Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. „Die Lagune weint um ihre Stadt“ weiterlesen

Germinals Erben

Sorj Chalandon: Am Tag davor

Es ist die Schlüsselszene im Roman »Am Tag davor« von Sorj Chalandon: Zwei Brüder – der sechzehnjährige Michel und der dreißigjährige Joseph – brettern am 26. Dezember 1974 auf Josephs Moped durch die nächtlichen Straßen von Liévien-Lens, einer Stadt mitten im nordfranzösischen Kohlegebiet. Dieser Moment scheinbar ungetrübter Ausgelassenheit wird im Verlauf der Handlung immer wieder auftauchen, wird seine Bedeutung verändern und zum Schluss die Erzählung auf eine vollkommen neue Ebene hieven. Denn die nächtliche Mopedfahrt prägt das gesamte Leben des Ich-Erzählers Michel. Es ist der Tag davor. 

Sein von ihm vergötterter älterer Bruder Joseph ist Bergmann in der Zeche Saint-Amé, in der am nächsten Tag 42 Bergleute bei einem Unglück ums Leben kommen werden. Joseph stirbt ein paar Wochen später im Krankenhaus. „Germinals Erben“ weiterlesen

Im Lawinenwinter

Das Buch "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod" von Gerhard Jäger erzählt vom Lawinenwinter 1951

Das Buch »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« von Gerhard Jäger ist der Roman, der mich von allen Büchern in den letzten Monaten am meisten begeistert hat. Dabei wäre er beinahe an mir vorbeigegangen, wenn nicht Bloggerkollegin Mareike Fallwickl ihn auf Facebook als ihre nächste Lektüre angekündigt hätte, ich neugierig nachfragte, worauf Buchhändlerin Nina Merks meinte, ich würde das Buch lieben. Wir haben uns im realen Leben noch nie gesehen, trotzdem kennen wir unsere Lesevorlieben gegenseitig so gut, dass ich umgehend in eine der Buchhandlungen meines Vertrauens spaziert bin und das Buch gekauft habe. Und was soll ich sagen, sie hatte recht. Und wie. „Im Lawinenwinter“ weiterlesen

In der Entfremdungszone

Mechtild Borrmann: Die andere Hälfte der Hoffnung

Ein idyllischer Anblick: Ein kleines Holzhäuschen, inmitten von Birkenwäldern. Ein Garten, umgeben von einem baufälligen, an vielen Stellen geflickten Zaun. Ein Garten, der Gemüse und Obst liefert, Kartoffeln, Kohl, Gurken, Äpfel, Rote Beete und vieles mehr. So lebt Walentyna, eine ältere Frau, die sich in diese Oase der Ruhe zurückgezogen hat. Aber die Idylle täuscht. Und wie sie täuscht, denn das Häuschen steht mitten in der Entfremdungszone, wie die Ukrainer das Sperrgebiet rund um das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl nennen. In dieser verlassenen Gegend, immer noch hoch radioaktiv, inmitten zerfallener Städte, ausgeplünderter und von der Natur überwucherter Dörfer leben heute tatsächlich Menschen. Diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben. Walentyna gehört zu ihnen, denn sie hat bereits alles verloren. Mechtild Borrmann erzählt in »Die andere Hälfte der Hoffnung« ihre Geschichte. „In der Entfremdungszone“ weiterlesen

Leseprojekt Erster Weltkrieg

Leseprojekt Erster Weltkrieg

»Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.« Dieser August Bebel zugeschriebene Satz ist aktueller denn je; 2014 jährt sich das Schicksalsjahr Europas zum hundertsten Mal. 1914 begann der Erste Weltkrieg, eine Katastrophe, die das alte Europa hinwegfegte, Millionen Menschenleben forderte und die Wurzel des Üblen war, das danach erst noch folgen sollte: Zwei menschenverachtende Diktaturen, ein weiterer, noch viel schlimmerer Krieg, Völkermord, Vertreibung unzähliger Menschen und die Spaltung des Kontinents, die bis heute nicht überwunden ist. Wäre dieser europäische Flächenbrand zu vermeiden gewesen? Wie kam es dazu? Was bewegte die politischen und militärischen Entscheidungsträger dieser Zeit? Viel ist schon darüber geschrieben worden, aber das Gedenkjahr 2014 wartete mit einer Fülle von neuen Büchern und neuen Erkenntnissen zu diesem Thema auf. „Leseprojekt Erster Weltkrieg“ weiterlesen