Das Haben-Müssen-Gen

Alte Buecher

Einmal, es ist schon etwas her, war ich wochenlang damit beschäftigt, meine Bücherregale zu durchforsten, um auszusortieren. Nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, aber ab und zu ist es einfach nötig. Denn der zur Verfügung stehende Platz ist leider begrenzt, auch wenn er große Teile der Wohnfläche einnimmt. Daher gibt es drei Kriterien, nach denen ich die Bücher auswähle, mit denen ich mich umgeben möchte: Entweder hat mich ein Buch so begeistert oder beeindruckt, dass ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen – auch wenn das möglicherweise nie stattfinden wird. Oder ich verbinde ein Buch mit einem bestimmten Ereignis in meinem Leben, an das es mich erinnert; viele davon habe ich hier im Blog im Laufe der Jahre vorgestellt. Und natürlich gibt es die zahlreichen ungelesenen Bücher, die auf die Lektüre warten; dies ist mein Lesevorrat. Und im Prinzip kann man davon gar nicht genug haben, ich liebe es, vor den Regalen mit der Frage zu stehen: Was lese ich als nächstes? Aber es gibt das ein oder andere Buch, bei dem ich überlege, ob es mich nach zehn, fünfzehn Jahren im Regal tatsächlich noch so interessiert, dass ich es irgendwann lesen werde. Gleichzeitig ziehen Woche für Woche neue Bücher in mein Zuhause ein, manche Stapel – in den Regalen ist schon längst kein Platz mehr – schwanken bereits bedenklich. Daher müssen immer wieder Bücher weichen; was bleibt, ist irgendwann die Essenz eines Leserlebens. „Das Haben-Müssen-Gen“ weiterlesen

Geschichte und Geschichten

Stefan Ineichen: Principessa Mafalda | Leipziger Wohnzimmerlesung 2023

Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen

An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen

Aus Overstolz wird Camel

Volker Kutscher: Transatlantik - der neunte Roman der Gereon-Rath-Reihe

»Er zündete sich eine Overstolz an« – dieser Satz kündigt den Auftritt von Gereon Rath an und in den bisherigen Bänden der Buchreihe von Volker Kutscher dauert es nicht lange, bis er fällt. Diesmal nicht. In »Transatlantik«, dem neunten Rath-Roman, müssen wir bis Seite 63 warten, erst dann können wir ihn zum ersten Mal lesen. Denn inzwischen ist die Reihe im Jahr 1937 angekommen und für die Protagonisten hat sich alles verändert. Charlotte »Charlie« Rath arbeitet nach wie vor in der Detektei ihres früheren Vorgesetzten bei der Kripo und weiß nicht, ob und wo ihr Mann lebt. Gereon Rath, von SS und Gestapo verfolgt, schafft es per Zeppelin aus Deutschland heraus und versucht in New Jersey Fuß zu fassen. Und Ziehsohn Fritze, einst begeistertes HJ-Mitglied, wird zum Opfer des Systems und seiner verbrecherischen Machenschaften. Diese drei Erzählstränge bilden den Rahmen für die Handlung des Romans – der uns wieder einen Schritt weiter hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« führt. 

Bevölkert ist »Transatlantik« mit vielen Personen aus der Welt des Gereon Rath, die Volker Kutscher nunmehr seit fünfzehn Jahren mit akribischer Recherche und schriftstellerischer Leidenschaft geschaffen hat. Und wie es so ist beim neunten Band einer Reihe: Selbstverständlich kann man ihn auch einzeln lesen, im Großen und Ganzen ist die Handlung in sich abgeschlossen. Doch natürlich gibt es zahllose Verweise und Anspielungen auf die vorhergehenden Bände, so dass es empfehlenswert ist, mit Teil eins zu beginnen. Dann nämlich entfaltet die Reihe ihren ganz besonderen Reiz. „Aus Overstolz wird Camel“ weiterlesen

Zu Gast in vierzig Leben

Peter Englund: Momentum. November 1942 - wie sich das Schicksal der Welt entschied

Rückblickend gesehen war der November 1942 ein Wendepunkt in der Geschichte. Die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan überzogen die Welt seit drei Jahren mit Krieg und noch zu Beginn des Monats waren sie auf dem Vormarsch, ihr Machtbereich hatte seine größte Ausdehnung erreicht. Doch in diesen dreißig Novembertagen gab es erste Anzeichen dafür, dass der Zenit überschritten war und sich die Waage in Richtung der Alliierten zu senken begann. Im Nachhinein ist dies deutlich erkennbar – es war der Monat, in dem die Engländer in El Alamein siegten, die Amerikaner in Guadalcanal die japanischen Besatzer in eine ausweglose Situation brachten und die 6. Armee der Wehrmacht in Stalingrad eingeschlossen wurde. Aber wie nahmen die Menschen, die in jener Zeit lebten, die großen – und die zahllosen anderen – Ereignisse wahr? Der schwedische Historiker Peter Englund nimmt uns mit auf eine Zeitreise: In seinem Werk »Momentum« geht es um diesen Monat, um den November 1942. 

Englund ist ein Meister der erzählenden Geschichtsschreibung. Für seine grandiose Darstellung des Ersten Weltkriegs »Schönheit und Schrecken« wertete er zahllose Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen aus und schuf dadurch ein Panorama, das über die Zeit hinweg auf eine faszinierende Weise ganz nah erscheint – denn wir sehen jene Jahre durch die Augen der Menschen, die diese Schriftstücke verfassten. Und genau so funktioniert auch »Momentum«, nur dass diesmal die Darstellung auf einen einzigen Monat komprimiert ist. Was jene Wochen noch dichter heranholt, uns zu Gästen in den Leben der Menschen werden lässt, um die es in dem Buch geht. Es sind Personen aller Gesellschaftsschichten, die wir in den unterschiedlichsten Situationen antreffen – und nicht wenige dieser Situationen sind für uns Leser, die wir in jene dunkle Zeit eintauchen, nur schwer zu ertragen. „Zu Gast in vierzig Leben“ weiterlesen

Geschichte vergeht nicht

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Es ist ja so: Von den hunderten oder eher tausenden Büchern, die man in einem Leserleben liest, bleiben viele nur bruchstückhaft im Gedächtnis und bei manchen kann man sich nach ein paar Jahren höchstens noch vage an den Inhalt erinnern – wenn überhaupt. Aber dann gibt es auch die ganz besonderen Werke, jene, auf die man ab und zu stößt, jedes von ihnen eine wertvolle Entdeckung. Jene, deren erzählerische Wucht eine Sogwirkung auslöst, die unbeschreiblich ist. Jene, die einem eine neue Welt eröffnen oder einen mit Haut und Haaren in eine andere Epoche schicken. Jene, die den eigenen Horizont ein Stück vergrößern. Jene, deren Sprache Bilder im Kopf entstehen lassen, die unvergesslich sind; Bilder voller Schönheit und Schrecken. Es gibt sie nicht allzu oft, jene Bücher, die all das in sich vereinen, und ich bin dankbar für jedes von ihnen, das seinen Weg in mein Bücherregal gefunden hat. Und eines davon ist »Alle, außer mir« von Francesca Melandri. „Geschichte vergeht nicht“ weiterlesen

Die Bücher der Rose

Umberto Eco: Der Name der Rose | Dirk Schuemer: Die schwarze Rose

2022 jährte sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe von »Der Name der Rose« zum vierzigsten Mal. Dies feierte der Hanser Verlag mit einer wunderschön gestalteten Neuauflage des Romans von Umberto Eco in der bewährten Übersetzung von Burkhart Kroeber. Eine Ausgabe, an der ich nicht vorbeigehen konnte und die ich zum Anlass nahm, nach fünfunddreißig Jahren dieses großartige Werk ein zweites Mal zu lesen. Gleichzeitig erschien – im Zsolnay Verlag, der ebenfalls zu Hanser gehört – der Roman »Die schwarze Rose« von Dirk Schümer; laut der Ankündigung im Klappentext eine Art lose Fortsetzung von Ecos Meisterwerk. Zumindest würde man ein paar alte Bekannte wieder treffen: »Dort, wo Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ aufhört, setzt Dirk Schümers historischer Roman an«, heißt es auf der Buchrückseite. An ein Meisterwerk, an einen der ganz großen Romane der letzten Dekaden anknüpfen? Kann ein so schon fast anmaßendes Unterfangen gut gehen? Gelingen? Ich war skeptisch. Und neugierig. Aber lest selbst. „Die Bücher der Rose“ weiterlesen

Die ukrainische Tragödie

Anne Applebaum: Roter Hunger - Stalins Krieg gegen die Ukraine

Das Buch »Roter Hunger« von Anne Applebaum kaufte ich mir vor ein paar Jahren, um eine Wissenslücke zu schließen. Denn ich wusste bisher wenig über die große Hungersnot, die 1932 und 1933 die Ukraine heimsuchte – außer, dass sie von Stalin bewusst herbeigeführt wurde, um den ukrainischen Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft zu brechen. Der Holodomor war eines der vielen unmenschlichen Verbrechen, die den Weg des Stalinismus säumten und ist in seiner Dimension ungeheuerlich. Erst jetzt bin ich dazu gekommen, das Buch zu lesen und angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der seit Februar 2022 mitten in Europa tobt, erhält dieses Werk eine neue, beklemmende Aktualität. Denn neben den darin geschilderten Ereignissen vermittelt es das nötige historische Hintergrundwissen, mit dem dieser Krieg betrachtet werden muss. Um zu verstehen, dass der russische Despot Wladimir Putin nie Ruhe geben wird und dass Verhandlungen niemals einen dauerhaften Frieden schaffen werden. „Die ukrainische Tragödie“ weiterlesen

Keine Heldengeschichten

Uwe Wittstock: Februar 33 - Der Winter der Literatur

Am 30. Januar 1933 war die Weimarer Republik am Ende, die Nationalsozialisten an der Macht, und das erste längere demokratische Experiment auf deutschem Boden versank in Gewalt und staatlichem Terror. Die Dynamik, mit der dies geschah, ist erschreckend: »Für die Zerstörung der der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.« Dieses eindrucksvolle Zitat stammt aus dem Buch »Februar 33 – Winter der Literatur« von Uwe Wittstock. Anhand der Schicksale vieler der damaligen Literaturschaffenden rekonstruiert er die dramatischen Ereignisse. Furchteinflößend und mitreißend gleichzeitig, denn er schafft es, uns so dicht an diese alles verändernden Wochen heranzuführen, wie es mit der Macht der Sprache nur möglich ist. „Keine Heldengeschichten“ weiterlesen

Eine Epoche der Bücher

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Seit Monaten lese ich in diesem Buch; den einen Abend ein, zwei Kapitel, den anderen Abend lediglich ein paar Seiten, immer mit großer Konzentration. Und es ist jedes Mal ein Genuss, denn stets schickt es mich auf eine Zeitreise in eine der faszinierendsten und spannendsten Epochen unserer Geschichte, lässt mich alte Texte entdecken, Zusammenhänge verstehen, das eigene Wissen vertiefen und ein Verständnis dafür entwickeln, wie gigantisch die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit waren, prägend für die Jahrhunderte danach. Und dazu ist dieses Buch ein gestalterisches Gesamtkunstwerk – die Rede ist von dem voluminösen Prachtband »Welt der Renaissance« von Tobias Roth. „Eine Epoche der Bücher“ weiterlesen

9/11: Der Tag, der alles veränderte

Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille

Am frühen Morgen des 12. September 2001 war ich auf dem Weg zum nächstgelegenen Zeitungskiosk, um zwei, drei Tageszeitungen zu kaufen. Nicht, um sie zu lesen, sondern um sie als zeitgeschichtliche Dokumente aufzubewahren. Denn es war vollkommen klar, dass der Tag zuvor alles verändern würde. Als die beiden Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center gekracht waren, als Manhattan in einer riesigen Staub- und Rauchwolke versank, als tausende von Menschen starben, als all dies live über unzählige Bildschirme auf der ganzen Welt flimmerte – da hörte die Welt, die wir bisher kannten, auf zu existieren. Die Bilder haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und auch nach zwanzig Jahren lösen sie beim Betrachten Entsetzen aus. In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich viel über diesen Schicksalstag gelesen – aber noch nie ein Buch wie »Und auf einmal diese Stille« von Garrett M. Graff. Das uns so nahe an die Geschehnisse heranführt, wie es für Außenstehende möglich ist. Der Untertitel schickt es bereits voraus: »Die Oral History des 11. September«. „9/11: Der Tag, der alles veränderte“ weiterlesen

Europa im Geschwindigkeitsrausch

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent - Europa 1900 bis 1914

Das Buch »Der taumelnde Kontinent« von Philipp Blom beschreibt ein Europa im Wandel. Sich verändernde gesellschaftliche Strukturen, ein atemberaubender technischer Fortschritt, der ungeahnte Möglichkeiten am Horizont erkennen lässt, die brutalen Folgen kolonialistischer Eroberungszüge und ein Alltag, in dem die Gewissheiten stetig weniger werden. Fünfzehn Jahre umfasst die mitreißend geschriebene Schilderung der Entwicklungen unseres Kontinents – es ist der Zeitraum von 1900 bis 1914. Eine Zeit, die viel moderner war, als wir es uns heute vorstellen können. Und die in vielen Aspekten mit der Epoche vergleichbar ist, in der wir leben. „Europa im Geschwindigkeitsrausch“ weiterlesen

Ein Fenster in die Geschichte

Bernard von Brentano: Der Beginn der Barbarei in Deutschland

In diesem Beitrag geht es um das Buch »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« von Bernard von Brentano. Ich vermische damit Berufliches mit Privatem, da ich seit Sommer 2019 für den Eichborn Verlag arbeite, in dem die Neuausgabe dieses lange vergessenen Werkes erschienen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es hier im Blog nicht zu solchen Überschneidungen kommen sollte, doch dieser Titel ist in meinen Augen ein so wichtiges Zeitzeugnis, dass ich einfach nicht anders kann als darüber zu schreiben.  

Das Buch erschien ursprünglich im Jahr 1932 und war das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an war der Journalist Bernard von Brentano auf langen Fahrten durch Deutschland gereist. Er wollte herausfinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der das Land mit voller Wucht getroffen wurde – und was er sah, war dramatisch. Brentano besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie lange ihre Betriebe noch durchhalten würden, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen. Er schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten. Lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln und Regionen, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirren würden. „Ein Fenster in die Geschichte“ weiterlesen

Papiergewordene Geschichte

Papiergewordene Geschichte

Im Laufe der Jahre sammeln sich viele Bücher an, bei denen man sich irgendwann fragt, warum man sie eigentlich besitzt. Sei es ein Mängelexemplar, das man für zwei Euro neunundneunzig erworben hat, weil einem irgendwie der Klappentext gefiel, seien es Bücher aus Haushaltsauflösungen, von Flohmärkten, Geschenke, belanglose Krimis, die man für eine längere Bahnfahrt noch schnell im Bahnhof gekauft hatte; Bücher, die man einmal unbedingt lesen wollte, die dann aber schon zwanzig Jahre im Regal stehen, weil sie einen dann doch nicht interessierten. Und. Und. Und. Gleichzeitig wird der Platz eng, ständig fließt ein Strom neuer Bücher in die Regale und auf die Stapel davor.

Deshalb ist es notwendig, den begrenzten Platz optimal zu nutzen und regelmäßig alle Regalmeterblockierer auszusortieren. Diese Bücher werden verschenkt, in öffentliche Bücherschränke gebracht oder in seltenen Fällen auch einfach zum Altpapier gegeben. Gleichzeitig ist dieses Durchforsten auch jedes Mal wieder eine Entdeckungsreise – man kommt vor lauter Anlesen und Blättern nicht schnell voran. Und das ist jedes Mal ein Genuß.

Und dann gibt es auch noch die besonderen Schätze, diejenigen Bücher, die mich zum Teil schon sehr lange begleiten und die ich niemals weggeben würde. Es sind alte Bücher, die ich in Antiquariaten gefunden habe, aber auch Fundstücke aus Kartons in Hauseingängen oder auf Fensterbrettern. Bei ihnen kommt es nicht auf den Inhalt an, vielmehr erzählen sie selbst Geschichten. Oder sind ein Stück papiergewordene Geschichte, sei es durch Widmungen, Stempel, Bibliotheksaufkleber oder Erscheinungsjahre. Für mich sind dies wahre Schmuckstücke, auch wenn sie meist auf den ersten Blick recht unscheinbar wirken. Für diesen Beitrag habe ich ein paar davon aus dem Regal geholt und zeige hier, was sie so besonders macht. „Papiergewordene Geschichte“ weiterlesen

»Der Feind steht rechts«

Joseph Wirth: Der Feind steht rechts

Geschichte wiederholt sich nicht. Und die Weimarer Republik ist nicht die Bundesrepublik. Aber die Geschichte lehrt uns, welche Fehler unverzeihlich waren, an welchen Weichen falsch abgebogen wurde – damit sie sich nicht wiederholt. In der Rubrik Textbausteine* geht es diesmal um ein Zitat, einen Ausschnitt aus einer Rede.

Am 24. Juni 1922 wurde der Außenminister Walther Rathenau von rechtsextremen ehemaligen Offizieren ermordet. Dieses Attentat erschütterte die junge Republik in ihren Grundfesten; als darüber im Reichstag debattiert worde, kochten die Emotionen hoch – von Entsetzen bis klammheimlicher Freude waren alle Reaktionen vertreten. Die rechtsextreme DNVP (Deutschnationale Volkspartei) hatte mit monatelanger Hetze den Boden für das Attentat bereitet.

Reichskanzler Joseph Wirth fand in seiner Rede für den Mord und seine Vorgeschichte die passenden Worte. Sie sind zeitlos:

»Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!«  „»Der Feind steht rechts«“ weiterlesen