Die Macht der Erinnerung

Nadja Spiegelman: Was nie geschehen ist

Das Buch »Was nie geschehen ist« von Nadja Spiegelman habe ich mir wegen des Covers gekauft, ohne vorher auch nur einen Blick auf den Text zu werfen. Das Photo auf dem Schutzumschlag zeigt eine junge Frau, die gerade mit Zigarette zwischen den Fingern aus einer Kaffeetasse trinkt. In Zeiten, in denen sich alles um gesunde Ernährung und Selbstoptimierung dreht, fand ich das Bild auf eine anarchische Art sympathisch. Zwar rauche ich schon eine ganze Weile nicht mehr, aber die Kombination von Koffein und Nikotin ist ein Genuss, den ich mir drei, vier Mal im Jahr gönne. Belohnt wurde ich bei dieser spontanen Kaufentscheidung mit einem faszinierenden Einblick in die Familiengeschichte der Autorin, genauer gesagt in die Lebensgeschichten ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer eigenen. Lebensgeschichten, die weit in das 20. Jahrhundert zurückreichen. Die um Ungesagtes kreisen, um widersprüchliche Erzählungen und Erinnerungen. Und um die Frage, wie wir uns an bestimmte Geschehnisse erinnern. Erinnnern wollen. Erinnern können. „Die Macht der Erinnerung“ weiterlesen

Auf Rattenjagd

Der Spruch von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, hat sich selten in einer solchen Dimension bewahrheitet wie nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur im Jahr 1945. Unzählige Täter tauchten unter, vielen gelang es, das von ihnen zerstörte Europa zu verlassen und besonders in südamerikanischen oder arabischen Ländern Zuflucht zu finden. Hier siegte Politik über Gerechtigkeit: Anstatt so viele Nazis wie möglich an den verdienten Galgen zu bringen, duldeten die alliierten Geheimdienste den Mörder-Exodus, wenn sie ihn nicht gar unterstützten. Denn mit dem Triumph Sowjetrusslands und dessen Griff nach großen Teilen Osteuropas war eine neue Bedrohung der westlichen Welt am Horizont erschienen. Der Beginn des kalten Krieges zeichnete sich ab und flüchtende SS-Leute waren plötzlich potenzielle Verbündete im Kampf gegen den Bolschewismus. Natürlich nicht offiziell, aber es etablierten sich feste Fluchtrouten, etwa über die Alpen zu den italienischen Häfen. Mit tatkräftiger Unterstützung der katholischen Kirche und des italienischen Roten Kreuzes. Dies waren die sogenannen »Rattenlinien«.

Der gesamte Aspekt der Täterflucht aus Europa ist bisher nur wenig erforscht, bis heute liegen etliche Zusammenhänge im Dunkeln. Umso spannender ist daher, sich mit zwei Romanen dieser Zeit und diesem Thema zu nähern. Es sind dies »Rattenlinien« des Autors Martin von Arndt sowie »Der vierte Mann« von Stuart Neville. „Auf Rattenjagd“ weiterlesen

Erdöl-Sozialismus

Harald Martenstein und Tom Peuckert: Schwarzes Gold aus Warnemuende

Jeder, der die Ereignisse des 9. November 1989 erlebt hat, erinnert sich an die Rede des SED-Funktionärs Günter Schabowski, in der er für alle Anwesenden vollkommen überraschend die Öffnung der DDR-Grenzen ankündigte. »Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich« – dieses Satzfragment brachte ein bereits angeschlagenes Staatsystem vollständig zum Einsturz. Doch was wäre gewesen, wenn Schabowski nicht die Reisefreiheit verkündet hätte, sondern etwas ganz anderes, etwas weitaus Spektakuläreres? Etwa, dass vor der Ostseeküste immense Erdölvorkommen entdeckt worden wären, so groß, dass sie selbst die Vorräte der arabischen Halbinsel überträfen? Und dass die DDR beabsichtige, jetzt in den illustren Kreis der erdölproduzierenden Länder einzutreten und umgehend mit der Föderdung begonnen werden soll. »Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich«. Plötzlich ist die DDR das reichste Land der Welt und alles, wirklich alles wäre ganz anders verlaufen. Um dieses Szenario geht es in dem Roman »Schwarzes Gold aus Warnemünde« des Autorenduos Harald Martenstein und Tom Peuckert. „Erdöl-Sozialismus“ weiterlesen

Verwirrspiel in Rio de Janeiro

Ronaldo Wrobel: Hannahs Briefe

Wieder einmal war der Zufall im Spiel. Im März 2013 schlenderte ich über die Leipziger Buchmesse und kam am Brasilien-Stand vorbei. Im Vorfeld des Ehrengastauftritts zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse präsentierte sich Brasilien vorab in Leipzig und gab einen Einblick in die Literaturszene. Genau in diesem Moment fand eine Autorenlesung auf brasilianisch statt, die absatzweise übersetzt wurde. Brasilianisches Portugiesisch ist für mich, obwohl ich es nur sehr bruchstückhaft verstehe, eine der melodischsten Sprachen der Welt. Also blieb ich stehen und hörte zu. Der Autor hieß Ronaldo Wrobel, war etwa in meinem Alter und stammte aus Rio de Janeiro. Genau dort spielt auch sein Roman »Hannahs Briefe«, auf den ich durch diese Lesung aufmerksam wurde. „Verwirrspiel in Rio de Janeiro“ weiterlesen

Blutgeld für schöne Bücher

James Agee und Walker Evans: Preisen will ich die großen Männer

Letzte Woche habe ich mir nach vielen Jahren wieder einen Band der Anderen Bibliothek gekauft. Es ist das Buch »Preisen will ich die großen Männer« von James Agee mit den Photographien von Walker Evans. 1941 das erste Mal erschienen, war es das Ergebnis eines Rechercheprojekts des Autors und des Photographen, mit dem sie über die Lebensbedingungen der Farmerfamilien im Süden den USA berichteten. Es war eine Reise in die bitterste Armut – hohlwangige Männer, verhärmte Frauen, ernste Kinder und halbzerfallene Häuser. Die Weltwirtschaftskrise und die große Depression hatten in den USA ihre Spuren hinterlassen. Die Texte und Photos, die so zusammengetragen wurden, machen auch heute noch einen tiefen und bewegenden Eindruck. „Blutgeld für schöne Bücher“ weiterlesen