Eine Ode an den Nebel

Steven Price: Die Frau in der Themse

Nebel. Ich liebe ihn. Nebeltage gehören zu meinen kostbarsten Erinnerungen. Als Kinder streiften wir durch den nebelverhangenen Wald, der fast direkt vor meinem Zuhause begann; kahle Äste, an denen die Tropfen hingen, reckten sich aus dem Dunst und dahinter verschwanden die dunklen Baumstämme in der Stille. Als Erwachsener lief ich durch Städte im Nebel; die gewohnte Umgebung war kaum wiederzuerkennen, Straßen endeten im Nichts, die Verkehrsgeräusche klangen gedämpft herüber. Immer war es das Gefühl, als wäre die Welt verschwunden, wäre geschrumpft auf die paar Meter, die man sie sehen konnte. Mystisch war das. Schön. Und immer auch ein bisschen schaurig. Solche Nebeltage sind wetterbedingt sehr selten, in den letzten Jahren habe ich sie kaum noch erlebt. Und das ist wohl mit ein Grund, warum mir der Roman »Die Frau in der Themse« von Steven Price so gut gefallen hat. Denn der Nebel spielt darin eine tragende Rolle und prägt die Atmosphäre. Und es ist auch nicht irgendein Nebel, sondern der von London. Dessen Ausläufer jetzt auch durch diese Buchvorstellung ziehen.

»Er hatte ihn ganz vergessen, diesen Londoner Nebel, der ohne Vorwarnung aufzog, undurchsichtig wie die Nacht, braun und erstickend.«

London im Dezember 1885: Mitten im feuchten, grauen Winter wird die Stadt zur Kulisse der Suche nach einem Phantom, die drei vollkommen unterschiedliche Menschen auf schicksalhafte Weise zusammenführt.

William Pinkerton ist der Sohn und Erbe des berühmt-berüchtigten Allen Pinkerton, dem Gründer der ersten großen Detektei der Vereinigten Staaten, die bei der Verfolgung gesuchter Verbrecher nicht sonderlich zimperlich war – dafür aber sehr erfolgreich. William ist einer der tatkräftigsten Ermittler der Firma seines Vaters, »ein Mann, der seinem Bauchgefühl mehr traute als seinem Verstand, bis er jedoch zu dieser Einstellung gelangt war, hatte er einige Liter seines eigenen Blutes vergießen müssen.« Nach Allen Pinkertons Tod hatte er die Leitung der Detektei übernommen und ist nun auf der Jagd nach Edward Shade, einem Mann, von dem er nichts kennt als dessen Namen. Einem Mann, der von seinem Vater jahrzehntelang vergeblich gesucht wurde; mit einer Verbissenheit, die sich William nie erklären konnte. Jetzt will er das große Geheimnis seines Vaters lüften und den Fall abschießen. Die Spur führt ihn nach London.

»Gelber Dunst fasste nach seinen Knöcheln, wallte vorbei.«

Seine Ermittlungen führen ihn zu Charlotte Reckitt, einer Trickbetrügerin, die schon viele Jahre im Geschäft ist. Was weiß sie über Edward Shade? Gleich zu Beginn des Buches läuft eine Beschattung aus dem Ruder, Charlotte flieht vor William und springt von einer Brücke in die Themse. Wenige Tage später wird ihre verstümmelte, kaum identifizierbare Leiche gefunden. Falls sie es wirklich ist.

»Die Frith Street wirkte trotz allen Lichtscheins trostlos, die bleichen Gestalten, die vorbeihuschten, die eintönigen, freudlosen Rufe der Straßenhändler im Nebel.«

Nun kommt Adam Foole ins Spiel, ein Dieb, Betrüger und Schwindler mit guten Manieren und stilsicherer Kleidung. »Er war kein Lügner. Er war nur nicht der, der er zu sein schien«. Foole kehrt mit seinen beiden Vertrauten, Japheth Fludd, dem Mann fürs Grobe, und Molly, einem zehnjährigen Mädchen mit ausgeprägtem Geschick für Taschendiebstahl, aus den USA zurück, nachdem ihm Charlotte Reckitt aus London geschrieben und um Hilfe gebeten hat. Die beiden waren vor langer Zeit ein Paar; die Geschichte endete nicht glücklich, doch für Foole ist sie die Liebe seines Lebens geblieben.

»Eine dunkle Nacht begann aus dem Fluss aufzulodern und durch die Stadt zu kriechen, und der Kohlenebel lichtete sich zu einem wässrigen Grau, waberte schleierhaft, gespenstisch und still.«

Zwei Männer auf der Suche, eine vielleicht tote Frau und ein Phantom: Damit beginnt ein Katz- und Maus-Spiel in den düsteren Straßen des viktorianischen London. Es ist eine Stadt im Rausch der Industrialisierung, voller Armut, Verzweiflung und Elend, mit trostlosen Schicksalen, die aus der Feder eines Charles Dickens stammen könnten. Gleichzeitig meint man, die feuchte Kälte durch die eigene Kleidung kriechen zu spüren, alles trieft vor Nässe, ist schmutzig, vermodert und übelriechend.

»Es stank nach dem Schlamm des Flusses, die Gebäude lehnten sich waghalsig in den Nebel.«

Das London in »Die Frau in der Themse« hat nichts Glänzendes an sich, die Wege führen stets durch die Schattenseiten der Metropole, von denen es viele gibt. »Sie gingen durch Höfe, in denen es tropfte, unter Torbögen hindurch und halbverfallene Treppen hinunter, immer in Sichtweite der fauligen Themse.« Bis tief hinunter in die Kanalisation geht es, dort, wo die Verzweifelsten der Verzweifelten leben.

»Der Nebel war braun, unergründlich, als würde er von einem dunklen Raum in den nächsten gehen.«

Dazu gibt es zahlreiche Rückblicke in die Leben der drei unterschiedlichen Menschen. Geschichten voller Höhen und Tiefen, Schicksalsschlägen und Glücksmomenten. Geschichten, die uns Leser um die halbe Welt führen, die sich aber wie ein immer enger werdender Kreis zunehmend um die Frage drehen, wer dieser Edward Shade eigentlich war. Die Antwort auf diese Frage führt mitten hinein in die Verheerungen des Amerikanischen Bürgerkriegs, in eine Erzählung von Spionage, Verrat und Mord. Deren Folgen die Suchenden nun durch London eilen lassen.

»Der Tag war ein dünner Nebel, ein feiner Grauschleier, wie von Kohlestaub getönt, und er stellte den Mantelkragen auf.«

William ist zunehmend besessener von seiner Suche, er verbündet sich widerstrebend mit Foole, der wiederum hofft, etwas über den Verbleib von Charlotte zu erfahren. Und der dabei sein eigenes Spiel spielt. Zug um Zug geht es voran, ein mühsames – das Wortspiel sei mir verziehen – Stochern im Nebel der Vergangenheit. Ein Nebel, der hin und wieder etwas preiszugeben scheint, nur um an anderer Stelle wieder umso undurchdringlicher durch die Straßen zu wabern.

»Das schwache Tageslicht drang wie Rauchschwaden unter die Steinbögen, und auf einmal kam es William vor, als befände er sich in einer anderen Stadt, einer anderen Zeit.«

»Die Frau in der Themse« ist ein wunderbares Leseerlebnis. Steven Price entwickelt die Geschichte mit einer so entspannten Langsamkeit, dass ich es schade fand, nach 913 Seiten schon damit aufhören zu müssen. Wenig Action gibt es, aber dafür viel Atmosphäre; durch die detailreichen Rückblenden wickelt sich die Geschichte gemächlich ab, führt aber zielstrebig zu einem finalen Zusammentreffen. Falls es das Phantom Edward Shade tatsächlich geben sollte.

Das Ende – so viel sei verraten – ist eigentlich etwas unspektakulär. Aber das stört nicht, es wirkt, als würde sich der Nebel sanft lichten und den Blick freigeben auf die Vergangenheit. Und auf die Zukunft.

»Als er wieder auf die Straße trat, war er jäh überwältigt von der schieren trostlosen Schönheit der Stadt.«

Buchinformation
Steven Price, Die Frau in der Themse
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll und Lisa Kögeböhn
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07087-3

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6 Antworten auf „Eine Ode an den Nebel“

  1. Das klingt wirklich interessant, danke dafür. Kennst du schon das Buch aus dem Insel Verlag „Oden“, von David van Reybrouck. Der Titel deines letzten Postings erinnerte mich daran.
    Herzliche Grüße
    Kerstin

  2. Es hat zwar das Maß an literarisch hochwertiger Verzweiflung, das ich bei dir erwarte, aber ich glaube das ist auch was für mich. Die richtige Zeit, ein guter Ort und ein paar intelligent verstreute Leichen im Nebel:-)

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