Es kommt alles anders

Stephen Fry: Geschichte machen

Im August 2013 sorgte der Kurzfilm eines Filmakademie-Absolventen für Kontroversen. Zwei Dinge irritieren gleich in den ersten Sekunden des Films: Der nagelneue Mercedes passt nicht in die sepiafarben gehaltene Landschaft mit einem Dorf und Menschen aus dem 19. Jahrhundert. Und es ist kein Fahrer in dem schnell fahrenden Auto zu erkennen. Dafür reagiert der fahrerlose Wagen zuverlässig und intelligent: Zwei Mädchen spielen auf der Straße, das Fahrzeug bremst. Kurz darauf springt ein Junge auf die Fahrbahn. Der Mercedes beschleunigt und überfährt das Kind. Die Mutter schreit mit schreckgeweiteten Augen »Adolf!«, das Auto fährt weiter, passiert das Ortsschild »Braunau am Inn«, in der mercedeseigenen Schrift wird eingeblendet »Erkennt Gefahren, bevor sie entstehen«. Natürlich ist das keine offizielle Mercedeswerbung, auch wenn der Film exakt in diesem Stil gehalten ist, der Filmmacher wurde sogar verpflichtet, explizit darauf hinzuweisen. Es ist Satire, aber um es lustig zu finden, dass ein Kind überfahren wird, braucht man schon einen zynischen Sinn für tiefschwarzen Humor. Auch wenn damit Schlimmeres in der Zukunft verhindert worden wäre. Vielleicht.

Dabei gab es die Grundidee schon lange vorher. Nur hat Stephen Fry sie in seinem 1996 erschienenen Roman »Geschichte machen« deutlich eleganter umgesetzt. Die Vorstellung, die grauenvollsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts dadurch zu verhindern, dass man ihren Verursacher bereits im Vorfeld beseitigt und dadurch der Geschichte einen anderen Lauf gibt, hat etwas Faszinierendes. Das denkt sich auch der Ich-Erzähler Michael Young, ein Historiker aus Cambridge, der gerade seine Dissertation über Hitlers Kindheit verfasst hat, etwas chaotisch durch das Leben geht und per Zufall den Physiker Leo Zuckermann kennenlernt. Dieser glaubt, einen Weg gefunden zu haben, um Zeitreisen möglich zu machen. Und Michaels Freundin ist Chemikerin, die an einer Pille arbeitet, die Männer zeugungsunfähig machen soll. So kommt eines zum anderen, Michael und Leo beschließen, die Geschichte zu ändern, der eine aus Idealismus, um eine bessere Welt zu schaffen, der andere, weil ihn seit Jahrzehnten ein dunkles Geheimnis plagt. Sie machen sich auf in das Braunau am Inn im Jahr 1888 und schaffen es tatsächlich, Alois Hitler heimlich diese Pille zu verabreichen. Daraufhin wird der kleine Adolf nie geboren und die Welt von heute ist eine andere. Allerdings nicht so, wie Michael sich das vorgestellt hat. Ganz und gar nicht.

Der Roman beginnt mit zwei Erzählsträngen: Michael und Leo lernen sich kennen und tasten sich an ihr Vorhaben heran. Parallel dazu wird die Geschichte des Ehepaars Hitler erzählt, die Geburt des Sohnes Adolf, der prügelnde Vater, später Adi – wie er von seinen Kameraden genannt wird – als Soldat im Ersten Weltkrieg. Hier verursacht er den Tod des Unteroffiziers Rudolf Gloder. Dann kommt der Schnitt, die Zeitreise, beide Erzählstränge werden gekappt. Als Michael aus einem tiefen Schlaf erwacht, ist er wieder in der Gegenwart, aber nicht mehr in Cambridge, sondern an der Universiät von Princeton in den USA und von ihm völlig fremden Menschen umgeben. Nach und nach erfährt er – und mit ihm erfahren wir – , was in den letzten Jahrzehnten der jüngeren Geschichte passiert ist, wie das 20. Jahrhundert ohne die Geburt Hitlers verlaufen ist. Und wenn man denkt, es hätte ab 1933 in Deutschland und dann in Europa gar nicht schlimmer kommen können, dann täuscht man sich.

Parallel zu dieser Handlung gibt es wieder eine zweite Geschichte: Die des Rudolf Gloder, der im Ersten Weltkrieg nicht zu Tode kam, weil 1889 der kleine Adolf nicht geboren wurde. So konnte er nach dem Krieg in die NSDAP eintreten und eine politische Laufbahn eingeschlagen. Sehr skrupellos. Sehr fanatisch. Und sehr, sehr erfolgreich. Als Michael das ganze Ausmaß dessen erkennt, was er in der Absicht Gutes tun zu wollen angerichtet hat, muss er seine Lethargie abschütteln und handeln. Ein zweites Mal handeln.

Stephen Fry ist ein großartiger Roman gelungen, der eindrucksvoll mit unseren Wünschen spielt, Vergangenes ungeschehen zu machen. Und der zeigt, dass sich nicht unbedingt alles zum Besseren wenden lassen würde, wenn es möglich wäre. Letztendlich können wir die Geschichte in all ihren Facetten erforschen, aber wir werden nie herausfinden, was Zufall war und was Schicksal, was ganz banales Pech war und oder einfach nur Glück. So, dass uns nur eines übrig bleibt: Aus der Vergangenheit zu lernen, damit die Zukunft besser wird. Und dafür brauchen wir keine Zeitreise. Nur unseren Verstand.

Buchinformation
Stephen Fry, Geschichte machen
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach

Aufbau Taschenbuch
ISBN 978-3-7466-2333-7

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