Peace for our time

Robert Harris: München

Es ist eines der bekanntesten Photos des 20. Jahrhunderts: Der britische Premierminister Neville Chamberlain steht vor zahlreichen Mikrofonen und hält ein Stück Papier in die Höhe. »Peace for our time« ruft er dabei den zuhörenden Menschen zu. Es ist der 30. September 1938, Chamberlain kommt gerade von der Unterzeichnung des Münchner Abkommens zwischen ihm, dem französischen Präsidenten Daladier, Hitler und Mussolini. Der damit vermeintlich gesicherte Friede war mit der Zerstückelung der Tschechoslowakei erkauft, deren Regierung erst gar nicht um ein Einverständnis gebeten wurde. Das Bild, mit dem Chamberlain in die Geschichtsbücher einging, ist das eines etwas distinguierten, älteren Herrn, der sich mit seiner Appeasement-Politik von dem deutschen Diktator über den Tisch ziehen ließ. Aber war er das wirklich? Der Autor Robert Harris rückt in seinem Roman »München« dieses Bild zurecht und bringt uns jene dramatischen Tage auf seine unnachahmlich mitreißende Art und Weise so nahe, wie es literarisch nur möglich ist.

Die historischen Ereignisse sind bekannt: Im Herbst 1938 schien Hitler unangreifbar. In den Jahren zuvor war das Saarland per Volksabstimmung zum deutschen Reich zurückgekehrt, er hatte das entmilitarisierte Rheinland besetzt ohne auf Widerstand zu stoßen und Österreich annektiert. Keine Regierung, kein anderer Staat stellte sich ihm entgegen. Im Herbst 1938 wollte er notfalls mit Waffengewalt die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an sich reißen und – so der Plan – möglichst viel vom weiteren Staatsgebiet des Nachbarlands besetzen. Ein neuer Krieg stand in Europa unmittelbar bevor, die letzte Woche im September wurde zum Höhepunkt dieser Krise.

Mitten hinein in diese entscheidenen Tage führt uns Robert Harris. Er bohrt die historischen Geschehnisse durch zwei Romanhelden auf: In London ist es Hugh Legat, ein mittelmäßig erfolgreicher Beamter des britischen Außenministeriums, der aufgrund seiner Deutschlandkenntnise als Privatsekretär für Neville Chamberlain abgestellt wird und dadurch den Leser direkt an den britischen Premiermininster heranführt. Und in Berlin lernen wir Paul von Hartmann kennen, der im Auswärtigen Amt tätig ist. Der aber auch zu einer kleinen Widerstandsgruppe gehört, die sich ihrer Ohnmacht gegenüber dem von der Mehrzahl der Deutschen bewunderten »Führer« nur allzu bewusst ist. Ein Krieg könnte die Stimmung im Volk kippen lassen, so die Hoffnung der Verschwörer. Noch allzu frisch sind die Narben und schrecklichen Erinnerungen, die der erste Weltkrieg hinterlassen hat.

Paul von Hartmann schafft es, sich in die Delegation einschleusen zu lassen, die zur Konferenz nach München fahren wird, ein Treffen, das buchstäblich in letzter Sekunde den Krieg verhindern soll. Von Hartmann hofft auf ein konspiratives Gespräch mit den Briten, um sie davon zu überzeugen standhaft zu bleiben. Denn er wird dort Hugh Legat treffen, beide kennen sich vom gemeinsamen Studium in Oxord, haben aber seit 1933 nichts mehr voneinander gehört.

Wie es ausgeht, steht fest. Großbritannien und Frankreich stimmen der Gebietsabtretung zu, die Wehrmacht marschiert in die Tschechoslowakei ein, okkupiert das Sudetenland und Hitler triumphiert. Aber ist es ein echter Triumph gewesen? Robert Harris hat sich seit Jahren mit der Münchner Konferenz beschäftigt und all seine Recherchen fießen in den Roman ein.

So wirken die Szenen unglaublich lebendig: Das verzweifelte Bemühen Chamberlains, einen Krieg zu vermeiden, da die britische Armee zu dieser Zeit der Wehrmacht noch hoffnungslos unterlegen gewesen wäre. Von der Stimmung im britischen Volk gar nicht erst zu reden – kaum jemand hätte Verständnis dafür gehabt, wieder in einen mörderischen Konflikt ziehen zu müssen. Die endlosen Sitzungen in 10 Downing Street, Zigarren- und Zigarettenqualm, übermüdete Minister und Beamte, eine fast panische Stimmung. Dann, endlich, als letzter Strohhalm die Zusage Hitlers, sich ein letztes Mal zu treffen. In München. Die Abfahrt Chamberlains am frühen Morgen zum Flughafen, als tausende von Menschen die Straßen säumen. Schweigend. Wartend. Während an den Kreuzungen schon die Sandsäcke aufgestapelt werden.

Ebenso intensiv sind die Geschehnisse auf der anderen Seite geschildert. Die stiefelknallende Geschäftigkeit in den Berliner Ämtern. Die heimlichen Treffen der wenigen Verschwörer, resignierend, hoffnungslos. Bis auch ihnen die Münchner Konferenz wie eine letzte Möglichkeit erscheint, sofern sie scheitert und einen Krieg auslöst. Einen Krieg, der Hitler hinwegfegen könnte. Der Moment, als Paul von Hartmann tatsächlich im Führerzug untergekommen ist und aus Berlin herausfährt, hinein in die Nacht, ins Ungewisse, ist eine der stärksten Szenen des Buches.

Wir erleben einen mürrischen Hitler, einen phlegmatischen Daladier, einen theatralischen Mussolini und einen Chamberlain, der versucht, angesichts eines Gewaltherrschers, dem jeglicher Anstand und jegliche Umgangsformen abgehen, seine britische Contenance zu wahren. Dazu hektische Gespräche hinter den Kulissen, Telegramme, heimliche Telefonate, ein SS-Offizier auf Verschwörerjagd, Panik, Angst, Triumph, Hass, Tragik: Der Autor schafft es – wie in all seinen Büchern – gekonnt historische Fakten und Fiktion zu verknüpfen und daraus eine spannungsgeladene Geschichte zu komponieren, die jeden Thriller in den Schatten stellt.

Und Neville Chamberlain ist auf einmal nicht mehr jener etwas distinguierte, ältere Herr, der sich von dem deutschen Diktator über den Tisch ziehen ließ. Sondern ein Politiker, der getan hat, was getan werden musste: Um jeden Preis den Frieden zu sichern und somit Großbritannien mehr Zeit zu verschaffen. Mehr Zeit zur Vorbereitung auf einen Krieg mit Nazi-Deutschland, der sicher kommen würde. Nur nicht jetzt, 1938. Denn ein Jahr später wäre das Kräfteverhältnis vielleicht ein anderes. Winston Churchill mag der Held sein, dessen Durchhaltewillen entscheidend zum Ausgang des Zweiten Weltkriegs beigetragen hat, garniert mit markigen Reden. Aber ohne Chamberlains mühsames Verhandeln und zähes Lavieren – und ohne das erzwungene Opfern der tschechoslowakischen Souveränität – wäre der Krieg wahrscheinlich schon viel früher ausgebrochen. Und hätte ohne ihn wohl einen völlig anderen Verlauf genommen.

Auch Hugh Legat und Paul von Hartmann werden sich in München treffen, einander fremd geworden, doch Reste einer alten Vertrautheit sind noch da. Hugh wird verstehen, warum sein Freund versucht, Widerstand zu leisten. Es ist ein Grund, der auch ihn betrifft, ein Grund der schmerzen wird. Doch ihr Abschied wird ein endgültiger sein, denn Hugh fliegt wieder mit der britischen Delegation zurück nach London. Im Gepäck ein paar Blätter Papier mit vier Unterschriften, die direkt nach der Landung ein etwas distinguiert wirkender, älterer Herr in die Höhe hält und dazu sagt: »Peace for our time.« Er weiß, dass er Schuld auf sich geladen hat. Aber er weiß auch, dass er Zeit gewinnen konnte.

Zumindest noch für fast ein Jahr.

Buchinformation
Robert Harris, München
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-27143-2

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5 Antworten auf „Peace for our time“

  1. Wie siehst du denn das Problem, dass mit einem fiktiven Widerstandskämpfer ein Identifikationsangebot konstruiert wird (oder werden soll), dass es in der Form nicht gegeben hat und in der historischen Wahrnehmung die faktische Realität verzerrt und im schlimmsten Fall ein Narrativ suggeriert wird, bei dem die ‚guten Deutschen‘ den ‚bösen Nazis‘ gegenübergestellt werden, wohingegen realer und letztlich bedeutungsloser deutscher Widerstand lediglich im Promillebereich stattgefunden hat und einer ganzen ‚Volksgemeinschaft‘ gegenüber stand, die hart und kontinuierlich an der Definition, Exklusion und Vernichtung von Bevölkerungsteilen gearbeitet hat?

    1. Ein interessanter Gesichtspunkt, vielen Dank für Deinen Kommentar. Die Verschwörer im Buch wirken so unorganisiert und hilflos angesichts der überwältigenden Zustimmung, die Hitler und die Ideologie der Nazis erfahren, dass dies exakt diesen von Dir genannten Promillebereich demonstriert. Ebenso wird deutlich, wie schwierig und gefährlich es war/ist, in einem totalitären Überwachungsstaat überhaupt die wenigen Gleichgesinnten zu finden. Doch auch in der historischen Realität gab es vereinzelt Menschen unterschiedlichster Herkunft, die bereit waren, Widerstand zu leisten, wie die Liste der ca. 40 Attentate auf Hitler zeigt: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Attentate_auf_Adolf_Hitler. Siehe dort auch unter Septemberverschwörung, die Vorlage für den Roman gewesen sein könnte.
      Letztendlich war dies – bei allem persönlichen Mut der wenigen Akteure – historisch und im Gesamtgefüge gesehen in der Tat bedeutungslos. Und genau diese Bedeutungslosigkeit vermittelt meiner Meinung nach das Buch ziemlich gut.

  2. Ich habe das Buch auch gerne gelesen. Imponiert hat mir die Sicht auf Chamberlain. Einerseits wurde sein Widerwillen klar mit Hitler zu verhandeln. Andererseits war es die einzige Möglichkeit den Krieg zu vermeiden oder zu verschieben.
    Und da hat mir das Buch eine Parallele zu heute aufgezeigt (Trump, Erdogan,….): Man darf den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Nur so sind Verhandlungserfolge möglich.
    Eindrucksvoll ist das Treffen von Chamberlain und von Hartmann erzählt. Und das Ergebnis des Treffens zeigt die wahre politische Größe von Chamberlain. Ich finde den Schluss deiner Rezension so gut: „Er weiß, dass er Schuld auf sich geladen hat. Aber er weiß auch, dass er Zeit gewinnen konnte. Zumindest noch für fast ein Jahr.“ Das trifft die Intention des Buches genau! Politik ist die Kunst des Machbaren.

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