Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. 

Das Buch startet mit einem Faustschlag: »Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren. Und die Dunstschwaden nähren die Illusion, dass es doch noch einen Ausweg aus dem Unglück gibt, vielleicht alles nur verschwommen ist. Plötzlich stellt man sich vor, dass gleich die Sonne durchbricht und das Bild zerstreut. Die Unschärfe verschwindet, und die Schäden erweisen als nicht so schlimm. (…) Leider gelingt der Sonne dieses Wunder schon seit Monaten nicht, und die Lagune wird immer nebliger. Hat der Einsturz womöglich mephitische Dünste freigesetzt, die so dicht sind, dass sie sich nicht vertreiben lassen? Oder hört die Lagune ganz einfach nicht auf, um ihre Stadt zu weinen: um Venedig.«

Das ist ein Buchbeginn, der sich tief ins Gedächtnis gräbt. Venedig existiert nicht mehr, übriggeblieben ist eine von halb verschütteten Kanälen durchzogene Trümmerlandschaft. Auf den nach diesem starken Einstieg folgenden Seiten fährt ein Mann mit seinem Motorboot durch die verlassene Ruinenstadt. Gemeinsam mit ihm blicken wir auf eine großflächige, nahezu vollkommene Zerstörung, auf eingestürzte Paläste, auf Schutthaufen im Canal Grande, auf leergeräumte Häuser, denen die Fassade fehlt, auf versunkene Mauerreste. Der Mann – Guido Malegatti – lässt sich langsam durch die Ruinen gleiten, denkt an die vielen Toten, an den Abend der Katastrophe. Und vor unseren Augen entsteht das Bild einer untergegangenen Stadt. Was war geschehen? Am Beispiel der Familie Malegatti erzählt Isabelle Autissier von den dramatischen Ereignissen; von den jahrelangen Entwicklungen, die letztendlich zu der Nacht führen werden, in der Venedig untergeht.

Guido, seine Frau Maria Alba und deren gerade volljährige Tochter Léa führen ein privilegiertes Leben. Guido stammt aus einfachen Verhältnissen, hat sich hochgearbeitet, sich einen Namen als Bauunternehmer und Entwickler für touristische Projekte gemacht – und damit sehr, sehr viel Geld verdient. Und ja, Venedig braucht zwar die Einnahmen durch den Tourismus, um nicht zu zerfallen. Doch gerade in den letzten Jahren hat diese Entwicklung so viel Fahrt aufgenommen, dass sie der Stadt mehr schadet als nützt. Guido sieht das nicht, kann es nicht sehen. Er ist der Macher, der versucht, so viel Geld aus allem herauszupressen, wie es nur möglich ist. Und sieht sich dabei noch als Fürsprecher der einfachen Menschen, die auf die Jobs angewiesen sind, die der Fremdenverkehr mit sich bringt. Dass die Identität der Stadt dabei verschwindet, dass alte Häuser zu Edelherbergen oder Airbnb-Quartieren umgewandelt werden und immer weniger Wohnraum zur Verfügung steht, dass die Umwelt durch die Touristenströme stark in Mitleidenschaft gezogen wird – das blendet er komplett aus. Bei den letzten Kommunalwahlen hat er sich politisch engagiert und wurde mit dem Posten des Wirtschaftsresorts belohnt. Ausgerechnet. Denn Guido Malegatti steht für ein System des Wirtschaftens, in dem keine Gedanken an ein Morgen verschwendet werden. 

Maria Alba stammt aus einer alteingesessenen venezianischen Familie, die in den letzten vier-, fünfhundert Jahren mehrere Dogen stellte und eng mit der Geschichte der Stadt verwoben ist. Eine Stadt, die sie über alles liebt, die Teil ihrer DNA ist. Doch dabei verkörpert sie ein Venedig, das nur noch aus Erinnerungen an eine große Vergangenheit existiert, ohne die Gegenwart zu begreifen oder sie mitzugestalten. Sie lebt in einer Phantasiewelt, verbringt viele Stunden in der Schiffschaukel auf der Dachterrasse mit ihrem spektakulären Ausblick, kurz: Sie hat sich vollkommen ins Private zurückgezogen, in dem es um gutes Essen für die Familie, Fragen der Wohnungseinrichtung und um oberflächliche Gespräche mit ihren reichen Freundinnen geht. Durch die Heirat mit ihr wurden dem neureichen Guido die Türen zur gehobenen Gesellschaft geöffnet – mit all ihren informellen Netzwerken und Kontakten.

Die Tochter Léa hat das Bewusstsein, Teil einer jahrhundertealten Geschichte zu sein, von ihrer Mutter geerbt. Und ja, auch sie liebt diese Stadt von ganzem Herzen, hat sie als Kind und Heranwachende in endlosen Streifzügen erkundet, kennt gefühlt jede Gasse, jede kleine Brücke, jedes Haus, jeden Stein, bewundert täglich aufs Neue die funkelnde Schönheit. Als junge Frau beginnt sie Architektur an der Universität Ca‘ Foscari zu studieren – und als hätte ihr jemand eine Binde von den Augen gerissen, erkennt sie, wie sehr vom Untergang bedroht ihr geliebtes Venedig, wie zerbrechlich und gefährdet die sie umgebende Schönheit ist. Es gibt für sie einen Schlüsselmoment in dem Roman, in dem eine einfache Camera Obscura und ein Gemälde des großen Meisters Canaletto eine wichtige Rolle spielen. 

Aus Entsetzen wird Wut und der Wunsch, Dinge zu verändern – Léa beginnt, sich als Umweltaktivistin zu engagieren und tritt eine Reise an, die sie weiter und weiter von ihrem Vater, von ihrer Familie entfernt. Es ist übrigens nicht so, dass Guido Venedig nicht lieben würde. Ganz im Gegenteil, ihm ist die Einzigartigkeit der Stadt mehr als bewusst. Nur möchte er sie mit so vielen Menschen wie möglich teilen, um dadurch den Wohlstand Venedigs (und seinen eigenen) zu mehren. Für ihn haben die Touristenströme die früheren Handelsströme ersetzt, die Jahrhunderte zuvor Venedig zu einem reichen Machtzentrum im Mittelmeerraum gemacht haben. Und alles andere wird man schon irgendwie in den Griff bekommen. 

»Guidos Theorie dreht sich ausschließlich um Waren und Personen. Doch es sind vor allem die Wasserströme, auf die sich die Stadt gründet. (…) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war etwas in dem Gleichgewicht zwischen Land und Meer zerbrochen, als Industrie und Profit lockten, als die Menschen vergaßen, dass die die Lagune ein empfindliches Lebewesen ist.«

Eine Familie also, bestehend aus einem Macher, einer phlegmatischen Träumerin und einer Aktivistin – und das inmitten einer Stadt, die nur im Einklang mit der Natur überleben kann, niemals gegen sie. Wird das komplexe System der Lagune zerstört, stirbt auch Venedig. Und Tag für Tag nähert sich die Stadt einem Punkt, nach dem es kein Zurück mehr geben wird – und das nicht nur im Roman. Es mag sein, dass dies auf eine fast zu plakative Weise symbolisch wirkt, aber es funktioniert. Auf kleinstem Raum entwickelt die Autorin ein Drama, das sich auf unsere ganze Welt übertragen lässt. Auf eine Welt, in der es zu viele Macher gibt, viel zu viele phlegmatische Menschen und in der es die Aktivisten trotz – oder vielleicht auch wegen – ihrer Wut nicht schaffen, die Phlegmatischen wachzurütteln. Bis irgendwann alles in Trümmern liegt.

In Isabelle Autisiers Roman ist dieses Irgendwann übrigens nicht in einer dystopischen Zukunft. Die Katastrophe, die Venedig verschwinden und die Famillie Malegatti zerbrechen lässt, ereignet sich nicht morgen oder übermorgen. Sondern genau jetzt. 

»Die Vorstellung ist umso unerträglicher, als das Szenario bereits im Voraus feststeht und man genau weiß, warum und was auf welche Weise zu tun wäre, und trotzdem niemand etwas tut oder nur so wenig. Sie weint. Solastagie quält sie – die Hilflosigkeit angesichts dessen, was verschwindet.«

Buchinformation
Isabelle Autissier, Acqua Alta
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig
mare Verlag
ISBN 978-3-86648-708-6

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Welch vortrefflich Werk

Thomas Willmann: Der einserne Marquis

Das Warten hat sich gelohnt. Der 2010 erschienene Roman »Das finstere Tal« von Thomas Willmann hatte mich seinerzeit vollkommen begeistert und seitdem war ich gespannt auf das nächste Buch des Autors. »Er schreibt daran« – so hieß es seitens des Liebeskind-Verlags Jahr für Jahr, wenn ich auf den Buchmessen danach fragte. Das war schon fast eine Art liebgewonnenes Ritual, bis es in diesem September endlich soweit war und tatsächlich ein neuer Roman von Thomas Willmann in den Buchhandlungen auftauchte. »Der eiserne Marquis« lautet der Titel, über zwölf Jahre lang hat er daran geschrieben, über zwölf Jahre lang haben seine Leser darauf gewartet. Und auch wenn ich mich wiederhole: jeder einzelne Tag davon hat sich gelohnt. 

»Der eiserne Marquis« führt uns in die Mitte des 18. Jahrhunderts, hinein in eine Zeit, in der sich große Umbrüche andeuteten. Absolutistische Monarchen herrschten mit eiserner Hand über ihre Länder, während die Epoche der Aufklärung den klerikalen Mief beiseite fegte und den Weg frei machte für neues Denken. Noch beinahe mittelalterliche Strukturen prägten das Leben der Landbevölkerung, während sich gleichzeitig eine Blütezeit der Wissenschaft anbahnte, sich der Beginn der Industrialisierung bemerkbar machte, der Fortschrittsglaube ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war. Kriege begannen globale Ausmaße anzunehmen – der Siebenjährige Krieg zwischen 1756 und 1763 wurde nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Nordamerika und Indien ausgetragen. Und über alldem lag der erste, noch vorsichtige, aber spürbare Dufthauch einer großen Revolution. Stillstand und Bewegung in Richtung einer ungewissen Zukunft – das sind die beiden Pole jener Epoche, die sie moderner erscheinen lassen, als es uns gemeinhin bewusst ist. „Welch vortrefflich Werk“ weiterlesen

Fünfzehn Bücherfragen

Fuenfzehn Buecherfragen

»Ein Buch, das außer dir alle gemocht haben?« Oder: »Ein Buch, in dem du gern leben würdest?« Beim Flanieren durch die Literaturblogs bin ich auf der Seite Wissenstagebuch auf fünfzehn Bücherfragen gestoßen. Es ist ein Beitrag, der zum Mitmachen einlädt und schon beim Lesen ratterten die Gedanken los – ich konnte gar nicht anders, als mir diese Fragen zu schnappen und selbst zu beantworten. Und wer sich ebenfalls beteiligen mag: Lasst beim Wissenstagebuch in den Kommentaren einen Link da, so entsteht eine schöne Sammlung mit vielen Buchempfehlungen. Die Fragen stammen ursprünglich von der amerikanischen YouTuberin Steph Borer, um als book recommendation tag mehr Literatur in die Timelines zu bringen. Aber langer Rede kurzer Sinn: Hier sind sie, die Bücherfragen. Und meine Antworten. „Fünfzehn Bücherfragen“ weiterlesen

Schicksal gibt es nicht

Lauren Groff: Licht und Zorn

Der Roman »Licht und Zorn« von Lauren Groff sollte schon längst hier vorgestellt werden, denn es ist schon etwas her, dass ich ihn gelesen habe. Allerdings finde ich es auch immer wieder spannend, erst mit einigem zeitlichem Abstand über ein Buch zu berichten, denn da zeigt es sich, ob die Lektüre im Gedächtnis geblieben ist, ob sie Spuren hinterlassen hat. Und bei besonderen Büchern hat man auch noch nach langer Zeit die Stimmung im Kopf, die sie ausgestrahlt, weiß noch, was sie zu einem besonderen Leseerlebnis gemacht haben. »Licht und Zorn« ist eines dieser Bücher und jetzt, wo es wieder neben mir liegt und ich mit diesem Text beginne, steht die erzählte Geschichte mit all ihren überraschenden Wendungen vor mir. „Schicksal gibt es nicht“ weiterlesen

Ein Echo aus der Vergangenheit

Leif Davidsen: Der Augenblick der Wahrheit

Es gibt mehrere Kriterien, nach denen ich entscheide, ob ein gelesener Roman dauerhaft im Bücherregal bleibt oder nicht. Eine wichtige Frage ist dabei: Hat mich das Buch so begeistert, dass ich mir vorstellen könnte, es noch einmal zu lesen? Denn das mache ich gerne und manchmal ist es sehr spannend, wie ganz anders das Erzählte auf einen wirken kann, wenn seit der ersten Lektüre viele Jahre vergangen sind. So geschehen bei »Der Augenblick der Wahrheit« von Leif Davidsen; ein Roman, den ich vor etwa zwanzig Jahren las – und in dem ich beim erneuten Lesen viele Textstellen fand, die mir damals kaum aufgefallen waren, die dieses Mal aber eine vollkommen andere Stimmung schufen. „Ein Echo aus der Vergangenheit“ weiterlesen

Keiner kommt hier lebend raus

Benjamin Whitmer: Flucht

Der Begriff »Noir« dürfte allen Literaturinteressierten bekannt sein, aber was genau verbirgt sich dahinter? Für diese Stilrichtung gibt es keine allgemeingültige Definition; vor einiger Zeit tastete sich die Journalistin Sonja Hartl in ihrem Essay »Was ist Noir?« an die Thematik heran. Unter anderem heißt es darin: »Die Düsterheit der Existenz, das Erkennen von Moral bzw. deren Abwesenheit und die Einsicht, dass es keine Erlösung – kein glückliches Ende – gibt, machen somit den Noir aus. … Aus dieser zugrunde liegenden Weltsicht lassen sich Themen und Handlungselemente ableiten. Oft geht es um die zerstörerische Kraft der Macht, die Bedeutungslosigkeit und Absurdität der Existenz, die Korrumpierung des öffentlichen Lebens, um Unordnung, Missbehagen, Unzufriedenheit. Die Protagonisten sind häufig Einzelgänger und soziale Außenseiter. Sogar wenn die Hauptfigur gut ist, ist sie zynisch und glaubt, dass die Gesellschaft korrupt sei, sie aber der Gerechtigkeit Genüge tun kann. Extreme sind die Norm – und weder das Gute noch die Gerechtigkeit werden zwangsläufig siegen.« Zwar muss ein Noir-Roman nicht unbedingt ein Kriminalroman sein, aber dieses Genre bietet sich natürlich geradezu an. Daher ist es kein Zufall, dass Sonja Hartls Essay im Blog Polar-Noir veröffentlicht wurde, dem Verlagsblog des Polar-Verlags; eines Verlags, der sich auf grandios-düstere Kriminalromane spezialisiert hat. Und das Buch »Flucht« von Benjamin Whitmer ist ein gutes Beispiel für die literarische Qualität des Verlagsprogramms: Noir vom Feinsten. „Keiner kommt hier lebend raus“ weiterlesen

Mit eleganter Leichtigkeit

Juan Gabriel Vasquez: Lieder für die Feuersbrunst. Erzaehlungen

Es war der Buchtitel, der mich neugierig gemacht hat. »Lieder für die Feuersbrunst« klingt auf eine so poetische Weise dramatisch, dass ich an diesem Buch auf keinen Fall vorbeigehen konnte. Es enthält Erzählungen des kolumbianischen Autors Juan Gabriel Vásquez, ebenso wie der Band »Die Liebenden von Allerheiligen«. Auf beide Bücher machte mich Vanessa Marzog aufmerksam, die für Holtzbrinck Berlin arbeitet und unter anderem für die Kommunikation rund um die Samuel Fischer Gastprofessur verantwortlich ist. Sie bot an, mir diese beiden Bücher zuzusenden; dafür sollte ich sie photographisch in Szene setzen und ein paar Sätze über den Autor schreiben, der im Sommer 2021 Dozent der Samuel Fischer Gastprofessur an der FU Berlin ist. Eigentlich gehe ich auf Kooperationsanfragen dieser Art nie ein, denn zu viele noch nicht vorgestellte Bücher stehen in der Blog-Warteschlange. Aber wie gesagt, den Buchtitel fand ich so grandios und das Thema der Gastprofessur so interessant, dass ich in diesem Fall nicht anders konnte, als zuzusagen. Zumal ich ein Faible für Literatur aus Süd- und Mittelamerika habe. Und es hat sich gelohnt, denn die Erzählungen der beiden Bände haben mich sehr begeistert. „Mit eleganter Leichtigkeit“ weiterlesen

Majestätische Hoffnungslosigkeit

Hernan Diaz: In der Ferne

Diejenigen, die schon länger in diesem Blog mitlesen, wissen, dass ich ein Faible habe für eher düstere Romane, deren Protagonisten ihrem Leben verloren gegangen sind. Getriebene, Einsame, Suchende – das sind meine literarischen Helden. Dieses Entwurzelte oder dieses Gefühl, komplett auf sich alleine zurückgeworfen zu sein, sind derart existenzielle Situationen, dass sie jene Romanfiguren zu Sinnbildern des Lebens an sich machen. Sie regen zum Nachdenken an, zur Beschäftigung mit den Gedanken, woher wir kommen, wohin wir gehen und was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist – und die viel schneller vorbei sein wird, als wir es uns in jungen Jahren vorstellen können. »In der Ferne« von Hernan Diaz ist daher ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und ist dabei etwas sehr Besonderes, denn noch nie habe ich einen Text gelesen, in dem die geschilderte Einsamkeit so überwältigend präsent war, wie in diesem. „Majestätische Hoffnungslosigkeit“ weiterlesen

Die Reise ins Nirgendwo

Alma Katsu: The Hunger - Die letzte Reise

Der lange Weg nach Westen gehört zu den Gründungsmythen der USA. Die Bilder dazu in unseren Köpfen verdanken wir Hollywoods Traumfabriken: Planwagenkolonnen, die durch eine endlose Prärie ziehen, hoffnungsvolle Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Die harte Wirklichkeit sah anders aus, denn abgesehen davon, dass die Besiedlung des Westens einherging mit der gewaltsamen Vertreibung der indigenen Bevölkerung, waren es keine heldenhaften Pioniere, die Wagen an Wagen in Richtung Abendröte zogen. Sondern Familien, die nichts zu verlieren hatten, die aufgebrochen waren, um der Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen; Gücksritter waren dabei, die alles auf eine Karte setzten, Entwurzelte, aber auch Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren und eine zweite Chance suchten. Und längst nicht alle überstanden die monatelange Reise durch eine raue Natur, die lebensbedrohlich werden konnte. Die Opfer forderte und manchmal für furchtbare Tragödien verantwortlich war. Von einer dieser Tragödien erzählt die Autorin Alma Katsu in ihrem Roman »The Hunger« – mit dem vielsagenden Untertitel »Die letzte Reise«. „Die Reise ins Nirgendwo“ weiterlesen

Überleben, irgendwie

Jeanine Cummins: American Dirt

An einem frühen Sonntagnachmittag habe ich den Roman »American Dirt« von Jeanine Cummins zu Ende gelesen. Danach konnte ich mit dem Rest des Tages nichts mehr anfangen, musste mich bewegen und sehr lange durch die Straßen meines Stadtteils laufen. Die Gedanken kreisten pausenlos um das Gelesene. Dabei war ich lediglich auf der Suche nach etwas nervenkitzelnder Unterhaltung, als ich »American Dirt« in der Buchhandlung liegen sah. Gutes Cover, neugierig machender Klappentext – das Versprechen für ein, zwei spannende Lesetage. Und dann bin ich in eine Geschichte hineingestolpert, die mich gepackt, zutiefst berührt und nicht mehr losgelassen hat. Für mich war das Buch ein absoluter Zufallsfund; vielleicht hätte ich es anders gelesen, wenn mir bewusst gewesen wäre, welch erbitterte Debatte durch diesen Roman in den USA losgetreten wurde. Aber die Nachrichten darüber sind komplett an mir vorbeigegangen. Mehr dazu am Ende des Beitrags. „Überleben, irgendwie“ weiterlesen

Eine Ode an den Nebel

Steven Price: Die Frau in der Themse

Nebel. Ich liebe ihn. Nebeltage gehören zu meinen kostbarsten Erinnerungen. Als Kinder streiften wir durch den nebelverhangenen Wald, der fast direkt vor meinem Zuhause begann; kahle Äste, an denen die Tropfen hingen, reckten sich aus dem Dunst und dahinter verschwanden die dunklen Baumstämme in der Stille. Als Erwachsener lief ich durch Städte im Nebel; die gewohnte Umgebung war kaum wiederzuerkennen, Straßen endeten im Nichts, die Verkehrsgeräusche klangen gedämpft herüber. Immer war es das Gefühl, als wäre die Welt verschwunden, wäre geschrumpft auf die paar Meter, die man sie sehen konnte. Mystisch war das. Schön. Und immer auch ein bisschen schaurig. Solche Nebeltage sind wetterbedingt sehr selten, in den letzten Jahren habe ich sie kaum noch erlebt. Und das ist wohl mit ein Grund, warum mir der Roman »Die Frau in der Themse« von Steven Price so gut gefallen hat. Denn der Nebel spielt darin eine tragende Rolle und prägt die Atmosphäre. Und es ist auch nicht irgendein Nebel, sondern der von London. Dessen Ausläufer jetzt auch durch diese Buchvorstellung ziehen. „Eine Ode an den Nebel“ weiterlesen

Zurück auf Null

Robert Harris: Der zweite Schlaf

Es beginnt wie ein klassischer historischer Roman. Der junge, unerfahrene Priester Christopher Fairfax wird vom Bischof von Exeter in einen abgelegenen Ort im Südwesten Englands entsandt. Dort war der Pfarrer bei einem Unfall ums Leben gekommen; Fairfax soll die Beisetzung regeln und alles für einen Nachfolger vorbereiten. Robert Harris schickt uns mit »Der zweite Schlaf« in das Jahr 1468, mitten hinein in die Zeit des Spätmittelalters. Denkt man jedenfalls auf den ersten Seiten. „Zurück auf Null“ weiterlesen

Der Wächter und seine Dämonen

Gerhard Jaeger: All die Nacht ueber uns

Einen Zaun. Einen Wachturm. Einen Mann. Und seine Dämonen. Mehr benötigt Gerhard Jäger nicht, um uns in seinem Roman »All die Nacht über uns« auf eine Reise tief in die Seele eines Menschen zu schicken, dorthin, wo es dunkel ist. So dunkel, wie die Nacht, die diesen Mann umgibt, als er auf dem Wachturm steht, um einen Zaun zu bewachen. Eine einzige, endlose Nacht lang begleiten wir Leser ihn dabei.

Europa in einer nahen Zukunft: Die Flüchtlingskrise hat einen neuen Höhepunkt erreicht, als tausende von Menschen versuchen, dem tödlichen Chaos im zerfallenden Nahen Osten zu entkommen. Die Staaten Mitteleuropas riegeln ihre Grenzen ab, bauen Zäune. In einem nicht näher genannten Land sind die widerwärtigen Phantasien rechtsnationaler Politiker Wirklichkeit geworden: Es wird geschossen, wenn Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun zu überwinden; egal, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelt. Dies ist die Aufgabe des einsamen Soldaten auf dem Wachturm. Auf den Zaun zu achten, in die Nacht hinaus zu starren und im Zweifelsfall das Feuer zu eröffnen. „Der Wächter und seine Dämonen“ weiterlesen

Ein Fremder unter Fremden

Daniel Galera: Flut

Der Mann, von dem der brasilianische Autor Daniel Galera in seinem Roman »Flut« erzählt, hat ein Problem. Ein großes. Er kann sich keine Gesichter merken. Es ist ein pathologisches Vergessen, denn er erkennt nie jemanden wieder, egal um wen es sich handelt. Weder seine Eltern, seine Freunde oder die Frau, die morgens neben ihm aufwacht. Nicht einmal sein eigenes Gesicht – wenn er in den Spiegel schaut, erblickt er jeden Tag einen für ihn vollkommen fremden Menschen. Daniel Galera hat damit einen Protagonisten geschaffen, der vollkommen einsam ist. Der Mann versucht, andere Menschen an bestimmten Details wiederzuerkennen, an ihrem Gang oder ihrer Körperhaltung. Doch letztendlich ist er auf sich selbst zurückgeworfen, seine Existenz ist permanent die eines Fremden unter Fremden. „Ein Fremder unter Fremden“ weiterlesen

Ein Suchender, verloren gegangen

Tina Ger: Das Angeln von Piranhas

Ab und zu habe ich Buchpost im Briefkasten. Doch über diese habe ich mich ganz besonders gefreut: »Das Angeln von Piranhas« von Tina Ger hatte ich im Februar 2018 Jahren als Manuskript in der Rohfassung gelesen und es für den Blogbuster-Preis eingereicht. Damals gewann ein anderer Titel und erhielt dadurch einen Verlagsvertrag. Umso schöner finde ich es, dass nun auch mein Favorit als gedrucktes Buch erschienen ist. „Ein Suchender, verloren gegangen“ weiterlesen