Dokument der Hilflosigkeit

Frank Schirrmacher: Technologischer Totalitarismus - Eine Debatte

Flüchtlingskrise, ein Europa, das auseinanderzubrechen droht, ein neuer Kalter Krieg am Horizont – die Nachrichtenlage ist zur Zeit so bedrückend wie schon lange nicht mehr. Dabei gerät ein Thema völlig aus dem Fokus; ein Thema, das aber eine ebenso gewaltige Sprengkraft entfalten wird wie die genannten. Nur viel stiller und leiser. Denn wenn auch zur Zeit kaum darüber geredet oder berichtet wird, hat sich an der Brisanz der Datenüberwachung, des Datenmissbrauchs und der Datenspionage nichts geändert; sichere Regelungen sind weiter entfernt sind denn je. Es lohnt sich umso mehr ein Blick in das Buch »Technologischer Totalitarismus«, herausgegeben von Frank Schirrmacher. In dem 2014 gestarteten Leseprojekt Schöne neue, paranoide Welt hier auf Kaffeehaussitzer nimmt dieser Sammelband eine Schlüsselrolle ein, denn er vermittelt einen guten Eindruck über die Ratlosigkeit, mit der wir dem digitalen Umbau unserer Welt oftmals gegenüberstehen.

Es war das letzte editorische Großprojekt des 2014 überraschend und viel zu früh verstorbenen FAZ-Mitherausgebers, einem der wichtigsten Intellektuellen unseres Landes. Der keiner Diskussion aus dem Wege ging und mit seiner kritischen Meinung insbesondere den digitalen Fortschritt begleitete. Beziehungsweise das, was gemeinhin als Fortschritt bezeichnet wird, nicht immer aber diesen Namen verdient. Denn unsere schöne, neue, digitale Welt hat zwei Gesichter: Zum einen die schnelle und umfassende Verfügbarkeit von Informationen, die grenzenlose Freiheit zur Vernetzung. Die aber, wie zahlreiche Beispiele zeigen, jederzeit von den Herrschenden massiv eingeschränkt werden kann. Zum anderen das blindwütige, aber gleichzeitig bewusste und organisierte Sammeln unserer Daten durch global agierene Konzerne, Geheimdienste und Regierungen. Um diesen Zwiespalt ging es in einer von Frank Schirrmacher initiierten Diskussionsserie in der FAZ; Woche für Woche erschien ein neuer Beitrag. In dem Suhrkamp-Band »Technologischer Totalitarismus – Eine Debatte« sind sie alle gemeinsam versammelt. Eine illustre Runde prominenter Namen ist dabei zusammengekommen, Literaten, Publizisten, Netzaktivisten, Politiker, Internetpioniere, Skeptiker; die Bandbreite ist beeindruckend und sorgt für ein breites Meinungsspektrum.

Es reicht von der weltfremden, amüsant zu lesenden Forderung Hans Magnus Enzensbergers »Schmeißen Sie Ihr Smartphone weg« bis zur zitierten Aussage »Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun« von Eric Schmidt, Vorsitzender des Google-Verwaltungsrats, der gar nicht zu bemerken scheint, dass er klingt wie der Vertreter eines diktatorischen Regimes, das seinen Bürgern vorschreibt, was sie zu denken und zu glauben haben. Oder wie es Juli Zeh in ihrem Beitrag ausdrückt: »›Ich habe nichts zu verbergen‹ ist somit ein Synonym für ›Ich tue, was man von mir verlangt‹ und damit eine Bankrotterklärung für die Idee des selbstbestimmten Individuums.«

Das ist eines von vielen Zitaten, die ich bei der Lektüre markiert habe, so viele wie selten in einem Buch. Und das ist kaum verwunderlich bei der Vielzahl unterschiedlicher Sichtweisen. Michael Ignatieff kommt zu Wort, Shoshana Zuboff, Sascha Lobo, Martin Schulz, Frank Schirrmacher selbst hat einen Beitrag verfasst, Ranga Yogeshwar, Sigmar Gabriel, Mathias Döpfner, Guy Verhofstadt, Gabor Steingart, Christian Lindner, Jaron Lanier und noch viele andere mehr.

Es ist die Rede von einem »militärisch-informationellen Komplex«, von einer technologischen Revolution, die zu einem »kollektiven faustischen Albtraum« geworden ist oder von einer »globalen Übernahme«. Die technologischen Großkonzerne werden mit autoritären Regime verglichen, mit einem »neofeudalen Machtmonopol«, dessen Sammeln und Manipulieren von Daten durch die Gesetzgeber nicht mehr beeinflusst werden kann. Bemerkenswert ist der Beitrag des Axel-Springer-Vorstandsvorsitzenen Mathias Döpfner, der einem Kotau vor Google gleicht und bei seiner Veröffentlichung in der FAZ enorme Beachtung fand. Dazwischen kommt der bereits erwähnte Eric Schmidt von Google zu Wort, der selbstredend nicht auf die Datenmanipulations- oder Ausspäh-Vorwürfe eingeht, sondern vor allem über die immensen wirtschaftlichen Möglichkeiten einer – dank Google – globalen Vernetzung eingeht. Ein wenig wirkt er wie ein herablassend lächelnder Renaissance-Fürst inmitten seiner Kritiker und Gegner, die ihm nichts anhaben können.

Es bleibt allerdings nicht ausschließlich bei diesem kulturpessimistischen Grundton. Auch die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Welt werden genannt. Open Source ist ein Thema oder der Nutzen neuester Technologie für demokratischere Prozesse. Sich dem digitalen Wandel zu widersetzen ist nicht möglich, es geht darum, ihn mitzugestalten. Hier sind sich fast alle Autoren des Buches einig, so unterschiedliche Sichtweisen sie auch haben mögen: Für eine Mitgestaltung ist die Politik, sind entsprechende Regelungen, Gesetze und Sanktionen bei deren Nichteinhaltung gefragt. Und genau das ist unser großes Problem. Denn tagtäglich hat man das Gefühl, dass die meisten der gewählten Volksvertreter das digitale Neuland gar nicht verstehen, dass sie überrollt werden von dem technologischen Tsunami, der dabei ist, unser ganzes Leben umzugestalten. Dass sie hilflos mitansehen, wie ihnen globale Großkonzerne die Initiative einfach aus der Hand nehmen und an ihnen vorbeirauschen, einer Zukunft des gläsernen Nutzers entgegen.

Gleichzeitig sind Regierungen mit ihren außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten ein Teil des Wandels. Ein sehr beunruhigender Teil, wie wir seit Edward Snowden wissen. Hier ist ebenfalls ein Spagat nötig, denn einerseits muss der flächendeckenden Überwachung Einhalt geboten werden, um Sicherheit und Privatsphäre der Menschen zu schützen. Gleichzeitig darf ein rechtsfreier Raum im Netz, den Extremisten aller Couleur für ihre Zwecke nutzen, nicht geduldet werden. Dafür gibt es keine Patentlösung und es wird ein weiter Weg vor uns liegen. Martin Schulz zieht im ersten Beitrag des Buches einen Vergleich zwischen der industriellen und der digitalen Revolution und leitet daraus eine Handlungsaufforderung für die Politik ab. Denn »von allein wird nichts gut werden«. Die industrielle Revolution hat vor 200 Jahren die Gesellschaft ähnlich dramatisch verändert, wie deren digitales Pendant heute. Es hat über ein Jahrhundert gedauert, bis die schlimmsten Mißstände dieser Veränderung beseitigt zum Teil eingedämmt waren. Und das auch nur in Europa.

Die Frage ist nur, ob wir heute auch so viel Zeit haben.

Dies ist ein Titel des aus einer Twitter-Idee entstandenen Leseprojekts Schöne neue, paranoide Welt.

Buchinformation
Frank Schirrmacher (Hrsg.), Technologischer Totalitarismus – Eine Debatte
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-07434-3

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5 Antworten auf „Dokument der Hilflosigkeit“

  1. Vielen Dank für die Vorstellung – die Digitalisierung und der Umgang damit wird ein Dauerlutscher für unsere Gesellschaft werden. Selbst wenn man die ‚dunklen‘ Themen wie das Datensammeln und die Ausspähung der Menschen außen vor lässt, bleibt immernoch das Ende der Arbeitsgesellschaft so wir wie sie kennen, hervorgerufen durch hocheffiziente Computerprogramme. Gibt es Politiker, die sich dieses Problems öffentlich angenommen haben?

  2. Danke für diese interessante Buchvorstellung, wandert direkt auf meine Wunschliste. Bestimmt auch für alle interessant, die sich nach der Lektüre von „Der Circle“ noch tiefergehender mit den Argumenten beschäftigen möchten.

  3. Interessanter Artikel, auch wenn ich ein Internet-Fan bin, eher die positiven Seiten der Digitalisierung sieht, aber die Gefahren dennoch nicht aus dem Auge verlieren möchte. Ein wichtiger Diskurs.

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