzt. Nur haben diejenigen, die bereits seit Jahren von der Gentrifizierung vor sich hergetrieben werden, keine Lobby, keine Stimme und meist keine Kraft, sich zu wehren. Und sie stehen nun mit dem Rücken an der Wand. Solche sozialen Verwerfungen gibt es in vielen Großstädten, aber in Berlin sind sie besonders drastisch. Die fiktive Sozialbausiedlung in diesem Buch symbolisiert stellvertretend die Veränderungen in der Stadt. Ebenso wie die drei Protagonisten der Handlung, die aus unterschiedlichen Perspektiven mit den geschilderten Entwicklungen zu tun haben. „Wem gehört die Stadt?“ weiterlesen

Kensington Avenue, Philadelphia

Liz Moore: Long Bright River

Lesen ist Reisen im Kopf – dieser Satz ist vollkommen überstrapaziert, aber vor allem ist er eines: wahr. Und manchmal führen einen diese Reisen in Gegenden, in die man im echten Leben eher nicht kommen würde. So wie etwa nach Kensington im Roman »Long Bright River« von Liz Moore, einem Stadtteil Philadelphias, der allerdings mit seinem edlen Namensvetter in London nichts gemein hat. Denn Philadelphias Kensington ist einer der größten Drogen-Hotspots im Osten der USA und ein Viertel, das geprägt ist von Drogenhandel, Kriminalität, Straßenprostituion, Obdachlosigkeit, leerstehenden Industriebauten, Abbruchhäusern, zugemüllten Brachflächen, Perspektivlosigkeit und kaputten Menschen. Und einer Menge Drogentoten, Jahr für Jahr. Dazwischen leben diejenigen, die schon immer dort wohnen, die es sich nicht leisten können, wegzuziehen. Oder es auch nicht wollen. Die sich irgendwie arrangieren, durchschlagen, kleine Geschäfte betreiben, Nagelstudios, Handy-Läden, Mini-Märkte, Pfandhäuser, Diner oder einfache Cafés und auf ein besseres Morgen hoffen. Und zwischen dem Elend auf der Straße blinzelt die Gentrifizierung durch die Abgase und den Staub, denn die Mieten sind billig, ziehen die ersten jungen Leute mit Geld an, die gerne urbane  Bohème spielen, »ernst, reich, naiv«. Hippe Imbisse, Craft-Bier-Kneipen oder schicke Cafés sind in den letzten Jahren im Viertel aufgetaucht; mit Preisen, die sich die Alteingesessenen kaum leisten können. „Kensington Avenue, Philadelphia“ weiterlesen

Zum Wolf werden

Guillermo Arriaga: Der Wilde

Wie anfangen? Diese Frage stelle ich mir oft zu Beginn einer Buchvorstellung, doch selten war ich so unschlüssig wie diesmal. Denn es geht um ein Buch, in dem zwei vollkommen unterschiedliche Handlungsstränge gekonnt zusammengeführt werden; das alles auf drei, vier Zeitebenen. An der Oberfläche ist der Roman »Der Wilde« von Guillermo Arriaga die Geschichte einer Rache. Doch dies in einer Vielschichtigkeit, die weit darüber hinaus geht.

Im Zentrum der Handlung steht das Kleine-Leute-Viertel Unidad Modelo in Mexiko-City, in dem der Ich-Erzähler Juan Guillermo und sein Bruder Carlos aufwachsen. Das Leben findet zu großen Teilen auf den flachen Dächern der Häuser statt, die »Landschaft aus Wassertanks, Wäscheleinen und Fernsehantennen« ist ein Ort, an dem sich besonders die jungen Menschen treffen. Es gibt Wege von Dach zu Dach, die schmalen Gassen müssen übersprungen werden. Der Grund für diese Rückzugsgebiete ist die politische Situation: Es ist das Jahr 1969 und die konservative mexikanische Regierung mit ihrer Kommunisten-Paranoia geht rigoros gegen jeden vor, der nicht in das offizielle Weltbild passt; lange Haare bei einem Mann reichen, um von den patrouillierenden Polizisten zusammengeschlagen zu werden. Ein Jahr zuvor endete eine Studenten-Demonstration im Kreuzfeuer des mexikanischen Militärs. „Zum Wolf werden“ weiterlesen

Gespiegelte Verzweiflung

Christian Torkler: Der Platz an der Sonne

Mit Sätzen wie »dieses Buch sollte jeder lesen« bin ich immer etwas vorsichtig, denn zu unterschiedlich sind die Lesevorlieben der Menschen. Dem Roman »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler wünsche ich allerdings so viele Leser wie möglich, denn er ist für mich eines der wichtigsten Bücher für die Zeit, in der wir gerade leben. Es geht darin um Flucht und Migration, aber auf eine Art und Weise, die uns dieses emotional aufgeladene Thema vollkommen anders nahebringt als gewohnt. Und das mit einem ganz einfachen Trick: Torkler vertauscht den Blickwinkel. Wobei »einfach« das falsche Wort ist, denn der Autor hat eine vollkommen neue Welt erschaffen, ausgefüllt mit zahllosen Details, die das Geschehen so wahrheitsgetreu und realistisch wie möglich machen. „Gespiegelte Verzweiflung“ weiterlesen

Düstere Ödnis

Massimo Carlotto: Am Ende eines öden Tages

Giorgio Pellegrini ist wohl einer der unsympathischsten Romanhelden, denen man in einem Leserleben begegnen kann. Ein Mörder, Betrüger, Verräter, Dieb und Hochstapler – der Autor Massimo Carlotto erzählt in »Am Ende eines öden Tages« dessen Geschichte. Und es ist kaum vorstellbar, aber als Leser beginnt man im Laufe der Story widerwillig mit dem Protagonisten mitzufiebern – vielleicht, weil man tief in eine Welt eintaucht, in der moralische Maßstäbe nicht mehr gelten. Oder zumindest so verschoben sind, dass Giorgio Pellegrinis Handlungen in all ihrer Verwerflichkeit als Mittel zum Zweck zwar nicht entschuldbar, aber nachvollziehbar werden. Ein Kriminalroman voller Sarkasmus, Zynismus und Düsterkeit. „Düstere Ödnis“ weiterlesen

Tosende Stille im Outback

Garry Disher: Bitter Wash Road

Wenn die Buchhändlerin in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens mir den Kriminalroman »Bitter Wash Road« von Garry Disher nicht empfohlen hätte, dann wäre mir ein stilistisch und dramaturgisch perfekt komponiertes Buch entgangen. So aber durfte ich mich mehrere Lese-Abende im australischen Outback herumtreiben, die flirrende Hitze spüren und den Staub auf der Zunge schmecken. Und dabei sein, wenn Constable Paul Hirschhausen in einem Fall ermittelt, bei dem er hineinsticht in ein Nest aus Korruption, Rassismus und mühsam unterdrückter Gewalt. „Tosende Stille im Outback“ weiterlesen